Produkte des Zeitgeists
Die Objekte, die die Gegenwart hervorbringt, verraten stets auch etwas über deren geistigen Überbau. Eine philosophische Einordnung eines Abnehmmedikaments, superschneller Schuhe und einer App, die unser „wahres Ich“ zum Vorschein bringen soll.
Abnehmen mit Ozempic
Ozempic ist ein Medikament, das vielen Experten als ein Meilenstein in der Bekämpfung von Typ-2-Diabetes gilt. Der darin enthaltene Wirkstoff Semaglutid sorgt dafür, dass die Bauchspeicheldrüse mehr Insulin ausschüttet, was den Blutzuckerspiegel effektiv senken kann. Ein weiterer Nebeneffekt des intravenös zu verabreichenden Stoffes ist, dass er die Leerung des Darmtrakts verzögert und so künstlich etwas erzeugt wird, was natürlicher nicht sein könnte: ein Sättigungsgefühl. Gerade dieser Nebeneffekt wird Diabetikern weltweit aktuell jedoch zum Verhängnis, da zahlreiche Prominente – darunter mutmaßlich auch Kim Kardashian – das Medikament als Abnehmpräparat entdeckt haben und die Preise in astronomische Höhen treiben. So kostet eine Monatsration derzeit gut 900 Dollar. Es mag eigentlich stimmen, dass der Mensch bei Krankheit „nicht auf seinen Organismus beschränkt (ist), da er seine Organe durch verschiedenste Mittel erweitern und schützen kann“, wie Georges Canguilhem in Das Normale und das Pathologische aus dem Jahr 1966 schreibt. Angesichts wartender Patienten und gespritzter Promis mit Modelmaßen fragt sich nur, wer in diesem Szenario der Erreger ist.
Schneller Flanieren mit den Moonwalkers
Laufen ohne bremsende Schwerkraft? Das US-Unternehmen Shift Robotics hat eine Art anschnallbaren Rollschuh für Fußgänger entwickelt: die Moonwalkers. Allerdings macht man damit keine Sprünge wie auf dem Mond. Die acht motorbetriebenen Rollen unter jedem Fuß vermitteln eher ein Gefühl, als liefe man über ein Laufband wie am Flughafen. Statt fünf Kilometer pro Stunde kommt man so auf fast zwölf! Wird damit nun auch das Gehen vom kapitalistischen Effizienzdenken vereinnahmt und die Romantik des Flanierens endgültig zerstört? Diese kulturpessimistische Diagnose übersieht, dass sich bereits der klassische Flaneur innerhalb kapitalistischer Strukturen bewegt. Der Philosoph Walter Benjamin beschreibt sein Erscheinen im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit den Pariser Passagen, durch deren bunte Warenwelt sich der Flaneur treiben lässt: „Der Flaneur ist der Beobachter des Marktes.“ Je mehr der Konsum an Tempo aufnimmt, desto schneller muss natürlich auch sein Beobachter unterwegs sein. In der Geschwindigkeit, mit der heute Moden und Produkte in den Schaufenstern wechseln, rauscht auch der Träger der Moonwalkers durch die Straßen. Ohne zu ahnen, dass seine Schuhe vielleicht selbst bald ein Auslaufprodukt sein könnten. •
Endlich echt sein mit BeReal
„BeReal“ – „Sei echt!“ So heißt eine neue Social-Media-Plattform, die dem Inszenierungsdruck anderer Portale etwas entgegensetzen will. Denn vor allem Instagram entwickelt sich immer mehr zu einer Bühne, auf der mit Filtern und Bildbearbeitungen ein verzerrtes und idealisiertes Bild der Wirklichkeit und vor allem der eigenen Person geschaffen wird. BeReal will eine solche Inszenierung gar nicht erst zulassen. Einmal am Tag bekommen alle Nutzer gleichzeitig zu einem zufälligen Zeitpunkt eine Mitteilung, nach der sie dann zwei Minuten Zeit haben, ein Bild von sich zu posten, genau dort, wo und wie sie gerade sind – in der U-Bahn, vor dem Laptop, im Bett. Führen uns diese Bilder tatsächlich näher an ein authentisches Selbst der abgebildeten Person? Jean-Paul Sartre wäre skeptisch. Ihm zufolge besteht Authentizität gerade im Eingeständnis, dass wir niemals ganz wir selbst sind: Der Mensch ist nicht „an sich“, sondern immer auch „für sich“ und „für andere“. Selbst wenn wir ein Bild auf dem Klo machen, verhalten wir uns zu diesem verinnerlichten Blick von außen. BeReal verkennt mit seiner Forderung des Authentischen diese Seinsweise des Menschen und damit auch den Zwang zum Selbstentwurf. In dieser Hinsicht kann ein klug inszenierter Filter auf Instagram vielleicht sogar ehrlicher sein als die immer gleichen U-Bahn-Selfies von BeReal. •