Treffen Pflanzen Entscheidungen?
Wissenschaftler behaupten, pflanzliche Entscheidungen beobachtet zu haben. Doch ist das überhaupt möglich? Ein Deutungsversuch mit dem Biologen Anthony Trewavas und dem Philosophen Hans Jonas.
In einer Studie der University of Western Australia wurde jüngst die Existenz eines neuen Stoffwechselkanals bei Pflanzen entdeckt. Daraus folgern die Wissenschaftler, dass Pflanzen ihre Atmung auf unerwartete Weise steuern können. „Unsere Forschung unter der Leitung des Doktoranden Xuyen Le hat herausgefunden, dass diese Entscheidung über die CO2-Freisetzung von einem bisher unbekannten Prozess gesteuert wird, einem Stoffwechselkanal, der ein Zuckerprodukt namens Pyruvats entweder zu CO2 oxidiert oder zur Herstellung von Pflanzenbiomasse aufbewahrt“, so der Biologe und Co-Autor der Studie Harvey Millar. Er kommt zu dem Schluss, dass die untersuchten Pflanzen – die Arabidopsis thaliana oder auch die Acker-Schmalwand – „geheime Entscheidungen“ treffen.
Kann diese Erkenntnis helfen, die Nähe zwischen Mensch und Fauna, die größer ist als oft angenommen, zu verdeutlichen? Die Frage, ob Pflanzen Entscheidungen treffen, so stellt der Biologe Anthony Trewavas in seinem Essay Plant Behaviour and Intelligence (2014) fest, führt auf den ersten Blick zu einem verwirrenden Gedanken. Unterscheidungen und Wahlfreiheit seien Begriffe, die normalerweise zur Verhaltensbeschreibung intelligenter Organismen angewendet werden und nicht, um die Wachstumsprozesse einer Pflanze zu beschreiben. Bei näherem Hinsehen sei jedoch nicht zu bestreiten, dass Pflanzen in ihrer individuellen Entwicklung in gewisser Hinsicht eine Auswahl zwischen verschiedenen sich ihnen bietenden Möglichkeiten treffen.
Trewavas geht davon aus, dass höher entwickelte Pflanzen viele Faktoren in ihrer Umgebung berücksichtigen und abwägen, wie relevant die einzelnen Umwelteinflüsse für sie sind. Ist die Entscheidung getroffen, könnten die Pflanze sie nach einer ordnungsgemäßen Evaluierung auch wieder korrigieren.
Der Sinn der Entscheidung
Die Idee der entscheidungsbegabten Pflanze ist verlockend, aber ob sie auch stringent ist, hängt davon ab, was man unter einer Entscheidung versteht. Wenn man darunter fasst, dass das Pflanzenwachstum und ihre Bewegungen nicht unmittelbar bestimmt sind, sondern eine Vermittlung, eine Verzögerung und vor der Handlung eine abgewogene Bewertung verschiedener Umweltfaktoren voraussetzt, kann die Pflanze sicherlich als Entscheider bezeichnet werden. Aber ist diese Behauptung wirklich so überraschend? Und, was noch wichtiger ist, führt sie nicht zu einer gewissen Unklarheit über die Bedeutung der Entscheidung?
Zweifelsohne ist richtig, dass die Pflanze bei mehreren Auswahlmöglichkeiten „rational“ darüber entscheidet, welche Option für sie am vorteilhaftesten ist. Aber hat sie überhaupt eine Wahl zu treffen? Ist ihre Wahl, wenn sie immer zu Gunsten der rational sinnvollsten Option ausfällt, nicht immer noch völlig mechanisch gesteuert?
Radikale Unbestimmtheit
Noch verständlicher wird dieser Einwand, wenn man das Auswahlverfahren der Pflanzen mit der menschlichen Entscheidungsfindung vergleicht: Die menschliche Entscheidung ist immer mit einer radikalen Unbestimmtheit verbunden, die sowohl auf die unabsehbaren Folgen der geplanten Handlung als auch auf die Freiheit des Subjekts zurückzuführen ist. Im Gegensatz zur Pflanze ist es dem Menschen möglich, sich für die am wenigsten nützliche Handlungsmöglichkeit zu entscheiden.
Es ist eine Sache, verschiedene Kontextfaktoren zu bewerten, um eine Handlung an die gegebenen Umstände anzupassen. Eine andere ist es, diese Faktoren zu berücksichtigen und trotzdem zu wissen, dass keine dieser Faktoren die eigene Handlung vollständig determinieren kann. Menschliches Handeln erfordert gerade deshalb eine freie Entscheidungsfindung, weil es in dieser Unzulänglichkeit der Handlungsgründe wurzelt. Es muss immer aufs Neue entschieden werden.
Ist dies nun die Art und Weise, wie Pflanzen arbeiten? Nicht für Hans Jonas! In seinem 1973 erschienenen Buch Das Prinzip Leben behauptet der Philosoph, dass die Freiheit auf Tiere beschränkt ist. Die Vielzahl der Möglichkeiten, die Ungewissheit der Wahl und die Anstrengung des Ausprobierens sind außervegetativ, tierisch. Ohne diese strikte Unterscheidung von Jonas zu übernehmen, können wir davon ausgehen, dass wir keinen Beweis dafür haben, dass die Entscheidungsfähigkeit der Pflanzen die gleiche ist wie die der Tiere. •