Weibliche Nation, männlicher Staat
Die Ukraine wird oft als schutzbedürftige Frau gezeigt, die vor den Schlägen Russlands gerettet werden müsse. Dieses Bild dient jedoch nicht allein dem Schutz der Ukraine und der vielen geflüchteten Frauen, sondern vor allem der Gemeinschaftsbildung im Westen. Dort waren Nation und Frau schon immer eng miteinander verwoben.
Laut offiziellen Zahlen der Vereinten Nationen sind knapp 90% der Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, Frauen und Kinder. Es mehren sich Berichte darüber, dass ihre prekäre Situation von Menschenhändlern und Zuhältern ausgenutzt wird. Dass es Ihres Schutzes bedarf, ist in der aktuellen Situation wohl eindeutig. Doch es ist auch auffällig, dass die Diskussion über Frauen und Kinder gerade in Krisenzeiten besonders leidenschaftlich geführt wird. Mit ihrem Schutz wird Politik gemacht.
Politik des Schutzes
Erinnern wir uns an das Jahr 2015, als Deutschland zuletzt mit einer großen Flüchtlingsbewegung konfrontiert war. In der Silvesternacht 2015/16 kam es in Köln zu sexuellen Übergriffen durch vermeintlich „arabisch aussehende“ Männer. Die Vorfälle trugen dazu bei, dass das Narrativ um die Aufnahme von Geflüchteten kippte. Die vermeintlich ausländischen Männer wurden als Eindringlinge beschrieben, vor denen besonders Frauen geschützt werden müssten. Einer diffusen Angst – vor Veränderung, Terror, „Überfremdung“ – wurde so eine Rechtfertigung gegeben.
Diesem Narrativ vom Schutz der Frauen wurde vor allem von Seiten der Neuen Rechten die Rede vom männlichen, wehrhaften Staat entgegengestellt: Der AfD-Politiker Björn Höcke äußerte sich im selben Jahr auf dem AfD-Parteitag mit den Worten: "Wir müssen unsere Männlichkeit wieder entdecken. … Nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft, und wir müssen wehrhaft werden, liebe Freunde!" In weniger unverblümter Form findet sich diese Aussage auch heute und auch außerhalb der AfD wieder.
Hat die Nation ein Geschlecht?
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Camille Froidevaux-Metteries Essay hilft, Judith Butlers schwer zugängliches Werk zu verstehen. In ihm schlägt Butler nichts Geringeres vor als eine neue Weise, das Subjekt zu denken. Im Vorwort zum Beiheft beleuchtet Jeanne Burgart Goutal die Missverständnisse, die Butlers berühmte Abhandlung „Das Unbehagen der Geschlechter“ hervorgerufen hat.
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Der Markt der Gefühle hat Konjunktur. Allen voran das Geschäft des Onlinedatings, welches hierzulande mit 8,4 Millionen aktiven Nutzern jährlich über 200 Millionen Euro umsetzt. Doch nicht nur dort. Schaltet man etwa das Radio ein, ist es kein Zufall, direkt auf einen Lovesong zu stoßen. Von den 2016 in Deutschland zehn meistverkauften Hits handeln sechs von der Liebe. Ähnlich verhält es sich in den sozialen Netzwerken. Obwohl diese mittlerweile als Echokammern des Hasses gelten, strotzt beispielsweise Facebook nur so von „Visual-Statement“-Seiten, deren meist liebeskitschige Spruchbildchen Hunderttausende Male geteilt werden. Allein die Seite „Liebes Sprüche“, von der es zig Ableger gibt, hat dort über 200 000 Follower. Und wem das noch nicht reicht, der kann sich eine Liebesbotschaft auch ins Zimmer stellen. „All you need is love“, den Titel des berühmten Beatles-Songs, gibt es beispielsweise auch als Poster, Wandtattoo, Küchenschild oder Kaffeetasse zu kaufen.
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