Der Freihandel als Kriegsstifter
Wirtschaftliche Beziehungen zwischen den Ländern sichern den Frieden: Diese Annahme ist tief in unserer Kultur verankert, doch durch den Angriffskrieg Russlands wurde sie erschüttert. Ein Blick in die Ideengeschichte zeigt, dass sie schon immer umstritten war.
Seit dem 24. Februar steht eine liberale Doktrin im Kreuzfeuer, die zu den wesentlichen des euroatlantischen Selbstverständnisses gehört: Das Konzept Wandel durch Handel ist in seiner bisherigen Form endgültig „gescheitert“, so brachte es der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil vor Kurzem lakonisch auf den Begriff. Der Grund hierfür ist denkbar einsichtig: Die Freiheit des Welthandels hat augenscheinlich weder den Weltfrieden herbeigeführt noch Handelspartner per Zauberhand in Partnerdemokratien verwandelt. Im Gegenteil – Russland, mit dem Deutschland zuletzt Güter im Billionenwert tauschte, hat seinen Nachbarn, die Ukraine, trotz aller wirtschaftlichen Verflechtungen überfallen und selbst die ökonomischen Sanktionen bisher ausgehalten, die zur Bestrafung überstürzt aufgefahren wurden. Der Vorstandsvorsitzende des Vermögensverwalters Blackrock teilte seinen Aktionären sogar mit, die russische Invasion habe der „Globalisierung, wie wir sie bisher kannten, ein Ende gemacht“.
Man wird sehen müssen, ob diese rhetorische Deutlichkeit sich eines Tages auch im politischen und ökonomischen Handeln wiederfinden lässt. In historischer Rücksicht sind Zweifel jedenfalls angebracht. Die Idee, dass ökonomische Freiheiten indirekt politische Fortschritte zur Folge haben, ist so alt wie die Aufklärung selbst. Sie hat sich seitdem tief, vielleicht zu tief eingeflochten in die Selbstbeschreibungen und Zukunftserwartungen, die die bürgerliche Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert – und bis heute – prägen. Weniger bekannt ist allerdings, in welchem Kontext und zu welchem Zweck die Doktrin vom Wandel durch Handel entwickelt wurde – und dass sie von Anfang an mindestens ebenso bestechender Kritik ausgesetzt war. Am bekanntesten ist sicher das Diktum vom „doux commerce“, dem sanften oder süßen Handel, aus der Feder des Baron de Montesquieu, wonach „die natürliche Wirkung des Handels“ darin bestehe, „zum Frieden geneigt zu machen“. Denn der Handelsgeist ist dem Eroberungsgeist fundamental entgegengesetzt. Im Krieg zweier Staaten gibt es einen Verlierer und einen Gewinner, im Handel verhält es sich anders: Hat das eine Volk „ein Interesse zu kaufen, so liegt dem anderen daran zu verkaufen“ – das heißt beide gewinnen. „Alle Nationen hängen an einer einzigen Kette und teilen ihr Elend und ihren Wohlstand“. Wer ausschert und auf militärische Gewalt setzt, schadet dabei auch sich selbst. Doch diese Friedenshoffnungen des Freihandels, die sich etwa auch in den Schriften der Zeitgenossen François Melon und Abbé de Saint-Pierre finden, schweben nicht im luftleeren Raum. Sie antworten auf eine bestimmte Situation im absolutistischen Staat.
Der Handel und die Kriegsmaschine
Die Könige und Fürsten Europas nutzten nach der Erfahrung der konfessionellen Bürgerkriege im 16. und 17. Jahrhundert die zur Verfügung stehenden Mittel und Wege, ihre eigene Macht auszubauen. Die selbstständigen feudalen Zwischengewalten sollten politisch neutralisiert werden, um die Macht an den Höfen zu bündeln. Weil aber die Militärtechnik immer weiter voranschritt und auch das Anheuern und Ausbilden von stehenden Heeren immer kostspieliger wurde, musste mitsamt den politisch-militärischen Reformen die fiskalische Kapazität des Staates erhöht werden. Der Handel bot dafür die beste Gelegenheit. Die später polemisch Merkantilismus genannte Wirtschaftspraxis war keine Wachstumsstrategie, sondern der Versuch, vermittels Handel die Finanzreserven des Staatshaushalts aufzustocken und so im Konkurrenzkampf der europäischen Staaten bestehen zu können. Nicolas Colbert, Minister Ludwigs XIV., erklärte 1666 denkbar deutlich und keineswegs in kritischer Absicht: Der „Handel ist die Quelle der Finanzen, und die Finanzen sind der Lebensnerv des Krieges“.
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Kommentare
-Nein, eine zukünftige Weltmacht China stellt für den unsouveränen geopolitischen Zwergstaat Deutschland kein unlösbares Problem dar.
Schließlich haben wir 77 Jahre Erfahrung mit den USA. Das übt.
Bei Fuß können wir schon.