Wahlverwandtschaften
Co-Parenting ermöglicht, mit einem anderen Menschen ein Kind aufzuziehen, ohne dafür eine romantische Beziehung einzugehen. Ist das ein Zeichen kapitalistischer Zweckrationalität oder eine Befreiung aus alten Modellen?
Wer einen Kinderwunsch verspürt, aber noch Single ist, muss sich heute nicht verzweifelt auf Tinder um potenzielle Traumpartner bemühen. Es reicht, eine gute Freundin oder einen netten Bekannten zu haben. Und falls nicht, wischt man eben doch – aber nicht auf Tinder, sondern auf einer der zahlreichen Apps, die Partner zur gemeinsamen Kindererziehung vermitteln. Co-Parenting nennt sich die Abmachung, zu zweit oder mit mehreren Personen ein Kind, oft durch Samenspende, zu bekommen, ohne dafür eine romantische Beziehung einzugehen. Eine konsequente Antwort auf eine Statistik, nach der ein Drittel der Ehen in Deutschland geschieden werden. Denn von den vielen Tücken, die der romantischen Liebe auflauern und die so oft ihr tragisches Scheitern bedeuten, bleibt das freundschaftliche Arrangement verschont. Weder sprunghaftes Gefühlsschlamassel noch sexuelle Untreue können das Modell der kooperativen Elternschaft trüben. Sticht Rationalität hier Romantik? Co-Parenting, die höchste Stufe der Kapitalisierung des Privaten, das von jedem Rest an Unsicherheit, Instabilität und Risiko befreit werden soll? Ist in Zukunft mit noch mehr selbstoptimierten Familien zu rechnen, für die das perfekte Co-Elternteil mittels Kosten-Nutzen-Kalkül akribisch ermittelt wurde, statt sich auf die Unwägbarkeiten der Romantik mit mutiger Wucht einzulassen?
Antigone light
Nun, das wäre eine naheliegende, aber keine zwingende Schlussfolgerung: Judith Butler erkennt in alternativen Verwandtschaftsmodellen sogar ganz im Gegenteil einen subversiven Akt. Unter „Verwandtschaft“ kann der Philosophin zufolge „eine beliebige Anzahl sozialer Arrangements“ verstanden werden, „die die Reproduktion des materiellen Lebens organisieren“. Diese Arrangements sind somit keineswegs auf die drückenden Fesseln der Biologie, der Heterosexualität oder der Partnerschaft angewiesen. In Antigones Verlangen – Verwandtschaft zwischen Leben und Tod erklärt Butler Antigone zur radikalen Figur des Widerstands. Antigone ist zugleich Tochter und Schwester von Ödipus und hat zudem, so Butler, ein inzestuöses Verlangen nach ihrem Bruder Polyneikes. Damit sprenge sie die hergebrachte Ordnung verwandtschaftlicher Beziehungen. Nun ist Co-Parenting zugegebenermaßen weit weniger radikal als das Modell Antigone. Aber immerhin eine Subversion light. •