Russland als „radikaler Verlierer“
Der am Donnerstag verstorbene Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger war einer der wichtigsten Intellektuellen der Bundesrepublik. Seine Theorie des „radikalen Verlierers“ hilft uns, den Ukrainekrieg zu verstehen.
Vergangene Woche verstarb mit Hans Magnus Enzensberger einer der großen politischen Chronisten der Bundesrepublik: Studentenproteste, Mediengesellschaft, Golfkrieg, EU-Europa, Migration und Rechtsradikalismus – kaum ein Thema blieb unkommentiert. Zum Ukrainekrieg hat er sich allerdings nicht geäußert, was wohl dem hohen Alter geschuldet war. In seinen späten Schriften gibt es jedoch einen interessanten Ansatz zur Deutung des russischen Überfalls.
Sein Essay Schreckens Männer (2006) ergründet die Psyche des „radikalen Verlierers“, der unter die Räder des Modernisierungsprozesses geraten ist oder sich zumindest so fühlt und deshalb zum Gegenschlag ausholt. Der radikale Verlierer kann nur einer sein, weil er früher einmal obenauf war. Dort hat es ihm gefallen. Da will er wieder hin. Schon die Gleichheit ist ein Affront. Zumal wenn sie abstrakt bleibt.
Abstrakte Gleichheit, konkrete Ungleichheit
Ist dies nicht die Situation Russlands, das nach dem Untergang der Sowjetunion einen Macht- Wohlstands- und Ordnungsverlust hinnehmen musste, der in der Geschichte seinesgleichen sucht? Seine Einbindung in den kapitalistischen Kosmos zwang ihm Maßstäbe auf, nach denen es schlecht abschnitt: Wirtschaftskraft, Technologie, Wohlstand und Soft Power (das geopolitische Pendant der Werbung) – überall spielte Moskau bestenfalls die zweite, eher dritte Geige, nachdem es wenige Jahre zuvor eines der beiden Zentren der Welt bildete.
Der Verlust der geopolitischen Position ging einher mit großen Wohlstandseinbußen. Das russische Pro-Kopf-Einkommen sank in den 1990er Jahren deutlich, während es fast überall sonst auf der Welt in die Höhe schnellte. Hinzu kam, dass einige skrupellose Geschäftemacher zu unglaublichem Reichtum gelangten, sodass die verarmte Bevölkerung zuerst staunend und dann zornig auf diese Parvenüs schaute, die das vom Westen übernommene Wirtschaftsmodell nach oben gespült hatte. Einige von ihnen waren so reich und mächtig geworden, dass sie dem Staat über den Kopf wuchsen. Sie beschäftigten eigene Sicherheitskräfte und machten, was sie wollten. Plünderungen, Überfälle und Mord gehörten zum Alltag, bildeten das Begleitprogramm zur Kapitalakkumulation. Der Kapitalismus war, so mussten sich die Russen denken, tatsächlich noch viel schlimmer, als die Sowjetherren immer behauptet hatten.
Der Anfang der Geschichte
Dies ist die eigentliche Demütigung, die die Russen nach 1989/1991 erfahren hatten – nicht dass sie vom NATO-Westen ausgeschlossen, sondern eingeschlossen wurden in eine Globalisierungswelt, die gleichgültig ist gegenüber den Verlierern, die sie produziert. Und Verlierer gibt es immer, wie Enzensberger bemerkt: „Jedes Gemeinwesen“ erzeugt „Ungleichheit, Kränkungen des Selbstgefühls, Ungerechtigkeiten und Zumutungen aller Art“. Für ihn steht fest, „daß so, wie die Menschheit sich eingerichtet hat – ‚Kapitalismus‘, ‚Konkurrenz‘, ‚Imperium‘, ‚Globalisierung‘ –, […] die Zahl der Verlier täglich zunimmt“. Diese wollen das aber nicht hinnehmen. Mit Hegel hält Enzensberger das Verlangen nach „Anerkennung“ für den Motor sozialer Prozesse. Es ist jedoch unstillbar. Seine vermeintliche Befriedigung im Liberalismus lässt es sogar wachsen, da „Gleichheitserwartungen“ geweckt, aber nicht erfüllt werden. Das Versprechen schärft das Gespür für verbleibende Ungleichheit. So gesehen hat der russische Frust etwas mit der Ausbreitung der Französischen Revolution, also dem Erfolg des Westens zu tun, der sich in Gestalt des eingegliederten russischen Gegners gegen sich selbst wendet.
Anders als Fukuyama behauptet, ist der Eintritt in die liberale Globalisierungswelt nicht das Ende, sondern der Anfang der Geschichte, weil nun unverhüllt klar ist, wer oben und unten ist, alle sind abstrakt gleich, sodass die konkreten Ungleichheiten stärker hervortreten. Zumal der Fernseher ihnen zeigt, in welchem Saus und Braus die anderen leben. Dass es Ärmere gibt, fällt nicht ins Gewicht. Man orientiert sich nach oben. Denn dort gehört man nach eigener Auffassung hin. Anfangs passt sich der radikale Verlierer an, um durchzukommen, doch er gibt seinen Herrschaftsanspruch, den er jahrzehntelang aufgebaut hat, nicht auf. Er „hütet sein Phantasma, sammelt seine Energie und wartet auf seine Stunde“.
Phantasma der Größe
Zum russischen Phantasma, das Putin bedient, gehört die Erinnerung an vergangene Größe, die er wiederherstellen will. Insgeheim ahnt er jedoch, dass das nicht möglich ist. Seine Zeit ist abgelaufen. Daher mischt sich unter das Gepolter ein Zweifel, der nur durch noch markigeres Auftreten erstickt werden kann. Die Bilder müssen großartig sein, denn die Realität ist es nicht. Das Großmachtgetöse wird von äußerst virilen Szenen beim Reiten, Jagen und Fischen in Sibirien begleitet, während der Westen als Schwächling verspottet wird, den man mühelos übers Knie legen könnte, wenn es darauf ankommt.
Interessanterweise fiel die russische Radikalisierung in eine Zeit zunehmender Konsolidierung. Wirtschaftlich ging es in den 2000er Jahren bergauf, der Verfall war aufgehalten. Die Wohlstandslücke zum Westen war jedoch noch immer beträchtlich, und langsam dämmerte es den meisten Russen, dass sie diese nicht so schnell schließen können. Zu wahrer Größe würden sie es auf dem Feld der Ökonomie nicht bringen, also wechselten sie das Terrain, um dort den Kampf um Anerkennung aufzunehmen.
Auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 bezeichnete Putin den Untergang der Sowjetunion als größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Implizit verlangte er damit die Revision einer Ordnung, von der er sich an den Rand gedrückt fühlte. Ein Jahr später marschierten seine Truppen in Georgien ein, über die Beteiligung am syrischen Bürgerkrieg wurde Russland zu einem Player im Nahen Osten, Engagements in Afrika folgten. 2014 dann die Annexion der Krim. Ein Testlauf, um zu schauen, wie gut man der Ukraine Territorien abluchsen kann. Es hat geklappt. 2022 dann der Griff nach der gesamten Ukraine, um das alte Reich zumindest teilweise wiederherzustellen.
Mit Selbstzerstörung ist zu rechnen
Doch diesmal scheint es schiefzugehen. Der radikale Verlierer hat sich verschätzt. Zuerst geriet der Blitzkrieg ins Stocken, dann ging die Initiative auf die ukrainische Armee über, die, vollgepumpt mit westlichen Waffen, wehrhafter ist, als Moskau dachte. Einige im Westen werden darüber ganz euphorisch, ein Sieg scheint möglich. Doch man sollte das Psychogramm des radikalen Verlierers genau studieren: „Je aussichtsloser sein Projekt, desto fanatischer hält er an ihm fest“, schreibt Enzensberger. Er wird nicht klein beigeben. Daher die zunehmende Brutalität des Krieges, der Terror gegen die Zivilbevölkerung, die Raketenanschläge auf Kiew. Mit weiteren Eskalationen ist zu rechnen, je mehr Russland die Felle davonschwimmen.
Man sollte es vielleicht nicht zu sehr reizen. Denn das übliche geopolitische Kalkül trifft auf den radikalen Verliererstaat nicht zu. Er hat in seinen Augen nichts zu verlieren, denn verloren hat er ja schon. Ob er nun mittelgroß oder gar nicht ist, macht keinen Unterschied. Der Maßstab ist die Größe, die Weltmacht Nummer 1 oder 2, was die geopolitischen Daten allerdings nicht hergeben. Daher das Voranpreschende, Ungestüme, Waghalsige, das Ausschlagen diplomatischer Angebote. Was aussieht wie entschlossene Selbstbehauptung, ist in Wahrheit Selbstverleugnung, da es die eigene Auslöschung billigend in Kauf nimmt, wenn damit der Feind, der Westen, getroffen werden kann. Es kommt zu einer "Fusion aus Zerstörung und Selbstzerstörung", die den „Selbsterhaltungstrieb“ zum Verschwinden bringt, nachdem das Gefühl der Kränkung zu groß geworden ist. Vielleicht ging es nie darum, diesen Krieg zu gewinnen, vielleicht ging es nur darum, dass der Westen ihn auch nicht gewinnt.
Gespaltener Westen
Neben der Radikalisierung des radikalen Verlierers Russland besteht noch eine zweite Gefahr: Das Entstehen eines neuen radikalen Verlierers. Es wird nämlich zunehmend klar, dass vor allem Westeuropa unter den Sanktionen leidet, die es selbst verhängt hat. Die russischen Rohstoffe waren die Grundlage seines Wachstums. Nun muss es teures Gas aus Arabien und Amerika kaufen, dessen Industrie es saniert. Außerdem scheint es sich allmählich vom chinesischen Markt abzukoppeln, auf den es bislang seine Produkte schmeißen konnte. Ersatz ist nicht in Sicht. Der Untergang des Abendlandes muss also präzisiert werden: Nicht der gesamte Westen geht unter, sondern Westeuropa, dem schwierige Jahrzehnte bevorstehen, aus denen sicher der eine oder andere radikale Verlierer hervorgehen wird.
Das Mindset ist schon angelegt. Denn als verwandter „Antipode“ des Verlierers ist „der radikale Gewinner“, der Westen, ebenfalls ein „Produkt der Globalisierung“, wie Enzensberger schreibt. Sein Reichtum macht genauso einsam, weil er insgeheim ahnt, dass er ihn nicht verdient hat. Auch er wird „von Phantasmen heimgesucht, leidet, schon aus Sicherheitsgründen, an Realitätsverlust, fühlt sich mißverstanden und bedroht“. Steigt er tatsächlich ab, fühlt er sich bestätigt. Er entwickelt einen Groll, igelt sich ein und wartet auf seine Stunde der Rückkehr. So wird er zum neuen „radikalen Verlierer“, der sich und der Welt zeigen will, dass er es noch immer draufhat. •
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