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Illustration: Pablo Stanley (iconscout)

Essay

Lob der Schusseligkeit

Aglaia Kister veröffentlicht am 17 Januar 2022 6 min

Ohne sie gäbe es weder Komödien noch Penicillin – die Schusseligkeit wirkt seit der Antike als kulturstiftende Kraft. Auch in der Philosophie spielt sie von jeher eine wichtige Rolle. Essay über ein unterschätztes Phänomen.

 

Verlorene Schlüssel, im Kühlschrank verstaute Strümpfe, die verzweifelt gesuchte FFP2-Maske, die am Ende doch schon auf der eigenen Nase sitzt – Spielarten dessen, was seit dem 19. Jahrhundert unter dem Namen der „Schusseligkeit“ firmiert, dürften allen Menschen in mehr oder minder ausgeprägtem Maße bekannt sein. Während der Begriff lange Zeit nur umgangssprachliche Verwendung fand, wurden ihm in der jüngeren Vergangenheit die Weihen der Wissenschaftlichkeit verliehen.

Ein Team um den Psychologie-Professor Sebastian Markett hat sich auf Schusseligkeit spezialisiert und mehrere Studien zu dem Thema durchgeführt. Dabei wurde zunächst anhand eines Fragebogens die Anfälligkeit für kognitive Fehlleistungen erfasst: Fragen danach, wie oft man versehentlich andere Menschen anrempele, Verkehrszeichen übersehe oder das Licht auszuschalten vergesse, sollten helfen, ein individuelles Schusseligkeitsprofil der Probanden zu erstellen. Über anschließende DNA-Analysen gelang es, die Existenz eines „Schusseligkeitsgens“ nachzuweisen.

Zerstreute, fahrige oder vergessliche Menschen können sich seitdem darauf berufen, Opfer einer familiär vererbten Variante des Gens DRD2 zu sein. In einer weiteren Studie untersuchte das Team um Markett, welche Persönlichkeitsmerkmale jene Menschen aufwiesen, die im Fragebogen durch besonders viele Fehlleistungen glänzten. Ängstlichkeit, ein geringes Selbstvertrauen, Impulsivität und die Neigung zur Gedankenversunkenheit stellten sich dabei als klassische Eigenschaften der schusseligen Persönlichkeit heraus.

 

Stolpernde Genies

 

Freilich ist die Genforschung keineswegs die erste Disziplin, die sich mit Fehlleistungen beschäftigt – Literatur, Philosophie und Psychoanalyse bilden ein reichhaltiges Archiv an Geschichten über Schusseligkeit. Eine solche steht bereits am Ursprung der westlichen Philosophie: Thales von Milet, der erste namentlich bekannte Philosoph der griechischen Antike, ist nicht nur durch wirkmächtige Forschungen zur Mathematik und Astronomie ins kulturelle Gedächtnis eingegangen, sondern auch durch seine Schusseligkeit. So berichtet Platon in dem Dialog Theaitetos, wie Thales einst nachts durch die Stadt ging, zu astronomischen Forschungszwecken konzentriert den Sternenhimmel betrachtete und dabei einen Brunnen vor seinen Füßen übersah. Eine Magd beobachtete den wenig graziös in das Loch fallenden Gelehrten und lachte ihn aus.

In dieser Szene der Schusseligkeit sieht Platon keineswegs nur einen bedeutungslosen kleinen Ausrutscher, sondern vielmehr ein Sinnbild für das prekäre Verhältnis des Philosophen zur übrigen Gesellschaft. So beschließt er die Anekdote über den stolpernden Gelehrten und die lachende Magd mit den Worten: „Derselbe Spott aber passt auf alle diejenigen, die sich mit der Philosophie einlassen.“ Tatsächlich handelt es sich bei dem zerstreuten Professor um eine geradezu archetypische Figur. Noch Albert Einstein, der notorisch seine Schlüssel verlegte und sogar am eigenen Hochzeitsabend gemeinsam mit seiner Braut ratlos vor der verschlossenen Haustür stand, zeigt jene Mischung aus theoretischer Brillanz und lebenspraktischem Unvermögen, für die bereits Thales Spott erntete.

Dass zwischen Schusseligkeit und Philosophie eine Wahlverwandtschaft besteht, mag erklären, weshalb die Erzählung vom stolpernden Thales über die Jahrtausende hinweg eine ungebrochene Faszinationskraft ausübte und vielfach neu erzählt und interpretiert wurde. Hans Blumenberg erklärte sie gar zur „Urgeschichte der Theorie“, in der sich „bis auf den heutigen Tag jeder Theoretiker noch wiedererkennen könnte“. Der Zusammenprall zwischen Theorie und Lebenswelt; die Erinnerung daran, dass es nicht nur den bestirnten Himmel über dem Philosophen, sondern auch das nach unten ziehende Gesetz der Schwerkraft gibt; die abrupte Rückkehr aus geistigen Höhen auf den Boden der immer auch körperlichen Tatsachen – in der Szene verdichten sich verschiedene Erfahrungen, die nach Thales noch viele Denker:innen gemacht haben dürften. Neben dem Buch Das Lachen der Thrakerin hat Hans Blumenberg dem „Sturz des Protophilosophen“ einen gleichnamigen Essay gewidmet, der die Komik einer abgehobenen, von der Lebenswelt entfernten Theorie analysiert.

 

Vielsagende Versprecher

 

Oft erhellen Schusseligkeiten die Grundbedingungen des Menschseins: Der Betroffene erfährt sich als körpergebundenes Mängelwesen, das zu seiner Lebensführung auf Brillen, Masken und Schuhlöffel angewiesen ist und dessen geistige Kapazitäten bisweilen nicht einmal ausreichen, um den Aufbewahrungsort der vielfältigen Prothesen zu erinnern. Die latente Lächerlichkeit dieses Umstands bezeugt eine Affinität der Schusseligkeit zur Komik. Anders als ihrer traurigen Verwandten, der Demenz, fehlt der lustigen Schusseligkeit die tragische Dimension.

Ihr literarisches Genre ist denn auch die Komödie, in der die „Tücke des Objekts“ oftmals eine wichtige Rolle spielt: Zerbrochene Krüge, verlorene Perücken und verwechselte Namen werden in den Dramen Kleists oder Nestroys zu Urszenen der Komik, aus denen sich die Handlung entspinnt. Noch an den Filmen Buster Keatons lässt sich die Geburt der Komödie aus dem Geist der Schusseligkeit beobachten. Die Weltliteratur kennt neben Schlüsselromanen zahlreiche Schussel-Romane, in denen Tollpatsche oder liebenswürdig vergessliche Käuze auftreten – etwa der zerstreute Gelehrte Pnin aus Wladimir Nabokovs gleichnamigem Roman.

Wer vermeintlich nur lustige Fehlleistungen als einer der ersten Wissenschaftler ernst genommen hat, war Sigmund Freud, in dessen Psychopathologie des Alltagslebens die Schusseligkeit ihre Unschuld verliert und zum Schlüssel für das Unbewusste wird. Freud analysiert, was es bedeutet, wenn ein Mann gegenüber einer heimlich verehrten Dame die prächtig „dekolletierten“ Auslagen der Schaufenster lobt oder wenn „Eiweißscheibchen“ zu „Eischeißweibchen“ entstellt werden. Derartige Fehlleistungen bringen unbewusste Triebregungen zum Vorschein – bzw. „zum Vorschwein“, wie ein Patient Freuds in einem erhellenden Versprecher sagte. Wenn Angela Merkel den hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch auf einem Parteitag 2008 versehentlich als „lieben Herrn Kotz“ begrüßt, ließe sich fragen, ob hier nur eine der Genvariante DRD2 geschuldete Schusseligkeit oder doch ein bedeutsamer Freud’scher Versprecher vorliegt.

 

Tollpatschig zum Durchbruch

 

Mittlerweile existieren viele technische Hilfsmittel gegen Schusseligkeit – etwa digitale Geburtstagskalender oder Schlüssel, die sich durch Töne bemerkbar machen, wenn sie über Bluetooth angefunkt werden. Je mehr alltägliche Aufgaben in Zukunft künstliche Intelligenzen übernehmen, desto seltener werden vermutlich Szenen menschlicher Schusseligkeit. Ein Saugroboter, der seinen Auftrag vergisst und stattdessen gedankenverloren aus dem Fenster schaut, oder eine Alexa, der ein obszöner Versprecher unterläuft, lassen sich nur schwer vorstellen. Zu fragen wäre allerdings, ob die gänzliche Ausmerzung der Schusseligkeit überhaupt wünschenswert ist. Wo kein Stolpern und Versprechen mehr stattfände, würde eine sprudelnde Quelle der Alltagskomik versiegen und ein ödes Feld der störungsfreien Funktionalität zurückbleiben.

Überdies besitzt die Schusseligkeit neben ihrem komischen und poetischen Potential auch eine widerständige Kraft: In einer gänzlich durchrationalisierten Welt wird sie zum Refugium der Unvernunft und des Widerstands gegen die neoliberalen Imperative der Zeiteffizienz und Kontrollierbarkeit. Wer wieder einmal im Keller steht und minutenlang rätselt, weshalb er eigentlich heruntergestiegen ist, verschwendet Zeit, die weder der Arbeit noch der Selbstverwirklichung dient. Statt die umgebende Welt nur zu instrumentalisieren, erfährt die betroffene Person die Grenzen der menschlichen Verfügungsmacht: Oft manifestiert sich in Momenten der Schusseligkeit eine Aufsässigkeit der trivialen Alltagsobjekte, die sich von ihrer dienenden Funktion zu emanzipieren und ein Eigenleben zu gewinnen scheinen – die Brille verschwindet gemeinsam mit dem Geldbeutel, das Handy versteckt sich an einem unbekannten Ort und der tückische Teppich schlägt plötzlich Falten, die den Menschen zu Fall bringen. Trösten kann sich die schusselige Person mit dem Wissen um den Pratfall-Effekt, demzufolge intelligente Menschen sympathischer wirken, wenn sie ab und zu versehentlich eine Kaffeetasse umwerfen. Bereits Aristoteles beschreibt in seiner Poetik, dass die größte Anteilnahme eines Theaterpublikums nicht dem makellos perfekten Helden gilt, sondern vielmehr jener Figur, der auch Fehltritte unterlaufen.

Doch Schussel:innen erregen nicht nur Sympathie, sondern schreiben bisweilen auch Weltgeschichte: Die wohl segensreichste Fehlleistung unterlief dem Bakteriologen Alexander Fleming, der 1928 in den Urlaub fuhr und vergaß, die Fenster im Labor zu schließen. Bei seiner Rückkehr bemerkte er, dass von außen eingedrungene Pilzsporen die Bakterien in einer Petrischale abgetötet hatten – auf diese Weise entdeckte er die antibiotische Wirkung des Penicillins. Dass es zur Besiegung schwerer Krankheiten manchmal keiner Geniestreiche, sondern nur alltäglicher Schusseligkeiten bedarf, könnte auch im Hinblick auf die Corona-Pandemie zuversichtlich stimmen: Vielleicht genügt schon eine übers Wochenende im Labor vergessene Nasensekret-Probe, um ein wirksames Medikament gegen Covid-19 zu entdecken. In der alternden westlichen Welt werden diverse Formen der Vergesslichkeit stark zunehmen – demographisch bewegen wir uns auf eine immer schusseligere Gesellschaft zu. Daher ist es höchste Zeit, den kulturhistorischen Reichtum der Schusseligkeit zu erkennen. •

 

Aglaia Kister ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am deutschen Seminar an der Universität Tübingen und promovierte Literaturwissenschaftlerin. Zuletzt erschien von ihr „Fragile Balance. Schwindelerfahrungen und Gleichgewichtsideale im Werk Thomas Manns“ (Vittorio Klostermann, 2020)

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