Alle Macht dem Volk?
Das Grundprinzip der liberalen Demokratie ist die Freiheit. Doch sieht sich diese zahlreichen Gefahren ausgesetzt – dem Druck der Mehrheit, der Intoleranten oder Diskursunwilligen; dem Zwang ungerechter Gesetze oder wissenschaftlicher Tatsachen. Fünf Klassikertexte erläutern, was die Demokratie angreift und was sie am Leben hält. Kommentiert von Marie-Luisa Frick.
Demokratie ist nicht mehr oder weniger auf Sand gebaut als konkurrierende politische Ordnungen, denn menschliche Belange sind unausweichlich von Fragilität und Unbeständigkeit betroffen. Anders jedoch als alternative Herrschaftsformen baut sie nicht auf dynastischer Abstammung, Elitismus oder Gewalt, sondern auf Freiheit auf: als Demokratie auf der kollektiven Freiheit des politischen Volkes und als liberale Demokratie zusätzlich auf der individuellen Freiheit seiner Mitglieder. Von Ágnes Heller stammt der Ausspruch, Demokratie stehe auf dem „Grund-Abgrund der Freiheit“ (aus: Die Paradoxien der modernen Demokratie). Ihr Grund, die Freiheit, ist also immer auch ein Abgrund, vor dem uns schaudern kann, wenn wir uns eingestehen, dass demokratische Ordnungen weder natürlich noch notwendig existieren, sondern in Abhängigkeit von denjenigen, die sie errichten und für ihr Funktionieren Sorge tragen. Ein historisch informierter Blick auf diesen Abgrund kann heilsam sein und wir tun gut daran, die Bedingungen stabiler, lebendiger Demokratie fortwährend zu bedenken. Aber Angst vor demokratischer Freiheit kann auch erstarren lassen und Demokratie aushöhlen. Demokratie ist zwar nicht auf Sand gebaut, aber auf einem dynamischen Fundament, auf welchem es klug zu balancieren gilt. Wie kann das gelingen? Die Philosophiegeschichte bietet dafür ein reiches Reservoir an Inspiration und zeigt zugleich, dass es die Demokratie nicht gibt, sondern stets verschiedene Ansichten von der „echten“ oder „besseren“ Demokratie. Ausgehend vom Prinzip der Volkssouveränität, das das Herz der Demokratie bildet, weisen die Vektoren einzelner Demokratietheorien in unterschiedliche Richtungen. Sie in ein konstruktives Gespräch zu bringen, vielleicht sogar das „Beste aus allen Welten“ zusammenzuführen, ist nicht nur ein intellektuell reizvolles Unterfangen, sondern selbst Ausdruck demokratischer Freiheit, auf die Demokratinnen und Demokraten bei aller berechtigten Unruhe angesichts ihres offenen Horizonts auch ruhig öfter stolz sein dürfen.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Marie-Luisa Frick: „Man sollte Selbstdenken nicht undifferenziert heroisieren“
Corona und Terror rufen die Ideale der Aufklärung wieder auf den Plan und stellen die Demokratie gleichzeitig hart auf die Probe. Die Philosophin Marie-Luisa Frick, deren Buch Mutig denken (Reclam) gerade erschienen ist, erklärt vor diesem Hintergrund, was wir heute noch von den Aufklärern lernen können.

Marie-Luisa Frick: „Wir müssten aus der Durchseuchungsstrategie eine Tugend machen“
Österreich will an einer allgemeinen Impfpflicht ab Februar festhalten. Gleichzeitig werden die Rufe nach einem Strategiewechsel lauter. Die Innsbrucker Philosophin Marie-Luisa Frick über ethische Implikationen, die humane Seite der Biopolitik und die Herausforderungen der Zukunft.

Was heißt hier Meinungsfreiheit, Frau Frick?
Wer über Meinungsfreiheit streiten will, muss erst einmal klären, was eine Meinung überhaupt ist. Was unterscheidet sie von Wissen? Und wann wird sie moralisch problematisch? Ein Interview mit der Philosophin Marie-Luisa Frick.

Die gereizte Gesellschaft
Hasskommentare, Tabubrüche, politischer Extremismus: Die tiefe Krise der Demokratie spiegelt sich in der gegenwärtigen Diskurskultur. Oder ist die Ausweitung der Kampfzone ein gutes Zeichen? Der Medientheoretiker Bernhard Pörksen diskutiert mit der Philosophin Marie-Luisa Frick
Cancel Culture vs. Meinungsfreiheit?
Verengt sich der Korridor des Sagbaren? Oder handelt es sich bei der Rede von der „Cancel Culture“ doch eher um Panikmache? Das diskutierte die Philosophin Marie-Luisa Frick mit dem Literaturwissenschaftler Adrian Daub auf der diesjährigen phil.COLOGNE. Moderiert von Mithu Sanyal.

Das Leiden der anderen
Wie gehen wir mit dem Unglück um, das uns umgibt? Hinsehen oder die Augen verschließen? Fliehen oder etwas tun? Fünf Menschen berichten von ihren alltäglichen Begegnungen in Flüchtlingshilfe, Rollenspiel, sozialen Medien, Rausch und Therapie. Kommentiert von Juliane Marie Schreiber.

„Was Marielle weiß“ – Brauchen wir Lügen?
Wie viel Aufrichtigkeit verträgt eine Beziehung? In Was Marielle weiß, dem diesjährigen Berlinale-Beitrag von Frédéric Hambalek, wird diese Frage radikal auf die Probe gestellt, als Tochter Marielle durch telepathische Kräfte plötzlich jede Lüge aufdecken kann.

Erkenne deine Liebe - fünf persönliche Beispiele
Wo die Liebe hinfällt, wandelt sie Existenzen. Sie spendet Kraft, erschließt neue Erkenntnisse und Lebensmodelle. Nicht immer muss das Ereignis klassisch romantischen Idealen entsprechen. Fünf persönliche Beispiele, kommentiert von Wilhelm Schmid.