Revolution der Achtsamkeit
Wer sich auf die Suche nach sich selbst begibt, setzt sich in den Schneidersitz und meditiert. Dabei bleibt die Achtsamkeits- und Spiritualitätsszene aktuell hinter ihren Möglichkeiten zurück, meint Kilian Thomas. Zeit, ihr revolutionäres Potenzial zu entdecken.
Während die großen Tech-Unternehmen mit Nachdruck in die Zukunft preschen und der digitale Wandel auf immer radikalere Weise die alltägliche Wirklichkeit prägt, verbreitet sich eine Gegenkultur der Achtsamkeit und Besinnung. Das wachsende Interesse an Yoga, Meditation und Spiritualität zeugt von einem zunehmenden Unbehagen mit dem technologisch-naturwissenschaftlichen Weltbild in westlichen Gesellschaften. Jürgen Habermas spricht in diesem Zusammenhang vom modernetypischen „Sog zu einem transzendenzlosen Sein“. Ein Blick in den liberaldemokratischen Alltag zwischen Netflix, Job und Supermarkt scheint die Aussage des nachmetaphysischen Denkers Habermas uneingeschränkt zu bestätigen.
Es verwundert daher keineswegs, dass sich eine auf spirituelle Werte und ein bewusstes Leben ausgerichtete Gegenbewegung zur kapitalistischen Immanenz formiert. Die Konjunktur der Spiritualität lässt sich beinahe als Korrektiv zur Transzendenzlosigkeit der Moderne begreifen. Die gesellschaftspolitische Wirksamkeit wird jedoch allzu oft blockiert. Allerdings nicht, wie anzunehmen wäre, von einer zensierenden Übermacht, die in der Spiritualität ihren zu unterdrückenden Widersacher erkennt. Im Gegenteil, der sublime Spätkapitalismus übt sich erfolgreich darin, spirituelle Werte in seinem Sinne umzugestalten: Längst wird etwa Yoga als Wellness und produktivitätssteigernde Methode der Selbstoptimierung vermarktet. Es ist oftmals die spirituelle Szene selbst, die die Entfaltung ihrer Möglichkeiten behindert. Was ist damit gemeint?
Mut zur Öffentlichkeit
In der Szene ist viel von Heilung und Retreat die Rede, erholsamem Ausstieg und Besinnung aufs Wesentliche. Im Wirkungskreis des persönlichen Umfelds wird auf Harmonie und Ausgeglichenheit, gegenseitige Förderung und Ermutigung gesetzt. Der auf Konkurrenz und Individualismus ausgerichtete Lebensstil der spätkapitalistischen Gesellschaft mit seinen hedonistischen Minimalfreuden wird größtenteils abgelehnt. Die Moderne selbst wird oftmals als gefährliche Macht der Verblendung verstanden, die den Menschen korrumpiert und auf die Vorstellung vom homo oeconomicus reduziert. Ihre einflussreiche Dominanz gilt jedoch als so gewaltig, dass sie, um wieder in Kontakt mit dem Grundsätzlichen treten zu können, möglichst auf Abstand zu halten ist. Stattdessen sucht man Ruhe, Natur und innere Einkehr.
Ungewollt wird so ein anthropologisches Verständnis transportiert, das den Menschen als in der Moderne fehlplatziert begreift. Es entsteht unwillkürlich eine Position der Ohnmacht gegenüber den Strukturen der modernen Wirklichkeit. In gewissem Sinne pathologisiert sich die spirituelle Szene sogar selbst, indem sie den Menschen der Gegenwart als heilungsbedürftiges Wesen auffasst, das erst im Rückzug zu sich selbst findet. Die sinnstiftende Suche nach Wahrheit und Transzendenz erhält so allzu oft den Beigeschmack einer nostalgischen Sehnsucht nach einer vermeintlich intakten Vergangenheit. Dabei vertritt die spirituelle Bewegung eigentlich ein starkes und souveränes Menschenbild, große Ideale und im Grunde sogar die politische Utopie einer authentischen und emanzipierten Gemeinschaft.
Politische Spiritualität?
Dass die Trennung zwischen gesellschaftlichem Handeln und persönlichem Wachstum auf einer falschen Vorstellung von Spiritualität basiert, hat bereits Mahatma Gandhi festgestellt: „Meine Hingabe an die Wahrheit hat mich ins Feld der Politik getrieben. Ohne das mindeste Zögern kann ich sagen, dass derjenige, der da behauptet, Religion habe nichts mit Politik zu tun, nicht weiß, was Religion bedeutet.“ Freilich muss es nicht gleich der politische Freiheits- und Unabhängigkeitskampf im Sinne Gandhis sein. Doch während aktivistische Kreise den Wandel von politischen Strukturen anstreben und dabei oft das Individuum ausklammern, fokussieren sich spirituelle Kreise meist ausschließlich auf den persönlichen Wandel. Wahres Potenzial zur Veränderung hätte indes eine Synthese beider Kräfte. Zugegeben: Dass es zu einem faktischen Schulterschluss zwischen wütenden Aktivisten und gelassenen Yogis kommt, ist unwahrscheinlich und mutet auch seltsam an. Doch würde nicht bereits ein gesellschaftliches Gleichgewicht beider Positionen reichen, die auf ihre je eigene Art progressive Wirksamkeit entfalten könnten?
Ein aussichtsreiches Konzept der Verbindung bietet etwa Michel Foucault, der auf Grundlage seiner Erfahrung mit der Iranischen Revolution von 1979 bemerkenswerte Überlegungen anstellt. In einer Ideenreportage über die hitzige Situation im Iran hält er fest: „Aber vor allem müssen wir uns selbst verändern. Wir müssen unsere Lebensweise, unser Verhältnis zueinander, zu den Dingen, zur Ewigkeit, zu Gott usw. vollkommen verändern. Nur bei solch einer radikalen Veränderung unseres Erlebens wird es eine echte Revolution geben.“ Die Begegnung mit dem Iran führt eine Wende im Denken von Foucault herbei, der fortan viel von den „Technologien des Selbst“ spricht und verstärkt die „Selbstverhältnisse“ des Menschen thematisiert.
Folgt aus der spirituellen Lehre einer wechselseitigen Verbundenheit allen Lebens nicht eine Ethik der Verantwortung? Aus dem holistischen Weltbild das Ideal einer nachhaltigen und ausbeutungsfreien Wirtschaft? Aus dem meditativen Einheitserlebnis die soziale Pflicht zum engagierten Einsatz für geistige Werte? Eine stärkere Präsenz dieser und ähnlicher Überlegungen wäre eine wünschenswerte Ergänzung in den Debatten der Gegenwart. Die in spirituellen Kreisen geläufigen Ansätze in anthropologischer, ethischer und soziologischer Hinsicht verdienen größere Aufmerksamkeit. Mit mehr Mut zum öffentlichen Auftreten lässt sich die Gegenwart um eine sinnstiftende Kultur der Wiederverzauberung und des leidenschaftlichen Weltbezugs bereichern. •
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