Radikale Faulheit
Die Sommerferien beginnen und mit ihnen auch die Zeit des Urlaubs und des Nichtstuns. Doch waren Sie schon einmal so wirklich faul? Und was heißt das überhaupt?
Faulheit hat in unserer Gesellschaft einen schlechten Ruf. Die junge Generation sei angeblich zu faul und wolle nicht mehr arbeiten, Arbeitslose und Sozialleistungsempfänger seien sowieso faul und arbeitsscheu. Auch in der Philosophiegeschichte nimmt die Faulheit nicht gerade eine prominente Rolle ein. Die Muße, und mit ihr die Fähigkeit zur aktiven Beteiligung in einer politischen Gemeinschaft, gehört zwar seit der Antike zum Arsenal philosophischer Grundbegriffe. Faulheit aber findet sich meist nur als Laster, im christlichen Weltbild ist sie als Trägheit sogar eine der sieben Wurzelsünden. Doch wirkliche Faulheit kann auch etwas Befreiendes haben. Denn durch sie können wir uns der ständigen Ausrichtung unseres Lebens an Zielen und Zwecken entziehen.
Mittlerweile hat zwar eine gewisse Art der zielgerichteten Faulheit Einzug gehalten in unser Verhältnis zur Arbeit: Bewusst kultivierte Langeweile, die so letztendlich wieder kreativ verwertet werden kann, oder Entschleunigungsstrategien wie Meditation und Achtsamkeit haben längst ihren Platz in der Optimierungsmaschinerie der Leistungsgesellschaft gefunden. Doch dieses instrumentelle Verhältnis zur Faulheit unterläuft ihren eigentlichen Sinn. Denn wer meditiert, um…, faul ist für…, oder nichts tut, weil…, der ist letztendlich unproduktiv, um produktiv zu sein. Dieses Verständnis von Faulheit ist also zutiefst paradox. Wahre Faulheit — falls es sie in dieser reinen Form wirklich gibt — kann ihrem Begriff nach nicht auf einen höheren Zweck ausgerichtet sein.
Diese radikale Faulheit lässt sich — zumindest mit ein bisschen metaphorischer Freiheit — durch eine Figur beschreiben, die bereits von Immanuel Kant bekannt ist: dem regulativen Ideal. Dem in unserer spätkapitalistischen Gesellschaft vorherrschenden Produktivismus folgend ruhen wir uns aus, haben Freizeit, nur um am nächsten Tag wieder erholt unserer Arbeit nachgehen zu können. Doch ist es nicht eigentlich andersherum? Arbeiten wir nicht eigentlich, um letztendlich frei zu haben, faul zu sein und auch einmal nichts zu tun? Dieser Sichtweise folgend reguliert und begrenzt die Faulheit also unseren Begriff von Arbeit: Die Arbeit ist begrifflich abhängig von ihr.
Arbeit ist demnach kein Selbstzweck. Die Faulheit hingegen schon. Sie ist daher ein Gut, das man, nimmt man dessen begriffliche Logik ernst, nur um seiner selbst willen anstreben kann. Wahre Faulheit ähnelt damit in ihrer Struktur einem weiteren altbekannten philosophischen Konzept: Der Glückseligkeit. Diese Strukturähnlichkeit erkannte bereits Gotthold Ephraim Lessing, der in seinem Gedicht „Lob der Faulheit“ eine (implizite) Analogie zu Aristoteles Eudaimonia zieht:
„Höchstes Gut! wer dich nur hat,
Dessen ungestörtes Leben - -
Ach! - - ich - - gähn’ - - ich - - werde matt - -
Nun - - so - - magst du - - mir’s vergeben,
Dass ich dich nicht singen kann;
Du verhinderst mich ja dran.“
Radikale Faulheit, dieses „höchste Gut“, ist also nicht vereinbar mit einem ständigen Streben nach Perfektion. Manchmal muss auch einfach ein Gut-Genug reichen. Wer also wahrlich faul sein will, muss sich mit dem Gedanken zufriedengeben können, seinen Text, selbst wenn er nicht sonderlich gelungen ist, auch einfach mitten im Wort aufhö•
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