Teilhabe statt Boykott
Die Autorin Jasmina Kuhnke hat zu einem Boykott der Buchmesse aufgerufen und so eine große Solidarisierungswelle ausgelöst. Empathie mit einer Frau, die von rechten Kräften bedroht wird, ist wichtig. Doch geht die empathische Energie in die falsche Richtung, meint Svenja Flaßpöhler.
„Ihr duldet, dass Nazis mit euch ausstellen! Ihr duldet, dass Menschen wie ich deshalb nicht teilnehmen können! Ihr duldet, dass Menschen mit sichtbarer Migrationshistorie durch die Präsenz von Nazis auf dieser Messe gefährdet werden!“ Mit diesen Worten erklärt die deutsche Autorin Jasmina Kuhnke ihre Absage bei der diesjährigen Buchmesse. Eingeladen war Kuhnke auf der großen ARD-Bühne, um ihren neuen Roman Schwarzes Herz vorzustellen. Doch die Präsenz eines neurechten Verlages sei für Sie eine solche Zumutung, dass Sie sich nun veranlasst sehe, abzusagen.
Jasmina Kuhnke ist eine Person of Colour, sie hat einen sengalesischen Vater. Auf Twitter folgen ihr unter dem Namen @Quattromilf über 110 000 Menschen; sie nutzt die Plattform für ihren Kampf gegen Rassismus, den sie mit harten Bandagen führt. Anfang des Jahres veröffentlichten ihre Gegner ihre Adresse, sie erhielt daraufhin eine Morddrohung und musste mit ihrem Mann und ihren vier Kindern den Wohnort wechseln. Nun also der Boykott der Messe, dem sich sogleich andere Prominente anschlossen, darunter die Schauspielerin Annabelle Mandeng und die Tänzerin Nikeata Thompson, beide ebenfalls POC; auf Twitter gibt es eine große Solidarisierungswelle, die Kuhnkes Anliegen unterstützt und alle diejenigen, die an der Messe teilnehmen, als Dulder rechten Gedankenguts kritisiert.
Es ist richtig: Eine Frau, die Morddrohungen aus der rechten Szene erhält, die um ihr Leben und das ihrer Kinder fürchten muss, verdient unser aller Zuspruch, unser aller Empathie. Für Menschen, die noch nie mit dem Tod bedroht wurden, ist es schwer, sich einzufühlen in eine solche Situation. Das darf uns aber nicht davon abhalten, diese Anstrengung unbedingt zu unternehmen. Denn: Die Kraft des Ein- und Mitfühlens ist ein entscheidender Motor des gesellschaftlichen Fortschritts. Ohne sie wäre die Solidarität mit marginalisierten Gruppen, wäre eine Bewegung wie Black Lives Matter undenkbar.
Handeln der Potenz
Allerdings kann die empathische Energie auch in die falsche Richtung gehen – und genau das gilt für den Fall Kuhnke. Anstatt die junge Frau in ihrer Absage zu bestärken, hätte wahre Unterstützung darin bestanden, sie zu ermutigen, die Möglichkeit, die man ihr geboten hat, entschlossen zu ergreifen. Wäre es nicht besser gewesen, wenn Jasmina Kuhnke, mit dem Rückhalt ihrer Unterstützer, stolz auf die Bühne geschritten wäre? So hätte sie den Rechten auf der Messe gezeigt: Seht her. Ihr wollt mich töten. Ich aber ergreife das Wort. Ich bestimme den Diskurs in diesem Land maßgeblich mit. Und zwar auf einer der prominentesten Bühnen der ganzen Messe.
Ein solches Handeln wäre ein Handeln der Potenz gewesen. Kuhnke hätte sich in die Höhe begeben, von der sie souverän auf ihre Gegner hätte hinabschauen können. Stattdessen hat Kuhnke sich selbst von der Messe ausgeschlossen und damit genau jene Marginalisierung fortgeschrieben, gegen die sie doch eigentlich kämpft. Dass sie nun durch ihre Absage umso mehr im Rampenlicht steht, macht die Sache nicht besser, im Gegenteil: Prominenz erzielt Kuhnke (wie leider viele andere auch), indem sie sich selbst kleiner macht, als sie ist. Den rechten Verlag, um den es hier geht, macht sie hingegen viel, viel größer, als er faktisch war. Kann das gewollt sein?
Sensibilität und Resilienz
Zu Recht hat der Historiker Per Leo in einem Kommentar zum Messe-Boykott darauf hingewiesen, dass man „dulden“ muss, „was nicht verboten ist“. Die Messe ist ein Ort der Meinungsfreiheit. Auch ein neurechter Verlag hat das Recht, dort vertreten zu sein, so schwer das auch auszuhalten sein mag. Und stellen wir uns vor, was passieren würde, wenn ein Gericht entschiede, dass der Verlag nicht mehr auf der Messe vertreten sein darf: Die rechte Szene würde jubeln, sie könnte sich wieder als Opfer einer „Meinungsdiktatur“ inszenieren. Umso notwendiger ist es, für das Aushalten von Zumutungen die notwendige Widerstandskraft auszubilden. Was nicht heißt, dass neurechtes, menschenfeindliches Gedankengut nicht nach wie vor kritisiert und bekämpft werden sollte. Das sollte es unbedingt. Aber würde sich eine Gesellschaft zum Ziel setzen, jedwede Zumutung zu vermeiden, geriete die liberale Demokratie unweigerlich in Gefahr.
An der Causa Kuhnke lässt sich erkennen, wie unauflöslich Sensibilität und Resilienz zusammengehören. Ja, die Einfühlung in die Situation der Autorin ist unverzichtbar. Sie ist der Motor gesellschaftlicher Transformation. Aber unverzichtbar ist auch die Fähigkeit, aus der eigenen Verwundbarkeit heraus in eine Stärke zu finden, die wir brauchen, wenn wir teilhaben wollen am gesellschaftlichen Diskurs und dem alltäglichen, so anstrengenden Kampf widerstreitender Meinungen. •
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin der Printausgabe des Philosophie Magazins. Ihr Buch „Sensibel. Über moderne Empfindlichkeit und die Grenzen des Zumutbaren“ ist soeben bei Klett-Cotta erschienen.
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