Wille und Wahn
Victor Tretter wurde gegen seinen Willen in der Psychiatrie festgehalten. Zu Unrecht, wie er im Nachhinein selbst sagt. Allein in Deutschland gibt es jährlich 120 000 Zwangseinweisungen: Wo genau endet also unsere Autonomie? Eine Reportage von Philipp Hübl.
Es war ein warmer, sonniger Tag, an dem sich für Victor Tretter (Name von der Redaktion geändert) alles ändern sollte. Der Tag seiner psychischen Krise. Kurz nach dem Abitur im Frühling 2001 läuft Tretter voller Energie durch Wuppertal. Wahllos spricht er Menschen an, will mit jedem reden, lässt nicht locker, besteht auf Antworten. Einige Menschen fühlen sich belästigt, manche sagen ihm, er soll verschwinden. Zuvor hatte Tretter monatelang für die Prüfungen gelernt, oft bis spät in die Nacht. Der Ehrgeiz zahlt sich aus: auf dem Zeugnis steht eine Zwei vor dem Komma. Er geht mit den Klassenkameraden feiern, die Anspannung löst sich. Doch in die Euphorie mischt sich Zweifel: Wie soll das Leben weitergehen? Seine Eltern haben ihn zu Hause rausgeschmissen, als er volljährig wurde. Schon davor war das Verhältnis zerrüttet. Richtig gesprochen haben sie seit Jahren nicht. In seiner Wohnung fühlt sich Tretter nicht wohl, nachdem er einem Bekannten erlaubt hat, dort Möbel zwischenzulagern. Er ist viel unterwegs, schläft wenig. Aufgedreht und fahrig vergisst er das Geschenk eines Freundes in einer Bäckerei, ein Holzkreuz, das ihm Glück bringen soll.
Seine Tour endet in einem Copyshop, in dem er während der Schulzeit gejobbt hat. Er spricht mit seinem alten Arbeitskollegen, übersteigert sich. Als der Kollege den Laden abschließen will, weigert sich Tretter zu gehen. Der Kollege sagt ihm: „Geh nach Hause und schlaf dich mal aus.“ Als Tretter den Laden nicht verlässt, greift der Kollege zum Telefon und ruft die Polizei. „Was danach passierte, war wie in einem Horrorfilm“, so erinnert sich Victor Tretter heute. Überlegt und besonnen erzählt er diesen Film, schildert dessen Szenarien bis ins Detail. Zwischendurch kommen ehemalige Patienten in die Küche, wenn Tretter sie begrüßt, hört man seinen rheinischen Zungenschlag deutlich. Es ist ein Apriltag im Jahr 2018, vielleicht genauso warm und sonnig wie damals. Draußen auf den Straßen von Köln-Mülheim blühen die Platanen. Der 37-Jährige sitzt in der Küche der Anlaufstelle Psychiatrie-Erfahrener. Er trägt ein schwarzes Hemd zur schwarzen Jeans. Hin und wieder blitzen Socken mit bunten Punkten unter der Hose hervor.
Tretter leitet die Anlaufstelle. Wer in einer akuten Krise ist, aber nicht in die Psychiatrie will, findet hier Hilfe. Es seien Gespräche unter Gleichen, ohne Hierarchie und Autorität, sagt Tretter. Hätte er selbst vor 17 Jahren eine solche Anlaufstelle gehabt, davon ist er überzeugt, wäre sein Leben anders verlaufen. Ruhig fährt der dunkelhaarige Mann fort. Als die Beamten im Kopierladen eintreffen, zeigt er sich kooperativ. Er wehrt sich nicht, als sie einen Krankenwagen rufen, der ihn in die Psychiatrie bringt. Eine halbe Ewigkeit muss er im Vorzimmer warten, bis er der Ärztin vorgeführt wird, rechts und links von ihm positionieren sich die Pfleger. Sie fragt seine Daten ab: Name, Alter, Adresse. Tretter muss sich vor den Pflegern entkleiden. Er lässt die Untersuchungen über sich ergehen.
Rechtslage ist komplex
Doch dann wird es ihm zu viel. Er will nach Hause. Man lässt ihn nicht. Er wird wütend, zertritt einen Plastikbecher. Die Ärztin fordert ihn auf, sich auf die Liege zu legen. In diesem Moment packen die Pfleger zu. Sie fesseln ihn und geben ihm eine Spritze. Er verliert das Bewusstsein. Als Tretter erwacht, findet er sich in einem Krankenbett wieder, an Armen und Beinen festgebunden, angeschlossen an einen Tropf. Der Raum ist leer. Er schreit. Niemand antwortet. Er hat Todesangst. Zwangsmaßnahmen sind in deutschen Psychiatrien keine Einzelfälle. Jedes Jahr gibt es etwa 120 000 Zwangseinweisungen. Zudem wurden in den Jahren 2014 und 2015 jeweils über 5000 Zwangsmedikationen ausgeführt. Zahlen zu Fixierungen liegen nur für Baden-Württemberg vor. Rechnet man hoch, kommt man auf über 200 000 Fixierungen für das Jahr 2016.
Die deutsche Rechtslage ist komplex. Weist ein Psychiater in seinem Gutachten nach, dass aufgrund einer psychischen Krankheit eine Eigen- oder Fremdgefährdung besteht, können Richter eine Zwangseinweisung anordnen. Eine Zwangsbehandlung innerhalb der Klinik wird nur genehmigt, wenn der Patient seinen Willen aufgrund der Erkrankung nicht bilden kann und ihm ohne Behandlung erheblicher gesundheitlicher Schaden droht. Fehldiagnosen können schlimme Folgen haben, wie der prominente Fall Gustl Mollath zeigt. Im Jahr 2006 wurde Mollath mit der Diagnose „paranoide Wahnvorstellung“ in den psychiatrischen Maßregelvollzug eingewiesen. Doch was die Psychiater für Paranoia hielten, entsprach im Kern der Wahrheit: Mollaths Frau war tatsächlich in eine Schwarzgeldaffäre verwickelt. Ein Gericht sprach Mollath 2014 frei. Mehr als sieben Jahre hat man ihn zu Unrecht seiner Freiheit beraubt.
Wenn hingegen Ärzte psychische Erkrankungen nicht erkennen oder unterschätzen, können die Folgen sogar tödlich sein, nicht nur für die Kranken selbst. Der Germanwings-Pilot, der 2011 seine Maschine zum Absturz brachte und 150 Menschen mit in den Tod riss, war wegen Suizidgefahr in Therapie, wurde aber nicht eingewiesen. Auch der Amokläufer von Winnenden, der 2009 erst 15 Menschen und dann sich selbst erschoss, war in klinischer Behandlung, ohne dass die Psychiater das Ausmaß seiner Gewaltfantasien erkannt haben.
Disziplinierung der Körper
Tretter hingegen ist sich sicher: Er war ein Abiturient in einer Sinnkrise, „neben der Spur“, aber kein Fall für die Psychiatrie. Natürlich lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, ob er damals von außen bedrohlicher und aggressiver gewirkt hat, als es ihm erschien. Selbstund Fremdwahrnehmung gehen oft weit auseinander, gerade wenn sich jemand in einem emotional aufgewühlten Zustand befindet. Aber was, wenn Tretter tatsächlich aufgrund einer fatalen Fehleinschätzung festgehalten und behandelt wurde? Sein Weg zurück in die Gesellschaft jedenfalls ist lang. Er dauert sieben Jahre.
Ein Fall wie der von Tretter wirft philosophische Fragen auf: Wo liegt die Grenze zwischen Normalität und Krankheit? Worin besteht unsere Autonomie? Und wie paternalistisch darf ein Staat sein, wie sehr zum „Wohl“ seiner Bürger in ihre Grundrechte eingreifen? Wer Victor Tretter zuhört, wird sein Verhalten vielleicht spontan als „Manie“ kategorisieren. Die Ärztin habe ihm bei der Einweisung keine Diagnose genannt, er selbst will keine Namenstafel an seine Krise heften. Für ihn wäre das eine, wie er es nennt, „Selbst-Stigmatisierung“, zumal er grundsätzlich infrage stellt, dass es klar identifizierbare psychische Krankheiten gibt. Mit dieser Skepsis steht er nicht allein da. Schon der historische Blick zeigt: Die Geschichte der Psychiatrie ist auch eine Geschichte der erfundenen Krankheiten. Und der Grausamkeiten. Um 1900 wurden Frauen in die Psychiatrie eingewiesen, wenn der Familie nicht gefiel, dass sie unbedingt studieren wollten. Psychiater, allesamt Männer, haben Frauen, die nicht parierten, eine „Hysterie“ angedichtet. Homosexualität zählte lange Zeit als Geisteskrankheit. Die Herausgeber des US-amerikanischen Psychiatrie-Handbuchs DSM haben sie erst 1974 von der Liste gestrichen.
Was als Krankheit galt, spiegelte oft nur die engstirnigen Moralvorstellungen der Epoche wider. Darauf hat der französische Ideenhistoriker Michel Foucault in seinem Buch Wahnsinn und Gesellschaft aus dem Jahr 1961 hingewiesen. Wenn man Schulen, Gefängnisse und Krankenhäuser vergleicht, so Foucault, fällt auf, dass jede Gesellschaft ihre Randfiguren gleich behandelt. Diejenigen, die nicht „normal“ sind, werden ausgesondert und beherrscht, indem man ihre Körper kontrolliert.
Stimmen im Kopf
So waren psychiatrische Kliniken über Jahrhunderte Disziplinierungsmaschinen, in denen es nicht nur darum ging zu heilen, sondern auch darum, die Insassen den Vorstellungen bürgerlicher Moral zu unterwerfen. Im Einzelfall hieß das oft, sie ruhig zu stellen. Foucaults Schriften hatten Einfluss auf die Antipsychiatrie-Bewegung, die Ende der 1960er-Jahre aufkam. Besonders die Medien haben geholfen, Missstände aufzudecken. Im Jahr 1975 kam der Film „Einer flog über das Kuckucksnest“ von Milos Forman in die Kinos und löste eine Reformwelle in der US-Psychiatrie aus. In Deutschland wurde zwei Jahre später, im Jahr 1977, eine Psychiatrie-Enquete gegründet, die Kliniken begutachtete. Im Abschlussbericht ist die Rede von „elenden“ und „menschenunwürdigen“ Zuständen. Reformen in ganz Europa verbesserten die Lage zwar. Doch weiß man inzwischen wirklich, was eine psychische Krankheit ist?
Auf dem Gelände der Charité in Berlin steht ein Backsteingebäude mit der Inschrift „Psychiatrische und Nervenklinik“ in erhabenen Serifen. Durch hohe Gänge mit Kreuzgewölbe gelangt man in den Hinterbau. Im ersten Stock befindet sich das Büro von Andreas Heinz. Der 58-jährige Professor ist Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Außerdem ist er Philosoph. Seine Doktorarbeit hat er über den Begriff der Krankheit geschrieben. Heinz spricht schnell. Er ist jemand, der kritische Positionen zur Psychiatrie ernst nimmt und seine eigene Einschätzung präzise ausdrückt.
Krankheit muss man Heinz zufolge als ein komplexes Phänomen ansehen. Er erklärt das anhand eines Falles. „Einer meiner Patienten hat an der Börse spekuliert. Die Stimmen in seinem Kopf haben ihm immer die richtigen Tipps gegeben.“ Als Heinz und Kollegen ihm Medikamente geben wollten, sagte der Patient nur: „Lasst mir meine Stimmen in Ruh!“ Heinz hat ihn nicht behandelt. Er begründet das so: „Der Patient hatte keine klinisch relevante Erkrankung, denn er hat weder subjektiv noch sozial gelitten.“ Entsprechend unterscheidet Heinz drei Aspekte von Krankheit. Erstens ein körperliches Krankheitszeichen als Kern der Krankheit („disease“), wie etwa ein Tumor in der Lunge. Zweitens das subjektive Gefühl des Leidens („illness“). Der dritte Aspekt ist eine Einschränkung des sozialen Lebens („sickness“). Das kann schon der Umstand sein, dass man mit einer Grippe das Bett nicht verlassen kann. Bei psychischen Krankheiten verhält es sich Heinz zufolge genauso: Der körperliche Aspekt ist notwendig, aber nicht hinreichend für eine klinisch relevante Erkrankung. Er ist notwendig, weil sonst auch Einsamkeit als Krankheit gelten würde. Er ist nicht hinreichend, weil man sonst die Menschen überpathologisiert.
Hilfe oder Willensbruch?
Die Abwägung zwischen der Autonomie des Patienten und der Hilfspflicht des Arztes sei schwer, sagt Heinz. Schlage eine Zwangsbehandlung gut an, seien die Patienten danach eher dankbar. Wirkt sie nicht, seien sie verständlicherweise kritisch eingestellt. Die Reaktionen seien in etwa gleich verteilt. Heinz sagt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Autonomie, das Recht, eine Behandlung abzulehnen. Gleichzeitig hat jeder aber auch das Recht, mindestens einmal mit Medikamenten aus einer Krise herausgeführt zu werden, wenn er die Eigengefährdung krankheitsbedingt nicht sehen kann und es aus eigener Kraft nicht schafft.“ An ein Recht auf Ablehnung kann sich Tretter nicht erinnern. In der Klinik wird er tagelang auf einer Liege fixiert. Selbst zum Toilettengang wird er nicht abgebunden. Er nässt sich ein. Man legt ihm einen Katheter. Er bekommt nichts zu essen oder zu trinken. Niemand erklärt ihm die Lage. Sein Schreien nützt ihm nichts. Die Pfleger spritzen ihn ruhig. Irgendwann bietet ein Zivildienstleistender an, ihn loszubinden, wenn er sich nicht mehr wehrt. Tretter spielt mit. Die Dosierung seiner Medikamente ist so hoch, dass er sabbernd und zitternd über den Flur läuft.
Auf solche Symptome angesprochen, räumt Andreas Heinz ein, dass die Psychopharmaka früher zu hoch dosiert waren und auf Dauer tatsächlich schädlich sein können. „Wenn ich selbst unter einer Psychose leiden würde, würde ich die Medikamente so schnell wie möglich ausschleichen.“ Außerdem sollten die Medikamente immer mit einer Psychotherapie flankiert werden.Radikale Psychiatrie-Gegner schlagen vor, den Begriff der psychischen Krankheit ganz aufzugeben und auf Psychopharmaka zu verzichten. Heinz hält die Forderung nicht nur für naiv, sondern für extrem gefährlich. Sie entspringe zwar einem antiautoritären Impuls, das Individuum zu schützen, habe aber langfristig einen fatalen neoliberalen Effekt. In den USA habe er gesehen, was passiert, wenn man den Sozialstaat auf ein Minimum zurückfährt. Die meisten psychisch Kranken säßen dort in Gefängnissen, ohne Aussicht auf Hilfe.
Nach fünf Monaten in der geschlossenen Abteilung darf Tretter auf die offene Station. Inzwischen glaubt er den Ärzten, dass mit ihm etwas nicht stimmt. Er selbst nennt das den „inneren Willensbruch“. Seine Lage und die Medikamente haben seine Wünsche und Ziele verändert. Auf der offenen Station bleibt er noch drei Monate. Warum, kann er aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehen, denn die begleitende Gesprächstherapie findet er „sinnlos“. Zurück in seiner Wohnung, setzt er die Medikamente nicht ab, obwohl sie seinen Stoffwechsel verändern. Innerhalb eines Jahres nimmt er 37 Kilo zu. Tretter kann nicht mehr klar denken. Seine Zunge ist taub, seine Augen zu träge, um Zeitung zu lesen, seine Aufmerksamkeit so schwach, dass er nicht einmal fernsehen kann.
Positive Freiheit
Tretter sagt heute: „Es war, als würde man morgens mit einem Kater aufwachen, nur hielt der Tage, Wochen, Monate an.“ Auf die Straße traut er sich in seinem Zustand nicht. Die alten Freunde haben sich von ihm losgesagt. Er ist so „zugedröhnt“, dass er es nicht einmal bemerkt, als die nächste Krise herannaht. Legt man Heinz’ Krankheitsdefinition an Tretters Schilderung an, könnte man sagen: Die Medikamente haben ihn krank gemacht. Sie haben seinen Stoffwechsel verändert, seine soziale Teilhabe vermindert und subjektives Leiden verursacht.
„In mir waren keine Gefühle mehr, nur noch ein bodenloses Nichts. Ich wollte nur noch einschlafen und tot sein, mich auf die Erde legen und sterben.“ Tretter wird leiser, als er davon erzählt. Ein Jahr lang plagt ihn diese Todessehnsucht. Umgebracht hat er sich nur deshalb nicht, weil er sich nicht getraut hat. Tretter sagt, die Tabletten hätten ihm „die Selbststeuerung genommen“, anstatt ihm die Freiheit zurückzugeben. Er kann keine Haltung zu seinen Wünschen einnehmen, weil sie verschwunden sind. Er kennt sich selbst nicht mehr.
Bei psychischen Krankheiten ist die Freiheit gleich dreifach eingeschränkt. Die Krankheit nimmt den Patienten die Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn der Staat zwangsbehandelt, nimmt er den Patienten die Freiheit, über ihren Körper selbst zu entscheiden. Und starke Psychopharmaka nehmen den Patienten die Freiheit, indem sie ihre Wünsche und Gedanken verändern oder auslöschen. Dabei sind verschiedene Formen von Freiheit im Spiel. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz hat festgestellt, dass „Freiheit“ mindestens zwei Lesarten hat. Negative Freiheit ist Freiheit von Zwang, zum Beispiel von dem Zwang des Staates. Positive Freiheit ist die Fähigkeit zu wählen, also die Freiheit zur Entfaltung der eigenen Wünsche und Ziele. Zudem kann sich Freiheit auf den Willen oder die Handlungen beziehen. Mit „positiver Freiheit“ ist meist die Willensfreiheit gemeint, die manchmal auch „mentale Autonomie“ heißt: Diese Fähigkeit benötigen wir, um über uns selbst nachzudenken, also unsere spontanen Impulse zu bewerten und notfalls zu unterdrücken.
Was ist Autonomie?
Der amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat darauf aufmerksam gemacht, dass Vernunft und Freiheit unabhängig voneinander sind. Ein Drogensüchtiger beispielsweise kann intelligent sein. Er kann zum Beispiel zweckrational Geld verdienen, um sich Heroin zu beschaffen. Ihm fehlt aber die Fähigkeit, zu sich selbst zu sagen: „Ich will meiner Sucht nicht nachgehen.“ Frankfurt drückt das so aus: Der Süchtige kann diesen „Wunsch zweiter Stufe“ nicht zu seinem Willen machen, weil seine Sucht, also der „Wunsch erster Stufe“, sein Handeln bestimmt. Man kann Frankfurts Idee noch allgemeiner formulieren: Autonomie heißt, dass man eine Distanz zu sich selbst einnehmen kann. Das schließt auch ein, sich bewusst gegen ein gefährliches Verhalten zu entscheiden.Dennoch scheinen wir in der Zuschreibung von Autonomie immer noch unser kulturell geformtes Bild von Normalität zu unterstellen. Extremsportler beispielsweise gefährden sich massiv selbst, gelten aber nicht als krank. Autobahnraser gefährden andere, werden aber als autonom angesehen.
So ist es alles andere als selbstverständlich, dass staatlicher Paternalismus in solchen Fällen nicht in Erwägung gezogen wird, während er bei psychischen Krankheiten als angemessen gilt. Tretter bemängelt, dass Alternativen zur Zwangsbehandlung zu selten erwogen werden. Als Ausnahme nennt er Martin Zinkler, der als Klinikchef im badenwürttembergischen Heidenheim schon seit sieben Jahren mit Erfolg ganz auf medikamentöse Zwangsbehandlungen verzichtet.
Noch radikaler ist die Klinik im nordrhein-westfälischen Herne, die seit 20 Jahren nur bei einem Prozent ihrer Patienten Zwangsmaßnahmen anwendet. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg sind es im Durchschnitt sieben Prozent, in einzelnen Kliniken sogar 17. Diese Schwankungen können nicht an den Patienten, sondern müssen im System liegen. Die Ausstattung eines Hauses spielt dabei eine große Rolle. Für eine einfühlsame Betreuung braucht man viel Zeit und viele Arbeitskräfte. Personalmangel führt oft dazu, dass Pfleger sich nicht anders zu helfen wissen, als Patienten in einer akuten Krise ruhig zu stellen.
Die Rückkehr
Tretter findet irgendwann den Weg zurück in die Gesellschaft. Er wollte sich nicht im „bequemen Elend einrichten“, wie er heute sagt: über die Ärzte, die Klinik, die Nebenwirkungen jammern, aber nichts dagegen tun. Einen Behindertenausweis lehnt er ab. Er will sich, so formuliert er es, vom Staat nicht zum „Opfer machen lassen“. Stattdessen nimmt er sein Leben selbst in die Hand. Ein Jahr nach seiner Todessehnsucht kann ihm in der Reha zum ersten Mal eine Therapeutin helfen. Langsam kommt die Freude zurück. Im Bus trifft er eine alte Schulfreundin wieder. Sie beginnen, sich Briefe zu schreiben. Zwei Rückschläge erleidet Tretter dennoch. Er lässt sich beide Male „halb freiwillig“ einweisen, bis er sich sagt: „nie wieder“.
Seine Ausbildung zum Bürokaufmann absolviert er in zwei Jahren. Seit 2008 ist er Angestellter des Bundesverbands Psychiatrie-Erfahrener e.V., seit 2012 im Vorstand. Mit seinen Kollegen hat er darauf hingewirkt, dass eine Aufsichtspflicht für Zwangsfixierung im Landesgesetz von NRW verankert wurde. Bis dahin lagen Patienten allein in Räumen, was teils zu sexuellen Übergriffen durch andere Insassen geführt haben soll.
Inzwischen ist Victor Tretter verheiratet und hat zwei Kinder. Groll hege er nicht, versichert Tretter. Nicht einmal gegenüber seinen Eltern, die ihn nie in der Psychiatrie besucht haben. Vor einigen Jahren ist er seinem ehemaligen Kollegen aus dem Copyshop über den Weg gelaufen und hat ihm von den Folgen ihrer verhängnisvollen Begegnung erzählt. Der Kollege sei „sichtlich bestürzt“ gewesen, als er von den vielen Jahren in der Psychiatrie erfuhr. „Ich habe ihm aber verziehen“, sagt Tretter und blickt lange auf den Küchentisch. Er streckt die Beine aus. Seine bunten Socken blitzen wieder unter der Hose hervor. •
Philipp Hübl ist Philosoph und Gastprofessor für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste Berlin. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Die aufgeregte Gesellschaft. Wie Emotionen unsere Werte prägen und die Polarisierung verstärken“ im Verlag C. Bertelsmann.