Simmel und die Großstadt
Um 1900 avancierte Berlin zur modernsten Metropole der Welt. Der gebürtige Berliner, Philosoph und Soziologe Georg Simmel wurde Zeuge und Analytiker dieses atemberaubenden Stadtschicksals. In seinem Essay über Die Großstädte und das Geistesleben stellte er dem modernen Individuum eine visionäre Geburtsurkunde aus.
Georg Simmel war 60 Jahre alt, als er im September 1918 in Straßburg starb. Vier Jahre zuvor war er in die elsässische Stadt an der Peripherie des wilhelminischen Reiches gezogen, um dort die lang ersehnte ordentliche Professur für Philosophie anzutreten. An sich war Straßburg ein beschaulicher Ort, bekannt für urige Weinstuben, rustikale Küche und den altertümlichen Charme seiner Fachwerkhäuser. Nur brach kurz nach Simmels Ankunft im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg aus. Nennenswerte Gemütlichkeit konnte da selbst in Straßburg nicht aufkommen.
Die vorangegangenen 56 Jahre seines Lebens hatte Simmel in Berlin gewohnt. Das Haus, in dem er 1858 zur Welt kam, stand in der Friedrichstraße. Hier ging es Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich vergleichsweise beschaulich zu. Die Friedrichstraße ließ noch nicht erahnen, dass sie bald zur pulsierenden Einkaufs- und Vergnügungsmeile werden würde. Die ersten „Omnibusse“, die Simmel als Kind in den 1860ern vor dem Fenster vorfahren sah, wurden von Pferden gezogen. Noch wehte kein Hauch der berühmt-berüchtigten „Berliner Luft“ – von der der junge Martin Heidegger sich ausgerechnet in Simmels Todesjahr ganz furchtbar angewidert zeigen sollte. „Eine solche Luft künstlich hochgezüchteter, gemeinster und raffiniertester Sexualität hätte ich nicht für möglich gehalten … Der Charakter der Friedrichstraße hat auf die ganze Stadt abgefärbt“, schrieb Heidegger während seines ersten Berlinaufenthalts 1918 an sein „Seelchen“, Gattin Elfriede.
Ab 1871 begannen die Uhren in Berlin merklich schneller zu ticken. Vom viel zitierten Flickenteppich aus Königreichen und Herzogtümern verwandelte Deutschland sich ins nationalstaatlich geeinte Kaiserreich. Berlin wurde von der preußischen Residenzstadt zur Hauptstadt mit enormem Nachholbedarf. Denn London und Paris, auf die man an der Spree neidisch schielte, waren schon seit Langem Zentren von Imperien mit allem, was dazugehörte: Hektik, Konsum, Hochindustrialisierung, Massenkultur und Massenelend. Also strengte Berlin sich an. Die Stadt wurde ans Stromnetz angeschlossen, Leuchtreklamen blinkten um die Wette. Pferde wurden durch PS ersetzt, Straßenbahnen durchkreuzten die Stadt. Fabrikschornsteine schossen in die Höhe, Mietskasernen und Bürokomplexe aus dem Boden. Um 1900 war Berlin, so steht es in jedem anständigen Geschichtsbuch, die modernste und am schnellsten wachsende Metropole der Welt. Fast zwei Millionen Einwohner zählte die wilhelminische Kapitale um die Jahrhundertwende, mehr als doppelt so viele wie zum Zeitpunkt der Reichsgründung.
Steigerung des Nervenlebens
Während Berlin boomte, geriet Simmels akademische Karriere ins Stocken. Dissertation und Habilitation gelangen ihm erst im zweiten Anlauf. Es folgten Jahrzehnte der Lehrtätigkeit ohne festes Gehalt an der Humboldt-Universität. Dafür gab es vor allem einen Grund: Antisemitismus. Als protestantisch getaufter Nachfahre jüdischer Ahnen blieb Simmel zeitlebens verdächtig. Seine Weigerung, sich einer Denkschule anzuschließen, seine eigenwilligen Grenzgänge zwischen der altehrwürdigen Philosophie und der neumodischen Disziplin namens Soziologie deutete man als Zeichen des „instinktarmen“, „zersetzenden“ Intellekts. Der Vorwurf war besonders beliebt, wenn es galt, Simmels Kandidatur auf eine ordentliche Professur zu sabotieren (was vor der Berufung auf den Straßburger Lehrstuhl mehrfach der Fall war). Seinem Ansehen im universitären Establishment schadete ferner, dass seine Veranstaltungen regelrechten Eventcharakter besaßen. Ein Großteil des Publikums, das in Simmels überfüllte Vorlesungen strömte, war nicht einmal immatrikuliert. „Simmeln“, so nannte man seinen unorthodoxen, pointierten Vortrags- und Denkstil. Dieses Simmeln zeichnete sich nicht zuletzt dadurch aus, dass Alltägliches und scheinbar Randständiges in den Blick genommen wurde. Es konnte um den Henkel einer Vase, den Alpentourismus oder die Koketterie gehen, stets wurden dabei die Konturen eines übergeordneten Zusammenhangs sichtbar gemacht. Als intellektuell hypersensibler Seismograf reagierte Simmel auf die feinsten Schwingungen im Sozialgefüge seiner Epoche. Dabei hat er früher als andere mitbekommen, dass alte Gewissheiten unzuverlässig, dass traditionelle Formen des Welt- und Selbstbezugs brüchig geworden waren. Von dieser Einsicht zeugt exemplarisch sein heute kanonischer Essay Die Großstädte und das Geistesleben von 1903.
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