Poulomi Saha: „Amerika befindet sich in einem regelrechten Kulturkrieg“
In vielen US-Staaten könnten Abtreibungen schon bald illegal werden. Die feministische Theoretikerin Poulomi Saha erläutert im Interview, was sich unter der Oberfläche des Streits um das historische Urteil Roe v. Wade befindet.
Frau Saha, Anfang Mai ist der Entwurf einer Mehrheitsmeinung des Obersten Gerichtshofs der USA an die Öffentlichkeit gelangt, der die mögliche Aufhebung des Grundsatzurteils Roe v. Wade enthüllte. Roe v. Wade aus dem Jahr 1973 war ein bahnbrechendes Urteil, das Abtreibungen auf nationaler Ebene umfassend legalisierte. Ist die potentielle Aufhebung eine Überraschung?
Nein, eine Überraschung ist der Entwurf nicht. Einiges an der Formulierung, der Vehemenz des Dokuments und der Tatsache, dass es an die Öffentlichkeit gelangen konnte, mag überraschend sein. Aber abgesehen davon ist es eine geradezu unvermeidliche Folge der Entwicklungen der letzten sieben, wenn nicht sogar 50 Jahre. Es gibt schon seit langem eine Bewegung zum Rückbau von Abtreibungsrechten, die sich in den letzten Jahren beschleunigt hat. Der letzte Schritt in diesem Vorstoß war die Benennung von drei erzkonservativen Richter:innen am Obersten Gerichtshof durch die Trump-Regierung. Doch dem ging bereits die Bestätigung vieler Richter:innen auf Bundesebene voraus. Ich glaube, was viele überrascht hat, ist die Tatsache, dass die Entscheidung so schnell und so absolut kommen könnte – wenn sie denn kommt.
Auf welcher Grundlage könnte der Oberste Gerichtshof das Gesetz kippen?
In dem durchgesickerten Schriftsatz heißt es, dass Roe von Anfang an „ungeheuerlich“ war. Gemeint ist die Tatsache, dass das Recht auf Abtreibung damit zu einer Sache des Staates gemacht und im Grundgesetz verankert wurde. Die Richter:innen des Supreme Court wollen, dass Abtreibung wieder eine Angelegenheit des bundesstaatlichen Rechts wird.
Was würde eine Aufhebung von Roe v. Wade praktisch bedeuten?
In erster Linie würde es bedeuten, dass eine Regelung, die bisher Sache des Staates war, an die Bundesstaaten übertragen wird. 26 Bundesstaaten arbeiten bereits darauf hin, den Zugang zu Abtreibung einzuschränken. Es gibt 13 Bundesstaaten, die bereits „Trigger Bans“ eingeführt haben, d. h. es stehen Gesetze zur Einschränkung von Abtreibungen bereit, die in Kraft treten, sobald die Entscheidung auf Bundesebene fällt. Aber es gibt auch Bundesstaaten wie Connecticut, Colorado und Kalifornien, die daran arbeiten, „Anti-Trigger Bans“ zu erlassen. Gesetze also, die Abtreibungen in diesen Staaten weiterhin weitgehend legalisieren – sowohl für die Menschen, die in diesen Staaten leben, als auch für diejenigen, die dorthin reisen. Die Folge wären drastische Unterschiede in den Abtreibungsrechten der Bundesstaaten.
Welche Folgen hätte das für die amerikanische Gesellschaft?
Es ist offensichtlich, dass dies die ideologischen Unterschiede innerhalb der USA noch schärfer hervorheben würde, als wir es in den letzten Jahren gesehen haben. Amerika befindet sich in einem regelrechten Kulturkrieg. Die Ansprüche auf Rechtschaffenheit auf beiden Seiten des politischen Spektrums werden weitgehend auf der Grundlage persönlicher und intimer Beziehungen ausgetragen. Die Republikanische Partei hat sich selbst als Vorreiterin in der „Pro-Life“-Bewegung positioniert und vertritt in Fragen der Abtreibung eine klare Haltung. Gleichzeitig hat ihre Ablehnung einer Erweiterung der allgemeinen Gesundheitsversorgung – etwa durch Obama-Care – dazu geführt, dass die Linke den Vorwurf erhebt, es ginge bei der Frage des Lebens ausschließlich um das Leben des Fötus und nicht um die Qualität des Lebens. Die Frage des Abtreibungsverbots und der Diskurs über das „Recht auf Leben“ kommen aus der evangelikalen Bewegung, der christlichen Rechten. Die Art und Weise, wie Abtreibung in den Mittelpunkt der konservativen Bewegung gerückt ist, ist eine politische Entscheidung. In den letzten 80 Jahren hat sich die Partei für eine begrenzte staatliche Kontrolle eingesetzt. Das ist ein Prinzip, das auf die Reagan-Ära zurückgeht, in der die Regierung an Einfluss verlieren und die Märkte an Einfluss gewinnen sollten. Diese begrenzte staatliche Kontrolle hat jedoch zwei Seiten: Es gibt eine Vision auf nationaler Ebene, die Bundesstaaten zu ermächtigen, eigenständige Entscheidungen über ihre Bevölkerungen zu treffen. Andererseits führt es aber auch zu einer bemerkenswerten Ausweitung der Kontrolle der einzelnen Bundesstaaten. Indem die einzelnen Staaten immer mehr Dinge verbieten, indem sie versuchen, biologische Ereignisse wie Fehlgeburten oder Eileiterschwangerschaften zu kriminalisieren – wie es in vielen ausstehenden Gerichtsurteilen in Staaten wie Michigan der Fall ist – zeigt sich in Wirklichkeit ein Staatsmodell, das noch interventionistischer ist und sich für ein spekulatives politisches Subjekt einsetzt.
Von welchem Subjekt sprechen Sie?
Ich spreche vom oben bereits erwähnten Fötus. In der Kritischen Theorie ist auch von nataler Subjektivität die Rede. Es ist der Versuch, dieses spekulative politische Subjekt mit außerordentlicher politischer Macht auszustatten. Doch worum es hier eigentlich geht, ist die Macht und der Schutz des Staates. Es ist ja nicht so, dass der Fötus als solcher seine Rechte einfordert. Es geht vielmehr darum, dass der Staat auf der Grundlage des Fötus Rechte erlassen kann. Denn der Fötus kann schließlich nicht für sich selbst sprechen.
Als Roe v. Wade eingeführt wurde, stimmte der Oberste Gerichtshof mit einer großen Mehrheit von 7 zu 2 Stimmen dafür, die Entscheidung löste nicht annähernd so viel Empörung aus wie heute. Warum ist Abtreibung in den Vereinigten Staaten gerade ein so kontroverses Thema?
Man muss bedenken, dass der Oberste Gerichtshof aus Personen besteht, die auf Lebenszeit ernannt werden. Bei der Bestätigung der Richter:innen geht es explizit nicht darum, dass sie den Willen des Volkes vertreten. Dies ist Aufgabe der anderen, der beiden gewählten Bereiche der Staatsgewalt: Exekutive und Legislative. Natürlich gibt es eine Beziehung zwischen den gewählten Bereichen und dem Supreme Court, da die Richter:innen von der Exekutive nominiert und von der Legislative bestätigt werden. Aber es ist per definitionem der Zweig, der die Meinung des Volkes zwar leitet, aber nicht repräsentiert. Es wäre also zu einfach zu sagen, dass es 1973 eine breitere Zustimmung gab. Sicher, dem Urteil ging ein langer Kampf für Abtreibungsrechte und das, was wir heute reproduktive Gerechtigkeit nennen, voraus. Roe v. Wade war ein Sieg auf Bundesebene, aber ich würde die Entscheidung nicht als Barometer für ein nationales Gefühl ansehen. Genauso zeigen viele Statistiken jetzt, dass die mögliche 5-zu-4-Entscheidung Roe v. Wade zu kippen, nicht den Willen des Volkes repräsentiert. In repräsentativen Umfragen sind etwa 54% der amerikanischen Öffentlichkeit für ein – zumindest relatives – Recht auf Abtreibung. Es gibt Diskussionen über „Spätabtreibungen“ – aber die meisten Amerikaner sind für den Zugang zu Abtreibungen.
Worum geht es dann in den aufgeheizten Debatten um Roe v. Wade wirklich?
In seiner Entscheidung von 1973 erklärte der Supreme Court, dass das Recht auf Abtreibung auf das Recht auf Privatsphäre zurückzuführen ist, das in der Verfassung verankert ist. Um dieses Recht wird auf Bundesebene vehement gestritten. Das Recht auf Privatsphäre regelt vieles von dem, was wir in Amerika als die großen kulturellen Fragen betrachten. Dem liegt die Idee zugrunde, dass das Eigentum beim eigenen Körper beginnt, und dass dieses erste, grundlegende Eigentum privat ist. Die Regierung hat nur begrenzten Zugriff auf dieses Privateigentum. Es geht also letztlich auch um die Grenzen des Staates, um das, was der Staat als seinen Einflussbereich ansieht.
Besonders die Konservativen in den USA pochen auf die Freiheit des Individuums. Das wurde zuletzt in der Covid-Pandemie deutlich, als es um das Tragen einer Maske ging oder bei den Debatten um Waffenbesitz. Wie ist es möglich, dass dieselben Konservativen einer Frau die freie Entscheidung über ihren Körper, ihre Sexualität, ihre Zukunft verwehren wollen?
Die Frage, ob die Konservativen die mögliche Aufhebung des Abtreibungsrechts als Einschränkung der Freiheit der Frau betrachten, würden diese in der Tat verneinen. Vielmehr geht es um die Behauptung negativer Freiheit für ein anderes Subjekt, nämlich den Fötus. Nach Ansicht der Abtreibungsgegner:innen hat der Fötus Anspruch auf das Recht auf Leben, das ihm nicht von einer anderen Person genommen werden darf. Doch die Freiheit des Individuums, von der Sie sprechen, ist hier in der Tat zentral. Die Figur des Individuums hat in der amerikanischen Politik einen hohen Stellenwert, sie ist aber auch ihr größtes Problem. Die ursprüngliche Fantasie Amerikas und das große Experiment der liberalen politischen Philosophie haben das Individuum in den Vordergrund gestellt. Aber es war von Beginn an eine ziemlich eng gefasste Kategorie: ein freier, weißer Mann, der Land besitzt. Wenn man sich die verschiedenen Verfassungszusätze ansieht, mit denen versucht wurde, das Konzept des Individuums zu erweitern, dann versteht man, dass dessen ursprüngliche Verheißung nie sehr weitreichend war. Der amerikanische Bürgerrechtsdiskurs hat unter anderem deshalb eine so komplizierte Geschichte, weil er von dieser exklusiven Figur des Individuums ausgeht. Kollektive Ansprüche auf Gerechtigkeit werden in Amerika oft, wenn nicht fast immer, durch diese Figur artikuliert. Viele Dinge haben die Grenzen dieser Sichtweise auf die Probe gestellt, aber Sie haben völlig Recht, wenn Sie auf die letzten zwei Jahre des Lebens unter Covid als eines davon hinweisen. Was bedeutet es für uns, über individuelle Rechte nachzudenken, wenn wir eine Million offizieller Todesfälle in Amerika erreicht haben – ganz zu schweigen von der Untererfassung von Covid.
Wie zeigt sich dies in aktuellen Debatte?
Es ist falsch zu behaupten, dass Roe v. Wade ein umfassender Sieg war. Es hat vielen Frauen in Amerika sichere Abtreibungen und größere reproduktive Freiheiten ermöglicht, und das ist sehr wichtig. Aber die vermeintliche Erfolgsgeschichte der Wahlfreiheit muss mit Vorsicht betrachtet werden. Es gibt eine lange und komplizierte Beziehung zwischen reproduktiver Gerechtigkeit und „Race“ in Amerika. Die Frage, die jetzt auf der Ebene der Staaten entschieden wird, ist auch tief mit einer rassifizierten Geschichte Amerikas verbunden, mit der Reproduktion der Sklaverei, der Kontrolle der Reproduktion von Schwarzen Frauen. Amerika hat auch eine lange Geschichte von Zwangssterilisationskampagnen. Zwischen 1973 und 1976 zum Beispiel, also nach Roe v. Wade, führte die Regierung der Vereinigten Staaten eine Sterilisationskampagne gegen indigene Frauen durch. Eine vom US General Accounting Office veröffentlichte Studie stellt fest, dass zwischen 1973 und 1976 etwa 4300 indigene Frauen ohne ihre Zustimmung sterilisiert wurden – nochmals: Wenn wir über Themen wie reproduktive Gerechtigkeit oder Abtreibungsrechte sprechen, taucht immer wieder die Frage auf, wer oder wessen Körper, wessen Entscheidung geschützt wird. In den USA geht es hierbei meist um eine weiße Frau aus der Mittelschicht.
Was sollte sich in den Debatten also ändern?
Wir sollten den Fokus von den Debatten um Abtreibung hin zu reproduktiver Gerechtigkeit verschieben. Bei der reproduktiven Gerechtigkeit – ein Begriff, den viele Aktivistinnen und Aktivisten seit langem verwenden – geht es um die Erweiterung des Zugangs für Menschen, die benachteiligt sind, die Sicherstellung der medizinischen Versorgung, die Gewährleistung eines besseren Zugangs zu Verhütungsmitteln. Reproduktive Gerechtigkeit blickt nicht nur auf die Frage der Abtreibung, sondern auch auf die Regulierung von Körpern von Schwarzen, Braunen, armen Frauen, deren Reproduktion lange Zeit vor und nach Roe v. Wade erzwungen oder eingeschränkt wurde. Es ist also auch ein Versuch, dem oben beschriebenen Einfluss des Individuums in der Debatte entgegenzuwirken. Denn viele der fortschrittlichen Entwicklungen der letzten 50 Jahre, die aus der Gesetzgebung hervorgegangen sind, sind aus den Ansprüchen dieser begrenzten Figur des Individuums entstanden: Lawrence v. Texas (2003), das die Gesetzgebung in Bezug auf Sodomie aufhob und die Legalisierung von Homosexualität auf Bundesebene erst kürzlich ermöglichte; Brown v. Board of Education (1954), das die Segregation in öffentlichen Schulen beendete; Obergefell v. Hodges (2015), das die Homo-Ehe legalisierte, und natürlich Roe v. Wade. Aber solange das Individuum die zentrale Figur dieser Debatten ist, werden bestimmte Menschen immer auf der Strecke bleiben.
Sollte Roe v. Wade gekippt werden, befürchten Sie dann auch, dass weitere Urteile für nichtig erklärt werden könnten?
Es gibt durchaus die Angst, dass dieses Urteil die Tore öffnet, um andere wegweisende Rechtsentscheidungen über den Körper und intime Beziehungen zu kippen. Was dieser Schriftsatz anzudeuten scheint, ist, dass auch Fragen der Ehe – sowohl der gleichgeschlechtlichen Ehe als auch der „interracial marriage“ – an die Bundesstaaten delegiert werden könnte. Es gibt auch Sorgen darüber, dass die Entscheidung Auswirkungen auf das Grundsatzurteil Griswold v. Connecticut (1965) haben könnte, das den Zugang zu Verhütungsmitteln gewährleistet. Doch viele scheinen das für unwahrscheinlich zu halten, nicht aus ideologischen Gründen, sondern wegen der Lobbymacht der Pharmaindustrie. So sehr wir auch darauf achten sollten, welche anderen Fälle vor das Oberste Gericht kommen werden, so sehr sollten wir uns mit den materiellen Auswirkungen befassen, die das potentielle Urteil in Bundesstaaten, die den Zugang zu Abtreibung einschränken wollen, haben wird. Der Zugang zu Abtreibung ist mit grundlegenden Formen der reproduktiven Gesundheit, des Zugangs zu sexueller Aufklärung verbunden. Einrichtungen wie Planned Parenthood sind oft primäre Anlaufstellen für unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen. Sie suchen diese Einrichtungen wegen des fehlenden Versicherungsschutzes, des mangelnden Zugangs zu allgemeinmedizinischen Angeboten und zur Gesundheitsvorsorge auf. Ich bin mir sicher, dass es sehr problematische Gesetzesentwürfe gibt, die den Gesetzgeber:innen der einzelnen Bundesstaaten vorgelegt werden, in denen es um die Kriminalisierung von Fehlgeburten, die mögliche Kriminalisierung der Verwendung der Spirale und die Frage geht, ob und wie man die Antibabypille erhalten kann.
Sehen Sie auch positive Perspektiven für die Zukunft?
Ich lebe in Kalifornien, und man spürt deutlich, dass sich eine Kluft auftut. Nicht nur zwischen den Menschen hier und den anderen Staaten, sondern auch innerhalb dessen, was die einzelnen Staaten für ihren Einflussbereich halten. Das wird sich bei den Midterm Elections in diesem Jahr und den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2024 bemerkbar machen. Was wir sehen werden, ist eine wachsende Kluft in der Frage, was Amerika ist. Doch ich denke auch, dass dies zu neuen politischen Formationen führen kann. Viele Menschen aus dem gesamten politischen Spektrum haben zunehmend das Gefühl, dass die beiden Parteien, die sich vor allem an den Interessen der Konzerne orientieren, die Bedürfnisse des Volkes nicht wirklich ernst nehmen.•
Poulomi Saha ist außerordentliche Professorin am English Department der UC Berkeley. Ihre Forschung und Lehre bewegen sich an den Schnittstellen von psychoanalytischer Kritik, feministischer und Queer-Theorie, postkolonialen Studien und ethnischer amerikanischer Literatur. Ihr erstes Buch „An Empire of Touch“ ist 2019 in der Columbia University Press erschienen und erhielt 2020 den Harry-Levin-Preis der American Comparative Literature Association.
Weitere Artikel
Jose Antonio Vargas - Journalist und wahrhaftig Illegaler
Er ist der bekannteste illegale Einwanderer der Vereinigten Staaten. Der Journalist Jose Antonio Vargas, Pulitzer-Preisträger und Autor für Washington Post und New York Times, machte 2011 von sich reden, als er seinen Status als illegaler Einwanderer enthüllte.
Immanuel Kant und synthetische Urteile
Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Immanuel Kant weiß die Antwort – aber Sie verstehen schon die Frage nicht? Wir helfen in unserer Rubrik Klassiker kurz erklärt weiter!

Politische Fehlermeldung
Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow gestand jüngst ein, dass er im politischen Umgang mit der Pandemie Fehler gemacht hat. Solch ein offener Umgang mit Selbstkritik wurde von vielen nicht als Schwäche, sondern Stärke verbucht. Das zeigt: Unser Verständnis von Autorität befindet sich derzeit in einem bemerkenswerten Wandel.

Catherine Malabou: „Kryptowährungen stellen die Idee des Staates infrage“
Die chinesische Zentralbank hat Mitte September ihr Vorhaben bekräftigt, einen digitalen Yuan einzuführen. Das ist nur eines von vielen Beispielen für den zunehmenden Willen von Staaten, auf dem Gebiet der Kryptowährungen mitzuhalten – die Philippinen, Schweden, Uruguay, Mexiko und selbst die Eurozone verfolgen ähnliche Projekte. Für die Philosophin Catherine Malabou ist dies ein Widerspruch in sich, da Kryptowährungen auf anarchistischen Prinzipien von Horizontalität und Dezentralisierung beruhen, die die Währungshoheit von Staaten und Zentralbanken infrage stellen.

III - Sind wir zu faul?
Ob sich der Mensch durch Arbeit befreit oder die Freiheit genau da beginnt, wo die Arbeit aufhört, darüber waren bereits G. W. F. Hegel und Paul Lafargue uneins. Heute entzündet sich dieser Streit neu: Brauchen wir, da viele Arbeiten bald durch intelligente Maschinen ersetzt werden könnten, ein bedingungsloses Grundeinkommen? Lesen Sie dazu den Dialog zwischen Richard David Precht und Christoph Butterwegge auf den folgenden Seiten
Kleine Philosophie des Schachspiels
In Jekaterinburg wird gerade der Gegner für das nächste WM-Duell mit Titelträger Magnus Carlsen ermittelt. Durch die Pandemie erlebt das Spiel der Könige zudem auch bei Amateuren einen regelrechten Boom. Zu Recht, handelt es sich doch um eine ganz besondere Kunst des Denkens.

Kant und der Geschmack
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Auch Kant war der Überzeugung, dass unsere ästhetischen Urteile subjektiv und nicht rational sind. Dennoch erwarten wir die Zustimmung unserer Mitmenschen, wenn wir etwas schön finden. Wieso?
Judith Butler und die Gender-Frage
Nichts scheint natürlicher als die Aufteilung der Menschen in zwei Geschlechter. Es gibt Männer und es gibt Frauen, wie sich, so die gängige Auffassung, an biologischen Merkmalen, aber auch an geschlechtsspezifischen Eigenschaften unschwer erkennen lässt. Diese vermeintliche Gewissheit wird durch Judith Butlers poststrukturalistische Geschlechtertheorie fundamental erschüttert. Nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) ist für Butler ein Effekt von Machtdiskursen. Die Fortpf lanzungsorgane zur „natürlichen“ Grundlage der Geschlechterdifferenz zu erklären, sei immer schon Teil der „heterosexuellen Matrix“, so die amerikanische Philosophin in ihrem grundlegenden Werk „Das Unbehagen der Geschlechter“, das in den USA vor 25 Jahren erstmals veröffentlicht wurde. Seine visionäre Kraft scheint sich gerade heute zu bewahrheiten. So hat der Bundesrat kürzlich einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der eine vollständige rechtliche Gleichstellung verheirateter homosexueller Paare vorsieht. Eine Entscheidung des Bundestags wird mit Spannung erwartet. Welche Rolle also wird die Biologie zukünftig noch spielen? Oder hat, wer so fragt, die Pointe Butlers schon missverstanden?
Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.