Marion Bourbon: „Die Suche nach unserem Innersten bringt keineswegs Ruhe“
Sowohl im Stoizismus als auch in der kognitiven Verhaltenstherapie geht es in erster Linie um die Arbeit am Selbst. Doch was ist dieses Selbst und wie können wir lernen, zwischen falschen Vorstellungen und unserer ureigenen Subjektivität zu unterscheiden?
Viele Theoretiker der kognitiven Verhaltenstherapien – von Aaron Beck über Albert Ellis bis Donald Robertson – berufen sich auf die Stoiker. Frau Bourbon, ist es legitim, diese Verbindung zu ziehen?
In der Tat sind Bezüge zum Stoizismus unter den Theoretikern der kognitiven Verhaltenstherapien sehr verbreitet. Auf den ersten Blick gibt es da auch eine starke methodische Analogie: Beide Ansätze zeigen, dass das, was uns beeinträchtigt, nicht die Dinge selbst sind, sondern die Vorstellung, die wir uns von den Dingen machen. Die therapeutische Konsequenz lautet: Um unsere Störungen zu heilen, müssen wir die Vorstellungen, die unser Leiden verursachen, ablegen und sie korrigieren oder umstrukturieren. Nehmen wir das Beispiel eines Paniksyndroms: Die Arbeit des Therapeuten in der Verhaltenstherapie besteht darin, den Patienten zu ermuntern, seine Ängste zu verbalisieren („Ich werde ersticken“ oder „Ich werde einen Herzinfarkt bekommen“) und ihm zu raten, darin lediglich Ängste zu sehen, denen kein realer Gegenstand entspricht. Er hilft ihm zu verstehen, dass er in Wirklichkeit nicht bedroht ist. Oberflächlich betrachtet ist dies dem Stoizismus recht nahe, der ja dazu anregt, sich von falschen Vorstellungen zu befreien, indem wir ihnen unsere Zustimmung verweigern. So können wir unsere Beziehung zur Welt verändern und uns von dem, was uns belastet, heilen. In Wirklichkeit sind die Unterschiede zwischen den beiden therapeutischen Wegen jedoch tiefgreifend …
Was sind die großen Unterschiede?
Die kognitive Verhaltenstherapie suggeriert, es würde ausreichen, unsere Vorstellungen zu korrigieren, damit es uns besser geht. Aber sie übersieht dabei eine wesentliche Dimension der Psyche, die andererseits für die Psychoanalyse von großem Interesse ist: der Widerstand der Vorstellung, die unsere Störung hervorruft, gegen den sich die Vernunft sehr oft machtlos fühlt. So betrachtet, schlägt die kognitive Verhaltenstherapie ein extrem intellektualisierendes Modell vor, das der Macht der Gefühle, der psychischen Dynamik und ihren Konflikten – vor allem von Urteilen oder Vorstellungen – wenig Aufmerksamkeit schenkt: Aspekte, die gerade im Zentrum der stoischen Psychologie stehen. Außerdem: Wenn die Stoiker Wert auf die Arbeit an unseren Vorstellungen legen, so tun sie dies, weil es ihnen um das Reale geht, das für sie die Norm ist, der die Vorstellungen entsprechen müssen. Die trügerischen Vorstellungen lösen genau diese Beziehung zum Realen auf, da sie sich auf nichts beziehen. Der Verzicht darauf ist die Voraussetzung dafür, dass wir anfangen zu entscheiden, was wir mit dem Realen tun können. In der heutigen Psychologie ist dies keineswegs immer der Fall: Die Therapien begnügen sich eher damit, eine positive Vorstellung an die Stelle einer anderen, negativen zu setzen, ohne tatsächlich insgesamt zu hinterfragen, welcher Art unsere Beziehung zur Realität oder unser Umgang damit ist. Die Methode ist also eher ein Wunschdenken, das heißt etwas, das noch vom Imaginären lebt. Hinzu kommt eine starke Tendenz zur Medikalisierung des psychischen Leidens.
Was meinen Sie damit?
Die kognitive Verhaltenstherapie ist sehr oft mit medikamentösen Therapien verbunden: Sie betrachtet das Symptom als eine einfache kognitive Dysfunktion, ohne zu berücksichtigen, was dieses Symptom für das darunter leidende Subjekt selbst bedeutet; was es persönlich dazu zu sagen hat, worum es für ihn oder sie dabei geht. Dieser Punkt hängt damit zusammen, wie wir heute psychologische Fürsorge verstehen: Dass Verhaltenstherapie so erfolgreich ist, liegt sicher vor allem daran, dass sie gewissen Ansprüchen vermeintlich entgegenkommt: Schnelligkeit, das Versprechen einer „Wirksamkeit“ – doch was ist Wirksamkeit im psychologischen Bereich? – und ein relativ einfacher Zugang. Die Psychoanalyse hingegen hat ein völlig anderes Verständnis davon, was es heißt, eine Seele zu heilen. Wenn sie behauptet, dass der lógos heilen könne, geht sie davon aus, dass das Symptom eine Bedeutung hat, und zwar eine Bedeutung, die mit dem Subjekt selbst aufs Innigste verbunden ist. Zu hören, was es über sich selbst sagt, heißt, sich auf ein persönliches Abenteuer einzulassen, das einen psychologischen Preis hat: eine Suche im Innersten erfordert Zeit und Mut, ist manchmal auch heftig und bringt keineswegs Ruhe. Hier finden wir eher Anklänge an die Stoiker: Für sie bedeutet die Heilung seelischer Störungen die Heilung des ganzen Individuums, das dazu angeleitet wird, sich zu befreien, seine Freiheit zurückzuerobern. Insofern scheint mir der Vergleich mit der Psychoanalyse viel fruchtbarer zu sein. Dort, wie auch im Stoizismus, hat die psychologische Fürsorge immer einen ethischen Zweck: Sie muss es dem Subjekt ermöglichen, sein eigenes Leben wieder aktiv zu gestalten.
Allerdings berufen sich nur wenige Psychoanalytiker auf den Stoizismus.
Ab und zu propagieren einige diese Tradition. Ich denke da zum Beispiel an Hélène L’Heuillet, die Marc Aurel und die Psychoanalyse zusammenbringt. Aber der Bezug auf den Stoizismus ist in der Tat viel seltener bei Psychoanalytikern, die offenbar andere Strategien zur Legitimierung ihrer Praxis haben. Es ist trotzdem schade, dass die Affinitäten zwischen Psychoanalyse und Stoizismus nicht mehr untersucht werden, denn sie scheinen mir viel stärker zu sein. Man muss klar sagen, dass die kognitive Verhaltenstherapie sich die Referenz auf die Stoiker angeeignet hat und sie monopolisiert. Sie stellt für sie eine Art theoretische Rückendeckung dar, von der sie manchmal rein marketingmäßig Gebrauch macht. Die Stoiker sind nicht die einzigen Opfer solcher Aneignungen, Spinoza ist ein weiteres Beispiel. Diese Therapien erheben den Anspruch, sich an möglichst viele Menschen zu wenden, und versprechen schnelle „Heilung“, während die Psychoanalyse allzu oft als „elitäre“ Praxis angesehen wird, die den „Happy Few“ vorbehalten ist.
Wollten sich nicht auch die Stoiker an möglichst viele Menschen richten?
Ich denke, dass wir hier wieder zwischen zwei Arten unterscheiden müssen, wie man möglichst viele Menschen anspricht. In der Tat hatten auch die Stoiker den Anspruch, sich an alle zu wenden, zumindest als der Stoizismus römisch wurde und fortan auch außerhalb der Mauern der stoischen Schule praktiziert wurde. Dies zeigt sich auch durch das Auftauchen eines neuen philosophischen Stils, etwa in Senecas Briefen über Ethik an Lucilius oder in Epiktets Handbüchlein. Dennoch richtet sich dieser therapeutische Weg immer an Individuen, die bereit sind, sich auf das Abenteuer der Philosophie einzulassen – ein langwieriges und schwieriges Abenteuer. Der Wunsch, sich selbst zu verändern, ist absolut konstitutiv für die Neuordnung des Selbst und erfordert ein Engagement des Subjekts selbst. Niemand, auch nicht der Therapeut, kann es an seiner Stelle tun. Die Aufgabe ist die Selbstsorge, und man muss feststellen, dass nicht alle Menschen davon Gebrauch machen, auch wenn es ihnen rechtlich zusteht. Insofern „verkaufte“ der Stoizismus keine Versprechen auf einfache Heilung. Dieser Weg ist völlig anders als das, was heute passiert: Viele Therapien propagieren generische Protokolle, die oft entpersonalisieren und manchmal dazu führen, dass Menschen glauben, für eine Besserung würde es ausreichen, einer vorgefertigten Maßnahme zur „Behandlung“ ihrer Störung zu folgen.
Was besagt diese Idee der Neuordnung des Selbst über das Konzept des Individuums bei den Stoikern?
Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst den Begriff definieren. Was ist ein Individuum? Ein Wesen, das über eine Einheit und einzigartige Identität verfügt: Kein Individuum gleicht dem anderen. Die Stoiker sind zweifellos die ersten, die diese Individualität positiv verstanden und nicht als einen Mangel gegenüber dem Universellen. In ihren Augen existiert alles als individueller Körper, das heißt, es hat eine eigene Qualität (idia poiotês), die seine einzigartige Natur bestimmt. Von diesem Ausgangspunkt aus entwickeln die Stoiker eine Reflexion darüber, auf welche Art und Weise das Individuum sich im Laufe seines Lebens seine Natur „zueignet“ – wie es von Geburt an in seiner Umwelt das auswählt, was ihm entspricht, um die Welt als seine eigene Welt zu bilden. Es wird in sich selbst die Fähigkeit entdecken, sich seine Gedanken, Erfahrungen und Verhaltensweisen durch einen persönlichen Gebrauch dieses lógos zuzueignen, mit dem nur es selbst sich begreifen kann. Zwar bestehen die Stoiker auf der Natürlichkeit des Individuationsprozesses, sie bemühen sich aber auch, die irreduzible Besonderheit der menschlichen Individualität zu zeigen: Die menschliche Natur wird von innen heraus durch die Anwesenheit des sich in ihm allmählich entwickelnden ló-gos verwandelt. Durch den lógos hat der Mensch die Fähigkeit, sich in reflexiver Weise seine eigenen Gedanken, seine Erfahrungen und sein Verhalten zuzueignen. Die Natur bestimmt also den Menschen dazu, ein völlig einzigartiges Lebewesen zu werden: ein vernünftiges Lebewesen. Subjektivität ist somit das Ergebnis, nicht der Ursprung dieses Prozesses der Zueignung, bei dem ein Mensch sich seiner selbst innewird. Unsere persönliche Identität bildet sich also durch Entscheidungen. Voraussetzung ist, sich von trügerischen Vorstellungen und falschen Bindungen zu befreien, die unsere wahre Natur verschleiern. Bei Foucault gibt es einen schönen Ausdruck dafür: Wir müssen „wieder werden, wer wir nie waren“.
Die Stoiker sind also die ersten, die sich mit der Frage der persönlichen Identität beschäftigten – die Entdecker der Subjektivität?
Wenn man es ganz genau nimmt, müsste die Antwort lauten: Nein. Wir finden das Thema in gewisser Weise schon bei Platon, Aristoteles und auch bei den Kynikern. Es ist jedoch unbestreitbar, dass die Stoiker einen wichtigen Beitrag in der Geschichte dieses Problems leisten, weil sie eine Vorstellung des Individuums haben, in der sich Physik, Ethik und Logik vereinen. Mit Epiktet und Seneca erleben wir, wie ein regelrechtes Prinzip der persönlichen Identität entsteht: prohairesis bei Epiktet – die Fähigkeit zur Entscheidung –, voluntas bei Seneca – der Vorläufer unseres Willensbegriffs. Prohairesis und voluntas werden nicht (nur) dem Menschen im Allgemeinen zugeordnet, sondern dem Individuum in seiner irreduziblen Singularität. Das ist eine wichtige Veränderung: Für die Stoiker können wir unser Menschsein nur erlangen, indem wir unseren eigenen Weg einschlagen, den Weg unserer Natur. Individualität und Universalität sind also kein Widerspruch. Im Einklang mit der Natur zu leben, bedeutet immer auch gleichzeitig, im Einklang mit sich selbst zu sein. •
Marion Bourbon unterrichtet Philosophie an der Universität Bordeaux-Montaigne. Sie forscht u. a. zur Geschichte der Subjektivität in älteren philosophischen und medizinischen Traditionen und hat mehrere Bücher zum Stoizismus verfasst, u. a. „Penser l’individu. Genèse stoïcienne de la subjectivité“ (Brepols, 2019)
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Kommentare
Danke, sehr schöne Sicht des Stoizismus. Von innen heraus, logoshaft, die Natur und Welt sich zueignen…… Kant sieht einmal in der Schrift „Die Religion, 2. Stück“ den Stoizismus als bloß äußere Tugendethik, die das wahre Gegenspiel zur Idee des Guten aus dem Akt der Freiheit nicht erkennt, das böse Prinzip, während er nun (Kant) das wahre moralische Prinzip in der Gesinnung und in der rechten Maxime propagieren will. Mitnichten, die Stoiker, wie ich das nach dem Interview sehe, haben mindestens so viel Eigenengagement und Freiheit (im Begriff der Individualität) aufgebracht als Kant.