Warum verurteilt man heute eine KZ-Sekretärin, Frau Stengel?
Der Bundesgerichtshof hat geurteilt: Die ehemalige KZ-Sekretärin Irmgard F. ist der Beihilfe zum Massenmord schuldig. Die Historikerin Katharina Stengel ordnet das Urteil im Interview in die historischen Gerichtsprozesse zum Nationalsozialismus ein.
Frau Stengel, Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung einer früheren KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Massenmord bestätigt. Auch ihre “unterstützende” Tätigkeit könne rechtlich so eingeordnet werden. Was hat eine Sekretärin in einem Konzentrationslager eigentlich gemacht?
Irmgard F. hat als Sekretärin normale Schreibarbeiten in der Verwaltung des Lagers erledigt, u.a. Kommandanturbefehle niedergeschrieben. Ihre Verurteilung zu einer Bewährungsstrafe hat mit einer veränderten Rechtssprechungspraxis in der deutschen Justiz seit 13 Jahren zu tun: Das hängt mit dem Fall von John Demjanjuk zusammen, einem ukrainischen Kriegsgefangenen, der als „Hilfswilliger“ der SS tätig war und schließlich als Aufseher im Vernichtungslager Sobibor arbeitete. Das Landgericht München II verurteilte ihn 2011 wegen Beihilfe am Massenmord mit der Begründung, dass die Verbrechen in Sobibor, der Massenmord an Jüdinnen und Juden dort, als eine Tat zu verstehen ist und nicht als tausende kleiner Einzeltaten. Alle Personen, die in Sobibor in irgendeiner Funktion tätig waren, sind demnach dafür haftbar und können als Mittäter verantwortlich gemacht werden. Ich gehe davon aus, dass es bei Irmgard F. ähnlich ist, sie hatte Kenntnis darüber, was geschehen ist, hat Tätigkeiten wie Schriftverkehr oder Bestellungen ausgeübt, war also Teil des Geschehens im Konzentrationslager.
Unser Justizsystem versucht Gerechtigkeit über Prävention sowie Reintegration herzustellen, wie ist das in diesem Fall zu verstehen?
Das ist im Rahmen dieser NS-Prozesse viel diskutiert worden. Die Justiz kennt bestimmte Strafzwecke, der eine ist die individuelle Prävention, es soll also verhindert werden, dass diese eine Person eine vergleichbare Tat nochmal begeht. Das trifft natürlich auf die Täter, die im Rahmen der NS-Prozesse verurteilt wurden, in der Regel nicht zu. Sie haben die Verbrechen ja in einem bestimmten Kontext begangen, nicht als Einzelpersonen, die damit privat weitermachen würden. Ein weiterer Strafzweck ist die Generalprävention, die Strafe hat hier eine primär symbolische Funktion und sendet ein Signal an die Gesellschaft: „Diese Taten waren ein Verbrechen und werden geahndet, das bestimmen wir jetzt hier als Gesellschaft oder als Justiz.“ Es gibt weitere Strafzwecke, etwa die Idee, dass diese späten NS-Verfahren vor allem dafür da sind, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und auch den Hinterbliebenen zu signalisieren, dass es sich bei den Taten um Unrecht gehandelt hat, das geahndet wird.
Der Hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer hat wichtige NS-Prozesse initiiert, etwa den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess. Was macht diesen so bedeutsam?
Dieser Prozess war der erste Versuch – und das war auch Fritz Bauers Motivation – die Geschehnisse in Auschwitz durch die bundesdeutsche Justiz als Ganzes aufklären zu lassen. Prozesse gegen einzelne Personen hatte es zu der Zeit schon gegeben, interessanterweise eher gegen subalterne SS-Leute oder Funktionshäftlinge – aber Fritz Bauer wollte eine Anklage, die das ganze Vernichtungsgeschehen in einem Prozess abbildet. Das führte zu einem wirklich großen Prozess, der erste Auschwitz-Prozess hatte über 20 Angeklagte und mehr als 200 Auschwitz-Überlebende, die als Zeuginnen und Zeugen aussagten, und über 100 weitere Zeugen. Fritz Bauer hat zum Beispiel auch mitorganisiert, dass am Anfang der Prozesse Historiker eingeladen wurden und Gutachten präsentieren konnten, was eine Besonderheit war. Dass eine solche Zusammenstellung von Fakten und eine so systematische Anklageschrift vorlag und dass so viele Überlebende als Zeuginnen und Zeugen angehört wurden, war damals eine echte Besonderheit. Fritz Bauer hat auch dafür gesorgt, dass eine Reihe junger Staatsanwälte die Anklage vertraten, während bei Älteren die Gefahr groß war, dass sie selbst NS-belastet waren. Der Prozess diente, in den Vorstellungen von Fritz Bauer, nicht allein der juristischen Aufarbeitung, sondern auch der historischen Aufklärung und der Aufklärung der Bevölkerung über Auschwitz, die bis dahin kaum stattgefunden hatte. Gerade aus der Justiz kamen auch kritische Nachfragen, ob das wirklich Zweck eines Gerichtsverfahrens sein sollte.
Was war Bauers juristischer Ansatz? Warum stellte er einen so großen Prozess zusammen?
Sein juristischer Ansatz war ziemlich weitgehend und wurde erst vor wenigen Jahren durch die deutschen Gerichte aufgenommen und bestätigt. Er ging davon aus, dass es sich bei der Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Auschwitz um eine Tat handelte, an der alle anwesenden SS-Leute in der ein oder anderen Weise beteiligt waren. Es hätte dementsprechend also in Auschwitz keine unschuldigen SS-Leute oder sonstige Mitwirkende – wie etwa Sekretärinnen – geben können. Die Gerichte hätten nur die jeweilige Beteiligungsform ermitteln müssen. Dagegen gingen die meisten Gerichte davon aus, dass man den angeklagten SS-Leuten für eine Verurteilung „konkrete Einzeltaten“ nachweisen müsse, was meist sehr schwierig war und zu zahlreichen Verfahrenseinstellungen und Freisprüchen führte. Dazu kam noch, dass die Gerichte in vielen Fällen die Angeklagten nur als „Gehilfen“ und nicht als Täter verurteilten; die eigentliche Täterschaft, also den Willen zur Vernichtung, sahen sie nur bei einer Handvoll von Haupttätern wie Hitler, Himmler, Heydrich. Bauers Ansatz hat dagegen viel stärker die meist freiwillige Beteiligung vieler Deutscher in den Blick genommen.
Der Auschwitzprozess war sehr öffentlichkeitswirksam. Fritz Bauer selbst sorgte dafür, dass der Prozess in der Öffentlichkeit wahrgenommen wurde, indem er beispielsweise viele Journalisten einlud. Was hatte das für eine Wirkung auf eine Bundesrepublik, in der wirklich viele Menschen in hohen Ämtern, aber auch im Alltag ehemalige aktive Nazis waren?
Die Medienaufmerksamkeit war enorm, in vielen Tageszeitungen wurde regelmäßig, manchmal sogar über jeden einzelnen Verhandlungstag ausführlich berichtet, teilweise sogar in der internationalen Presse. Wie sehr das bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen angekommen ist, wird heute unterschiedlich eingeschätzt. Es gibt die optimistische Sichtweise, dass es nicht nur das Bild der Verbrechen nochmal verändert, sondern diese überhaupt erst ins Bewusstsein der Bevölkerung geholt hat. Auch wichtig war, dass man zum ersten Mal auch die Opfer in der Öffentlichkeit gesehen und ihre Geschichten gehört hat, statt immer nur die Perspektive der Täter. Trotzdem hat der Prozess einige Sachen nicht eingelöst, sowohl auf der juristischen als auch auf der narrativen Ebene.
Welche wären das?
Das Bild, das am Ende von Auschwitz gezeichnet wurde, betrachtete die Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Birkenau immer noch eher als Randaspekt. Das wurde auch in den Urteilen deutlich. Es gab eine große Fokussierung darauf, was im Juristischen „Exzess“-Tat genannt wird. Also dass Verantwortliche Häftlinge über den Rahmen der Befehle hinaus eigenhändig ermordet haben. Das war für die Juristen am leichtesten greifbar. Dagegen sind zum Beispiel SS-Offiziere, die die Häftlinge von der Rampe zu den Gaskammern geführt haben, nur wegen Beihilfe zum Mord verurteilt und teilweise sogar gar nicht verurteilt worden, weil behauptet wurde, dass das eben kein wesentlicher Tatbeitrag war. Es gibt diese Diskrepanz zwischen der Verurteilung der Beteiligten an der permanenten Massenvernichtung in Birkenau, die meist als Gehilfen angesehen wurden und eher geringe Strafen erhielten, und denjenigen, die wegen individueller „Exzess-Taten“ Höchststrafen erhielten. Das schuf auch ein schiefes Bild von Auschwitz. Juristisch hat der Prozess auch eher zu einer Rechtsprechung geführt, die für bundesdeutsche Gerichte lange üblich war, die man sehr kritisch betrachten sollte.
Inwiefern?
Juristisch wurde im Auschwitz-Prozess auf die „konkreten Einzeltaten“ und auf die „Exzesstaten“ abgezielt. Diese mussten im Einzelnen nachgewiesen werden, dabei gab es hohe Anforderungen an die Beweise, aber auch hohe Anforderungen an die Unmittelbarkeit, mit der eine Person in einen Tatablauf verwickelt war. Eine Folge des Urteils im ersten Auschwitzprozess war es daher auch, dass nach der Bestätigung durch den BGH zahlreiche Ermittlungsverfahren, die im Fall von Auschwitz schon eingeleitet waren, wieder eingestellt wurden. Mit der Begründung, dass wenn man schon SS-Offiziere, die Häftlinge zu den Gaskammern eskortiert hatten, juristisch nicht belangen konnte, das dann erst recht nicht mit niederrangigen SS-Leuten gelingen könne. Daher könne man auch beispielsweise keine Angehörigen der Fahrbereitschaft belangen, die dafür da waren, Kranke von der Rampe in Gaskammern zu fahren, obwohl sie auch relevant zu den Taten beigetragen haben. Eine Verurteilung wegen Mitwirkung an dem großen Ganzen war damals nicht möglich. Das hat sich erst mit dem Demjanjuk-Prozess geändert, in dem festgestellt wurde, dass alle Mitwirkenden auch mitverantwortlich sind, auch jemand, der keine hohe Stellung hatte. Ohne das hätte es den Stutthof-Prozess auch nicht geben können.
Hat denn der Auschwitzprozess damals etwas an der Erinnerungskultur verändert?
Das ist heute schwer zu sagen, es fiel ja auch mit einigen anderen Ereignissen, wie beispielsweise dem Eichmann-Prozess, zusammen. Ich glaube, dass der Prozess in seiner Zeit schon etwas am öffentlichen Bewusstsein verändert hat. Auch, wenn im weiteren Verlauf der 70er Jahre dann eine Art Rückschlag wahrnehmbar war. Da ist das Interesse der Justiz eher erlahmt, es wurden Verfahren eingestellt oder Angeklagte trotz Beweisen freigesprochen. Ende der 70er hat sich das wieder verändert aber nicht durch einen bestimmten Prozess, sondern auch durch diese Holocaust TV-Serie von Marvin J. Chomsky, die zwar eher kitschig war, aber einen anderen Blick auf die Geschichten der Opfer erlaubte. Diese ganze Erinnerungskultur ist also vielmehr ein Auf und Ab und der Auschwitzprozess war keine Katharsis, ab der alles besser wurde.
In letzter Zeit gibt es aus meiner Perspektive eine Entwicklung, die ein unkritischeres Verhältnis zum Nationalsozialismus sucht. Ich denke da an den Gebrauch von Parolen wie „Deutschland den Deutschen“. Diese offenen positiven Bezüge werden wieder salonfähiger, was hat sich in den letzten Jahren verändert?
Zuerst nochmal zurück zu den früheren Prozessen: Das, was jetzt im Prozess gegen Irmgard F. geschieht, also die Verurteilung von Mitwirkenden aufgrund der Tatsache, dass sie Teil dieser Vernichtungsmaschinerie waren, war das, was Fritz Bauer schon in den 60erJahren gefordert hat. Heute tut diese juristische Aufarbeitung aber nicht mehr so weh, weil die allermeisten Beteiligten und alle mit hohen Funktionen tot sind und nun vor allem Menschen verurteilt wurden, die damals 17 oder 18 Jahre alt waren. Es ist natürlich trotzdem richtig, das zu tun, aber es spricht Bände über die Vergangenheitsaufarbeitung in Deutschland. Man hat sich anfangs an die hohen Tiere nicht herangetraut. Was sich aber in der Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus getan hat, ging nicht nur vor der Justiz oder staatlichen Institutionen, sondern vor allem auch zivilgesellschaftlich von Geschichtswerkstätten oder Bewegungen aus. Das wurde sich dann durch staatliche Instanzen oder Parteien später erst zu eigen gemacht. Und heute sieht man sich mit der Realität konfrontiert, dass vieles davon für die Galerie war. Also wenn man sieht, wie wenig sich die etablierten Parteien über Lippenbekenntnisse hinaus zur Wehr setzen, wenn solche offenen positiven Bezüge zum Nationalsozialismus wieder stattfinden. Jeder demokratische Politiker behauptet ja, wir haben uns intensiv damit auseinandergesetzt und Lehren gezogen. Da muss man sich allerdings angesichts der derzeitigen Lage fragen: So sehen also eure Lehren aus? Dass ihr beispielsweise versucht, die Forderungen der Rechtsextremen noch zu überbieten? Das geht natürlich mit dem internationalen Aufschwung rechtspopulistischer und faschistischer Parteien einher, aber ich finde, dass das in Deutschland so verfängt, hat schon eine besondere Qualität. •
Katharina Stengel ist Historikerin mit Schwerpunkt Holocaust-Forschung. Sie arbeitete am Fritz Bauer Institut an Projekten zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess und zu Restitution. Von 2004 bis 2018 betreute sie die Ausstellung „Legalisierter Raub. Der Fiskus und die Ausplünderung der Juden in Hessen“. Von 2016 bis 2019 forschte sie zu Opferzeugen in Auschwitz-Prozessen.
Weitere Artikel
Katharina Pistor: „Das Finanzsystem ist demokratisch nicht kontrollierbar“
Die rechtlichen Regeln des globalen Finanzkapitalismus werden von einer Handvoll amerikanischer und britischer Anwaltskanzleien geschrieben. Die Juristin Katharina Pistor erklärt im Interview, wie das sein kann, warum Kapital vor allem ein Code ist und wieso wir über Modelle der Vergesellschaftung nachdenken sollten.

Katharina Wicht: „Redefreiheit bedeutet auch, sich von inneren Zensuren freizumachen“
Katharina Wicht hat 2022 den Parrhesia Verlag für Philosophie und Belletristik gegründet. Im Interview erzählt sie von ihrer „edition Schatten“, mit der sie den Werken Aufmerksamkeit schenken will, die sonst nicht beachtet werden.

Katharina Hoppe: „Die Neuen Materialismen wollen mit dem Anthropozentrismus brechen“
Viren, Klimawandel und Computer: Die Materie regt sich. Müssen wir das Andere des Geistes als Subjekt anerkennen, ihm Rechte zusprechen – oder beherrscht es uns bald ohnehin? Die Soziologin Katharina Hoppe über die Denkrichtung der „Neuen Materialismen“ – Teil fünf unserer Reihe über Philosophie des 21. Jahrhunderts.

Katharina Sykora: „Der Leichnam kommt der Skulptur nahe“
Bei der Aufbahrung von Papst Benedikt und Pelé wird der Tod als öffentliches Spektakel inszeniert. Die Kunsthistorikerin Katharina Sykora spricht über die Ikonisierung von Körpern, Leichen in der Kunst und die Toten, die unsichtbar bleiben.

Hans Jörg Sandkühler: „Zum Philosophieren im Nationalsozialismus gehörte eine gewisse Schizophrenie“
Das von Joachim Ritter geleitete Collegium Philosophicum war ein Zentrum deutscher Philosophie nach dem Zweiten Weltkrieg. Mit dem Ritter-Schüler Hans Jörg Sandkühler sprachen wir im Rahmen der Vortragsreihe „Münsteraner Philosophie im Nationalsozialismus“ über Joachim Ritters nachhaltigen Einfluss und den unbehandelten Umgang mit seiner NS-Vergangenheit.

Krieg und Freiheit
Wie umgehen mit der Tatsache, dass in Europa Krieg herrscht? Wie das richtige Maß finden zwischen Erschütterung und Einmischung? Ein Gespräch zwischen dem ehemaligen Innenminister Gerhard Baum und der Historikerin Hedwig Richter, moderiert von Thea Dorn.

Die Aufklärung der Aufklärung
Die neue Ausstellung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zeigt die historischen Ambivalenzen und Widersprüche eines bis heute wichtigen Projekts auf.

Renate Reschke: „Die Kunst ordnet das Chaos“
Hochmusikalisch, sensibel und sprachbegabt – Nietzsche drängt es von Anfang an zur Kunst. Was es mit dem „Dionysischen“ auf sich hat, weshalb Wagner für ihn ein kunsttheoretischer Glücksfall war – und warum selbst von diesem Sprachgenie schlechte Gedichte überliefert sind, erklärt die Philosophin Renate Reschke im Interview.
