Werden die Medien ihrem Auftrag gerecht?
Der Journalismus steht in der Kritik: Informiert er noch oder erzieht er schon? Und welche Rolle spielen die Sozialen Medien? Ein Gespräch zwischen Ex-ZDF-Chefredakteur Peter Frey und dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, moderiert von Thea Dorn.
Das Gespräch fand am 25.10.2022 im Rahmen der Gesprächsreihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ der Wüstenrot Stiftung unter dem Titel „Demokratische Medienkultur“ in Stuttgart statt. Redaktion: Karin Janker
Thea Dorn: Es sind komplizierte Zeiten – auch was die Arbeit von Medienschaffenden und Journalisten angeht. Während des Präsidentschaftswahlkampfs 2020 in den USA ließ sich das besonders drastisch beobachten: Rechte Sender wie FOX News haben mehr oder minder unverhohlen Wahlkampf für den amtierenden Präsidenten Donald Trump gemacht. Im linksliberalen Medien-Spektrum schien sich die gegenteilige Haltung auszubreiten: Hauptsache, Trump gewinnt nicht nochmal, wir berichten nichts, was Joe Biden schaden könnte. Wie beurteilen Sie diese journalistische Haltung, Herr Frey: Ist sie problematisch? Oder zeugt sie von staatsbürgerlichem Verantwortungsgefühl?
Peter Frey: Ich fürchte, ich bin da langweilig und altmodisch: Relevante Fakten gehören auf den Tisch – selbst dann, wenn sie womöglich dem Falschen nutzen. Das Publikum ist schlau genug, den gesamten Kontext zu sehen und so eine Aussage einzuordnen. Es gab in diesem Wahlkampf ja Material, das Joe Bidens Sohn in Schwierigkeiten brachte. Ich finde, es gilt auch in dieser Situation, so viel wie möglich offenzulegen und dann so viel wie möglich dem Urteil des Publikums zu überlassen. Die Leute sind ja nicht doof. Ich habe deshalb auch ein Problem mit jenem Haltungsjournalismus, den manche fordern. Der setzt voraus, dass das Publikum nicht selbst erkennt, was wichtig ist und was nicht. Vor dreißig Jahren hatte ich einen Kollegen, der sagte, er wolle unbedingt verhindern, dass Berlin Regierungshauptstadt wird. Das könnte ich nicht mit meinen journalistischen Grundsätzen vereinbaren.
Dorn: Der Leiter der Tagesthemen Hajo Friedrichs hat einst die Devise ausgegeben, einen guten Journalisten erkenne man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten. Gilt das also noch?
Frey: Die klassische Funktion der Medien ist die Nachricht: das Publikum über Neuigkeiten zu informieren. Da die Welt so kompliziert geworden ist, geht das aber nicht ohne Einordnung: Was ist wirklich wichtig? Was ist der Kern der Nachricht? Hier liegen die kritischen Punkte, nämlich die Frage, aus welcher Perspektive diese Einordnung geschieht. Ich meine, die Aufgabe des Journalisten ist Kritik – in der Hoffnung, dass durch diese Kritik die Gesellschaft besser wird. Man kann das ganz altmodisch „aufklärerisch“ nennen.
Dorn: Aber ganz so einfach ist es heute ja nun nicht mehr, oder? Medien sind in die Schusslinie geraten. Man kennt die aggressiven Kampfbegriffe: „Fake News“, „Lügenpresse“, „Staatsfunk“. In einer etwas moderateren Tonart erheben Harald Welzer und Richard David Precht in ihrem Buch Die vierte Gewalt gerade ebenfalls den Vorwurf an die Leitmedien, der Meinungskorridor werde zu eng.
Frey: Kompliziert wird es, weil durch die Sozialen Medien jeder Sender und Empfänger sein kann. Nun sagen Sie vielleicht, dieser Journalist ist gekränkt, weil man ihn vom Thron gestoßen hat in seiner Gatekeeper-Funktion. Aber das stimmt nicht, ich bin nicht sauer. Ich halte die Sozialen Medien für eine demokratische Weiterentwicklung. Aber wir müssen einen Umgang mit ihnen finden. Aber, liebe Frau Dorn, dass Sie das Wort „Lügenpresse“ gebraucht haben, lasse ich Ihnen nicht durchgehen. Das begegnet mir nun schon seit Jahren bei jeder Diskussion und es wird leider nie dazu gesagt, dass es der Kampfbegriff der Nazis gegen eine freie und liberale Presse ist. Ich finde, man muss Grenzen ziehen, und hier ist für mich eine Grenze erreicht: Die Medien lügen nicht. Jedenfalls nicht die, die nach sauberen journalistischen Kriterien arbeiten oder zu arbeiten versuchen und deshalb werde ich mir diesen Begriff nicht einmal als Attacke zu eigen machen.
Dorn: Selbstverständlich habe ich mir diesen Begriff nicht zu eigen gemacht, sondern lediglich zitierend gebraucht. Will man die „große Gereiztheit“ beschreiben, die seit einer Weile herrscht – um mich auf einen Buchtitel von Ihnen zu beziehen, Herr Pörksen – oder die Aggressionen, die vielen Medienschaffenden entgegenschlagen, ist es schwierig, diesen Begriff nicht zu zitieren.
Bernhard Pörksen: Herr Frey hat Recht mit seiner Funktionsbeschreibung: Aufklärung, eine gemeinsame Informationsgrundlage schaffen, Kritik und Kontrolle ausüben, Distanz zu den Mächtigen halten. Das sind die Aufgaben, die heute aber unter ganz neuen Bedingungen zu erfüllen sind. Auf der einen Seite erleben wir eine gigantische Öffnung des kommunikativen Raumes. All jene, die man früher „das Publikum“ genannt hätte, sind medienmächtig geworden und können, ihr Smartphone in der Hand, barrierefrei eine Öffentlichkeit erreichen. Neben die vierte Gewalt des klassischen Journalismus ist die fünfte Gewalt der vernetzten Vielen getreten. Damit ist das alte Gatekeeper-Prinzip zu Ende, wonach Journalistinnen und Journalisten am Tor zur öffentlichen Welt mit letzter Autorität entscheiden, was als interessant und relevant gelten darf. Zweite zentrale Veränderung: Wir haben es tatsächlich mit so etwas wie einer Zeitenwende zu tun. Die Großkrisen von der Pandemie, dem Ukrainekrieg bis hin zum drohenden Klimakollaps – all dies stellt aus meiner Sicht auch das zitierte Motto von Hans Joachim Friedrichs vor ganz neue Herausforderungen. Denn wir sind als Journalistinnen und Journalisten, als Bürgerinnen und Bürger dazu aufgefordert, uns zu positionieren. Eine distanzierte, bloß denkfaule Neutralität nach dem Muster des Er-sagt-sie-sagt-Journalismus ist auch kein akzeptabler Weg.
Dorn: Wo liegen denn die konkreten Herausforderungen heute?
Frey: Wir werden beispielsweise oft gefragt, wie wir mit der AfD umgehen. Sie sitzt in den Landtagen, im Bundestag, muss sie also in der Berichterstattung genauso präsent sein wie alle anderen Parteien? Ich sage: Ja. Es gibt durch die Repräsentation einen gewissen Zwang der Präsenz in den Medien. Gleichzeitig hat das ZDF Programmrichtlinien, in denen steht, dass wir den Zusammenhalt der Gesellschaft fördern sollen. Dass wir für Toleranz sorgen sollen. Wie verfährt man da mit Politikern, die mehr oder weniger offen ausländerfeindlich oder antisemitisch agieren? Hier wird es definitiv schwierig.
Dorn: Herr Pörksen, leben wir nicht in einer paradoxen Situation? Einerseits haben sich die Grenzen dessen, was an Infamitäten in die Öffentlichkeit hinausposaunt wird, in der Tat verschoben – siehe AfD. Andererseits werden auch die Grenzen dessen, was als „empörend“ oder „unsäglich“ empfunden wird, zunehmend ausgeweitet, gibt es eine wachsende Unduldsamkeit im Umgang mit non-konformen Meinungen. Da wird bei den einschlägigen Reizthemen kaum noch unterschieden zwischen einem Kritiker, der berechtigten Zweifel artikuliert, und einem verschwörungsfanatischen Wirrkopf.
Pörksen: Ich glaube, dass diese beiden Entwicklungen zusammenhängen. Wir leben kommunikationsanalytisch betrachtet in einer Gesellschaft der Gleichzeitigkeiten: Es gibt entsetzliche Formen der Verpöbelung, Hass, Hetze, Menschenjagd online wie offline. Und wir müssen gegen diese Formen von verbaler Gewalt als offene Gesellschaft und liberale Demokratie mit normativer Entschiedenheit kämpfen. Das ist die eine Dimension. Wir erleben aber manchmal auch hypersensible Formen der Reaktion: Save Spaces, Trigger-Warnungen – hier würde man sich bisweilen sich etwas mehr Gelassenheit, Entspanntheit, Freundlichkeit, Wohlwollen wünschen. Es gibt aber noch eine dritte Kommunikationswelt, an der wir alle auch Anteil haben. Das ist eine Welt des echten Respekts, der authentischen Wertschätzung, des wirklichen Austauschs. So wie heute in Schulen, an Universitäten, in Unternehmen oder Redaktionen miteinander gesprochen wird, auf Augenhöhe, dialogorientiert, im Bemühen um wirklichen Austausch, da verändert sich etwas im positiven Sinn. Medial kommen aber vor allem die Unterwelt der Hasskommunikation und die Extreme von Hypersensibilität vor. Wir leiden also auch unter einer Fixierung auf die Ränder, auf die Extremisten und Schreihälse.
Dorn: Wie entzieht man sich dem? Das kam ja nicht erst mit Social Media in die Welt. Die Zuspitzung, der Hang zum Sensationellen begann schon, als Nachrichten selbst zur Ware wurden. Ist das also den Medien vielleicht immer schon eingeschrieben?
Frey: Medien sind vielfältig und da gehören unterschiedliche redaktionelle Angänge, unterschiedliche Dimensionen der Zuspitzung dazu. Aber ich beobachte, dass gerade in Großbritannien und den USA diese Zuspitzung in einem Maße zugenommen hat, das nicht mehr gesund ist. Dort erleben wir eine Polarisierung der Gesellschaft, einen abgrundtiefen Hass und die Medienlandschaft ist dort mindestens so polarisiert wie die politische Landschaft. In Deutschland hingegen sehe ich die Medien – audiovisuelle wie Printmedien – eher darum bemüht, für die Mitte zu senden und zu schreiben. Und die Mitte reicht weit, über alle demokratischen Parteien. Ein Hinweis zu den Sozialen Medien: Die haben ja den Vorteil, dass man sich von ihnen verabschieden kann. Ich glaube, die meisten Menschen leben viel glücklicher, wenn sie nicht dauernd auf Twitter oder Instagram unterwegs sind. Es gibt zu viele Journalisten, die Twitter lesen und glauben, dass sei die öffentliche Meinung. Dem ist nicht so.
Dorn: Hier sitzt zum Beispiel ein glücklicher Social-Media-Verweigerer: Ich bespiele diese Kanäle nicht, auch weil ich befürchte, dass mich das in Zuspitzungs- und Eskalations- Rhetorik hineintreiben könnte. Gleichzeitig frage ich mich natürlich: Bin ich damit nicht der lächerliche Dinosaurier?
Pörksen: Ich stelle mir diese Frage auch: Wir erleben einen Umbruch von der Mediendemokratie alten Typs, orientiert an etablierten publizistischen Machtzentren, hin zu einer Empörungsdemokratie des digitalen Zeitalters – wo soll man da auf welche Weise mitspielen? Am sinnvollsten ist es vermutlich, in dieser Frage entlang von politischem Engagement und eigener mentaler Gesundheit zu entscheiden – in einem Balanceakt von engagierter Zeitgenossenschaft und abgrenzungsfähiger Selektion. Allerdings ohne ein Digital-Detox-Spießertum, das auf Totalrückzug zielt. Natürlich sehne auch ich mich danach, mit einer Axt irgendwo im Wald ein Häuschen zu bauen …
Dorn: Mit einer Axt?
Pörksen: ...eine Anspielung auf das Werk von Henry Thoreau Walden: oder Leben in den Wäldern, das wohl populärste Medien-Detox-Buch der Welt. Er beschreibt, wie er da alleine sitzt und das Leben Sinn bekommt, weil er dem Quaken der Ochsenfrösche lauscht und dem Spiel der Eichhörnchen zusieht. Aber dann ist er mittags, wenn es keiner gesehen hat, doch nach Hause zu Muttern gegangen und hat Kekse gegessen und Leute getroffen.
Dorn: Scheint also auch kein gangbarer Weg zu sein, der komplette Rückzug von der Welt.
Pörksen: Absolut nicht, nein. Und nur nebenbei: Ich selbst nutze Twitter täglich – als ein wunderbares Recherchetool. Das ist ja nicht nur eine Welt des Hasses und der Pöbelei, sondern auch des gigantischen Informationsreichtums. Wer sich noch an die Stunden am Uni-Kopierer erinnert, in denen man hektisch Bücher kopiert hat, hinter sich eine länger werdende Schlange ungeduldiger Kommilitonen… Ich bin der Überzeugung, dass wir eine laufende Medienrevolution erleben. Überlegen Sie mal, das iPhone wurde erst 2007 vorgestellt. Zum Vergleich: Das Telefon brauchte 75 Jahre, um hundert Millionen Nutzer zu erreichen. WhatsApp brauchte dafür gut zwei Jahre. In der Summe erleben wir, getrieben von medientechnologischer Innovation und Konzentration, eine Öffnung und eine totale Vermachtung, eine Refeudalisierung des kommunikativen Raumes. In diesem Jahr werden erstmals drei Unternehmen mehr als fünfzig Prozent aller Werbeeinnahmen weltweit auf sich vereinigen: Google, Meta und Amazon. In den nächsten zehn Jahren werden in diesem Land viele Lokalzeitungen ihre Redaktionen ausdünnen oder systematisch wegsterben, dies einfach weil sie kein Geschäftsmodell haben und nicht einfach wie die Süddeutsche Zeitung oder die Washington Post auf die Abo-Finanzierung umstellen können. Demokratiepolitisch ist das ein gigantischer Verlust.
Frey: Ich bin entschiedener Anhänger der These, dass die Sozialen Medien ganz anders kontrolliert werden müssten. Wir dürfen ihnen nicht das Narrativ durchgehen lassen, sie seien nur Plattformen und für die Inhalte seien andere zuständig. Denn es ist ja in Wirklichkeit so, dass die Algorithmen die zugespitzten Äußerungen, den gröbsten Hass, die meiste Wut belohnen und nach oben spülen. Wir dürfen nicht naiv sein. Es ist ein Spiel am Rande des Vulkans, an einer Stelle, wo Gesellschaften zerreißen können. Da besteht nach meiner Auffassung dringender Regulierungsbedarf.
Dorn: Aber wer ist die Instanz, die regulierend eingreifen soll und damit entscheidet, wer am Diskurs teilnehmen darf und wer nicht? Herr Pörksen, Sie haben unlängst einen sehr leidenschaftlichen Artikel veröffentlicht, der neue Gatekeeper forderte. Wer sollte in Ihren Augen diese Aufgabe übernehmen?
Pörksen: Die Antwort, die Platon gegeben hätte, wäre: der Philosophenkönig.
Dorn: Ja, Platon hätte vermutlich gesagt: Trottel raus.
Pörksen: Vor einigen Jahren hat ein Gastautor in einer großen, überregionalen Tageszeitung mit großem Ernst die Gnosikratie empfohlen, um das Problem von Fake News in den Griff zu bekommen. Gemeint ist eine Herrschaft der Wissenden. Man müsste, so seine Idee, ehe man die Wahlkabine betritt, erst einen Wissenstest absolvieren, in dem man nachweist, dass man die sauber recherchierten Nachrichten der Stuttgarter Zeitung von Fake-News-Quatsch zu unterscheiden vermag. Und nur wer besteht, darf wählen. Das wäre der Versuch, die Demokratie zu retten, indem man ihre Abschaffung empfiehlt.
Dorn: Das haben Sie mit Ihrer Forderung nach neuen Gatekeepern also offenbar nicht gemeint.
Pörksen: Nein, ich meinte das anders. Es gibt in einer Gesellschaft den durchaus sinnvollen Konsens, der auf Beratschlagung basiert, der ausreichend irrtumsoffen und transparent begründet wird. Helfen Masken in Zeiten einer Pandemie, ja oder nein? Gibt es den menschengemachten Klimawandel? Diese Fragen sind entschieden. Ein solcher Realitäts- und Wertekonsens ist die Basis des Handelns. Und diesen Konsens versucht jemand wie der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon systematisch zu zerstören, indem er permanent Staubwolken der Ungewissheit erzeugt, bis niemand mehr klar erkennen kann, was eigentlich stimmt. Das ist das neue Propaganda-Modell, dem wir im Moment von russischer Seite und von populistischer Seite aus begegnen: die Informationsmenge wird nicht verknappt, sondern systematisch erhöht, um Aufmerksamkeit zu desorientieren, Pseudo-Skepsis zu produzieren.
Frey: Natürlich haben Medien wie Twitter einerseits auch ein riesiges demokratisches Potenzial – auch bei uns, vor allem aber in autoritären Staaten.
Dorn: Was gerade im Iran passiert, wäre undenkbar ohne sie.
Frey: Absolut. Und es ist natürlich kein Zufall, dass in Russland oder China die Mächtigen versuchen, die Sozialen Medien abzuschalten. Sie sind ein Element der Demokratisierung. Aber sie haben andererseits eben auch Schattenseiten.
Dorn: Was also tun?
Frey: In Amerika hat man ja durchaus Erfahrung damit, Monopole zu zerschlagen, man denke an historische Beispiele wie die Telefonie, die Elektrizität, die Eisenbahn. Im Bereich Social Media sind die gigantischsten Monopole weltweit entstanden. Ich kann nur hoffen, dass Europa eine Form finden wird, zu deren Zerschlagung beizutragen.
Dorn: Ein großes Wort: Peter Frey fordert Zerschlagung der Internetkonzerne.
Pörksen: Ich glaube, es gibt keine Sofort- und Schnell-Lösung. In den letzten beiden Jahren war ich viel im Silicon Valley unterwegs, dort setzt man aus Angst vor Zerschlagung jetzt enthusiastischer als früher auf Regulierung. Ich habe mich auch recht konkret mit den ersten Onlinegemeinschaften der Welt beschäftigt. Das Interessante ist, dass diese Gemeinschaften erstens sehr viel kleiner waren. Größe ist also ein Faktor: In dem Moment, indem es unüberschaubar wird, lässt sich das Ganze nicht mehr seriös moderieren. Ein weiterer Punkt: In den ersten Onlinegemeinschaften der Welt hat man bezahlt, es gab ein Abo-Modell. Das ändert – wenn man dann noch die intensive Moderation hinzunimmt – tatsächlich alles. Das Problem ist doch, dass unsere riesenhaften Diskursräume im Netz nach den Prinzipien der Werbeindustrie organsiert werden. Man späht Nutzer aus, verwandelt sie in ein Objekt der Datenspionage – das ist das gegenwärtige Modell. Meine Hoffnung wäre allerdings, dass wir gerade eine Art digitale Pubertät erleben, eine Zwischenphase im Prozess einer laufenden Medienrevolution. Wir sind nun selbst medienmächtig, aber noch nicht medienmündig. Und es ist laut und gibt viel überschießende Aggression. Und ich vermute oder ich hoffe vielmehr, dass wir uns durch eine Bildungsanstrengung in eine Form der Abkühlung und eine Medienmündigkeit auf der Höhe der Zeit hineinarbeiten können.
Dorn: Die Bildung soll es also wie so oft richten?
Pörksen: Sehen Sie, auf den Versuch kommt es an. Die Idee des vermurksten Digitalpaktes der ehemaligen Bundesregierung war, man könnte einfach ein paar Milliarden Euro an einem frühen Morgen über den Schulgebäuden der Republik abwerfen und dann würde sich irgendetwas ändern. Aber wir erleben eine Revolution, vergleichbar mit der Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks mit beweglichen Lettern, und glauben im Ernst, durch ein paar Medienkompetenz-Spielereien in den Schulen darauf reagieren zu können. Was es stattdessen bräuchte, wäre ein eigenes Schulfach, das die Medien- und die Quellenanalyse und das Ringen um das beste Argument einübt, also letztlich journalistisches Bewusstsein trainiert.
Dorn: Herr Frey, wie halten es die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem Bildungsauftrag? Stehen sie unverändert dazu? Oder spüren auch sie den Druck, immer schneller und lauter zu werden? Mir fällt der Erfinder des Literarischen Quartetts ein, Marcel Reich-Ranicki. Der meinte schon 1988, in der Sendung müsse eben ein gewisses Maß an Radau und Klamauk herrschen, damit sich die Leute für das interessieren, was ihm wirklich am Herzen liegt, die Literatur. Er war ein Meister der Zuspitzung – im Sinne der guten Sache.
Frey: Ich finde es interessant, wie sich bestimmte Wahrnehmungen einnisten. Zum Beispiel, alles werde kürzer und schriller. Dabei hat das heute journal seit mindestens dreißig, vielleicht vierzig Jahren sein Konzept im Grundsatz nicht verändert: 30 Minuten, fünf bis sechs Beiträge, jeweils um die drei Minuten lang, gelegentlich ein Interview, ein Nachrichtenüberblick. Das ist alles gleichgeblieben. Und der Erfolg wurde in den vergangenen Jahren eigentlich eher größer als kleiner.
Dorn: Ist das nicht eine ziemliche Ausnahme?
Frey: Die Tagesschau ist ebenfalls ziemlich „old fashioned". Natürlich ändert sich die Technik, es gibt neue Moderatorenpersönlichkeiten, in denen vielleicht auch ein neuer Reiz liegt. Man versucht schon, den Wandel der Gesellschaft zu spiegeln in den Darbietungsformen. Aber der journalistische Kern ist eigentlich nicht berührt. Mein Verständnis war immer, dass wir den Bürgerinnen und Bürgern die Informationen liefern, die sie brauchen, um kompetent mitreden zu können.
Pörksen: Heute kommt hinzu, dass wir als Publikum uns die Fragen stellen müssen, die früher nur Ihnen, Herr Frey, und Ihren Kolleginnen und Kollegen vorbehalten waren: Was ist glaubwürdige, relevante oder überhaupt veröffentlichungsreife Information? Was verdient es, verbreitet zu werden? In diesem Sinne brauchen auch wir als Nutzerinnen und Nutzer eine Verständigung darüber, an welchen Leitlinien wir unsere eigene Ethik ausrichten beim Betreten dieses im Letzten dann ja doch fantastischen Raumes der neuen Öffentlichkeiten.
Dorn: Die bereits genannten Autoren Richard David Precht und Harald Welzer berufen sich in ihrem Buch unter anderem auf Uwe Krüger, der bereits 2016 ein Buch veröffentlicht hat mit dem Titel „Mainstream – Warum wir den Medien nicht mehr trauen“. Wir erinnern uns: 2014 hat Putin die Krim annektiert. Krüger kommt beim Blick auf die Berichterstattung der öffentlich-rechtlichen Medien zu dem Ergebnis, es sei einseitig berichtet worden. Der politisch links zu verortende Medienbeobachter Stefan Niggemeier kam übrigens zu einem ähnlichen Ergebnis. Ich glaube, hier liegt ein Glutpunkt der Debatte. Ich erlebe es in meinem eigenen Umfeld: Da gibt es Leute, die sagen, in den klassischen Medien wird mir zu einseitig berichtet bei einem so heiklen Thema wie dem Ukraine-Krieg. Und die wandern dann in die Sozialen Medien ab, wo sie völlig ungefiltertes Zeug, zum Teil pure russische Propaganda, serviert bekommen und irgendwann auch glauben. Liegt in einseitiger Berichterstattung nicht eine große Gefahr?
Frey: Die Annexion der Krim war ein Angriff auf die staatliche Souveränität der Ukraine. Das ist ein Sachverhalt und keine Meinung. Nichts, was man so oder so sehen kann. Wenn die Medien an dieser Stelle eindeutig berichtet haben, finde ich, haben sie es richtiggemacht. Andererseits gilt auch der klassische Satz über Kriegsberichterstattung: Die Wahrheit bleibt als Erstes auf der Strecke. Diese Gefahr besteht immer, sobald eine Kriegssituation mit entsprechenden Kontrollen des Zugangs vorliegt. Wir sehen in unserer täglichen Arbeit in der Ukraine, dass man die Geschehnisse vor Ort nur verstehen kann, wenn man eigene Reporter dort hat. Russland gestattet aber keine eigenen Reporter, nur organisierte Pressereisen. Man kann sich dafür bewerben und wird dann eingeladen. Unsere Reporter sind zwei oder drei Mal mitgereist. Wir haben dann im Beitrag offengelegt, unter welchen Bedingungen diese Bilder entstanden sind. Genauso legen wir offen, wenn unsere Reporter an einer Reise teilgenommen haben, die vom ukrainischen Militär organisiert wurde. Man muss also einräumen, dass in einer Kriegssituation das Erfassen des gesamten Spektrums eines Ereignisses wahnsinnig schwierig ist. Das war im Vietnam-Krieg so. Es war im Irak-Krieg so. Es werden auch in der Ukraine bestimmte Dinge ans Licht kommen, die wir jetzt noch nicht ahnen.
Dorn: Müssten Medien also nicht viel häufiger auch den Mut haben, über ihr Nichtwissen zu berichten?
Pörksen: Unbedingt. Dieses Sichtbarmachen von Nichtwissen und Ungewissheit scheint mir auf dem Weg zu mehr Medienmündigkeit zentral, denn es gilt, was Peter Glaser, einer der Netzanalytiker der ersten Stunde, einmal auf wunderbar aphoristische Weise formuliert hat: Information ist schnell, Wahrheit braucht Zeit. Mit Blick auf Harald Welzer, den ich persönlich schätze, und Richard David Precht muss man allerdings fragen: Was ist das für eine Art der Publikation? Empirische Analyse? Streitschrift? Polemik? Die Autoren sagen, die detaillierten Untersuchungen zur Ausgewogenheit oder Unausgewogenheit in der Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine würden noch nachgeliefert. Aber zuerst werden Behauptungen aufgestellt, die Belege sollen dann später folgen. Ein schwieriges, unnötig angreifbares Erkenntnismodell, denke ich. Dabei ist Medienkritik natürlich notwendig. Ich selbst werde allerdings immer etwas unruhig, wenn die Verdammung des Journalismus zu großformatig wird, wenn sie zu pauschal daherkommt. Ich arbeite lieber am konkreten Fall.
Dorn: Dann nehmen wir als konkretes Beispiel Svenja Flaßpöhler. Im vergangenen Winter warnte sie in einer Talkshow vor einer Corona-Impfpflicht und der Kriminalisierung von Ungeimpften, eben weil sich schon damals abzeichnete, dass der Impfstoff womöglich doch „nur“ vor schweren Verläufen, nicht aber vor Ansteckung mit und Weitergabe des Virus schützt. Flaßpöhler wurde wochenlang durch die Zeitungen getrieben als jemand, der sich mit dieser Position in dubioseste Gefilde begeben habe. Manche fragten sogar: Was hat eine solche „Schwurblerin“ überhaupt im öffentlichen Diskurs zu suchen? Da läuft doch etwas massiv schief, wenn Personen auf diese Weise mundtot gemacht werden sollen.
Pörksen: Man sieht hier: Ein Qualitätskriterium für inhaltsstarke Debatten ist doch, zwischen der Position, die man aus welchen Gründen auch immer kritikwürdig findet, und der Person zu unterscheiden, die grundsätzlich Respekt verdient. Die Attacke auf den „ganzen“ Menschen auszuweiten, seinen Charakter zu verhandeln, ihn prinzipiell in Frage zu stellen, ist der sicherste Weg, Diskurse zu verhärten, Fronten zu bilden.
Frey: Ich hätte auch noch einen konkreten Fall beizusteuern, der die Beschleunigung der Berichterstattung und ihre Gefahren zeigt. Der schlimmste Tag für mich als Chefredakteur war der 22. Juli 2016. Es war der Abend des Angriffs, wie wir im Nachhinein wissen, eines einzelnen Täters im Münchner Olympia-Einkaufszentrum. Eine Serie von Schüssen, Ermordungen junger Leute, die meisten mit Migrationshintergrund. Es war ein Jahr nach der Flüchtlingskrise. Vorher hatte es eine Reihe von Messerattentaten in Zügen gegeben, das Land war aufgeraut, nervös, gereizt. Als an jenem Abend gegen 18.30 Uhr die ersten Schlagzeilen aus München kamen, hatte ich zu entscheiden, wie wir damit auf Sendung gehen. Wir haben also unsere Nachrichtensendung verlängert. Danach herrschte nach wie vor Unklarheit, was da eigentlich gerade passierte. Aber wir haben uns – bedauerlicherweise – dem Konkurrenzdruck gebeugt und weitergesendet. Wir haben auf diese Weise mehr Fragen als Antworten verbreitet, haben zur Vernebelung des Bildes beigetragen und erst am nächsten oder übernächsten Tag gewusst, was wirklich passiert war: Der Amoklauf eines wahrscheinlich geistesgestörten in Deutschland aufgewachsenen jungen Mannes.
Dorn: Die Frage ist: Kann man daraus etwas lernen oder nur halb resignativ feststellen, dass man sich diesen Dynamiken der Beschleunigung nicht entziehen kann?
Frey: Ich kann nur sagen, ich hätte kräftiger sein müssen. Ich hätte sagen müssen, wir machen die Sondersendung nicht, solange wir nichts wissen. Ich glaube übrigens, wenn man heute eine Umfrage machen würde: Was ist am 22. Juli 2016 in München passiert? Achtzig Prozent der Deutschen würden sagen, da war irgendetwas mit Flüchtlingen. Das zeigt die fatalen Folgen medialer Geschwindigkeit.
Dorn: Das ist in der Tat ein schockierendes Beispiel. Streng genommen läuft es auf das hinaus, was für alle redlichen Medienmacher maximal niederschmetternd ist: Geschwindigkeit frisst Wahrheit.
Frey: Das ist es. Und wenn ich an die Geiselnahme von Gladbeck, damals im Jahr 1988, erinnern darf: Damals hatten wir uns geschworen, niemals wieder ein Verbrechen live zu übertragen. Aber wir haben es wieder getan an diesem Abend in München.
Dorn: Herr Pörksen, Sie sprachen vorhin von Ihrer Hoffnung auf eine Bildungsanstrengung. Bleiben Sie angesichts dessen bei dieser zuversichtlichen Zukunftsvision?
Pörksen: Unbedingt, ja. Meine Vision ist die einer redaktionellen Gesellschaft. Der Kerngedanke: Die Prinzipien des guten Journalismus sollten zu einem Element der Allgemeinbildung werden. Sie lauten beispielsweise: Prüfe erst, publiziere später, höre auch die andere Seite, mache ein Ereignis nicht größer als es ist, orientiere dich an Relevanz und Proportionalität. Ich bin im Übrigen absolut für die Hoffnung und der Auffassung, dass ein grundsätzlicher Aufklärungsoptimismus in einer liberalen Demokratie tatsächlich ohne Alternative ist. Und selbst wenn es schief geht, der aggressive Populismus überhandnimmt und der Klimakollaps nicht mehr abwendbar ist, so hat der Hoffende am Ende zumindest das schönere, sinnvollere Leben gehabt. •
Thea Dorn ist Schriftstellerin, Philosophin und Autorin preisgekrönter Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. Außerdem ist sie leitende Moderatorin des „Literarischen Quartetts“. Ihr jüngstes Buch: „Trost. Briefe an Max“ ist 2021 bei Penguin erschienen.
Peter Frey ist Journalist und Fernsehmoderator und war von April 2010 bis September 2022 Chefredakteur des ZDF.
Bernhard Pörksen ist Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt veröffentlichte er „Die Kunst des Miteinander-Redens (zus. m. Friedemann Schulz von Thun, Hanser, 2020).
Seit 2018 veranstaltet die Wüstenrot Stiftung gemeinsam mit Thea Dorn die Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“. Zu den öffentlichen Gesprächsabenden im Theaterhaus in Stuttgart, werden in der Regel zwei Gästen aus Gesellschaft, Politik oder Wissenschaft eingeladen, um aktuelle Themen zu erörtern. Die Wüstenrot Stiftung arbeitet seit 1990 ausschließlich und unmittelbar gemeinnützig in den Bereichen Denkmalpflege, Wissenschaft, Forschung, Bildung, Kunst und Kultur. Als operativ tätige Stiftung initiiert, konzipiert und realisiert sie selbst Projekt und fördert darüber hinaus die Umsetzung herausragender Ideen und Projekte anderer Institutionen durch finanzielle Zuwendungen. Weitere Informationen zur Reihe „Zukunftsfragen der Gesellschaft“ finden sich unter diesem Link.