Das Leiden der anderen
Wie gehen wir mit dem Unglück um, das uns umgibt? Hinsehen oder die Augen verschließen? Fliehen oder etwas tun? Fünf Menschen berichten von ihren alltäglichen Begegnungen in Flüchtlingshilfe, Rollenspiel, sozialen Medien, Rausch und Therapie. Kommentiert von Juliane Marie Schreiber.
Der französische Dichter Charles Baudelaire sagte 1860: „Jede Tageszeitung ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein einziges Gewebe von Gräueln. Und diesen ekelerregenden Aperitif nimmt der zivilisierte Mensch täglich beim Frühstück zu sich.“ Das ist heute nicht anders. Und obwohl Untersuchungen zeigen, dass die Menschen immer friedlicher geworden sind, sehen wir so viele Bilder des Leids wie nie zuvor, so nah, als seien wir direkt dabei. Gerade scheint Krise auf Krise zu folgen: Klimakrise, Pandemie, Krieg in Europa.
Das ist erst recht eine Herausforderung, da wir heute in einer Zeit des Glücksdiktats leben, der hedonistischen Unterhaltung und Ablenkung. Man muss glücklich sein. Positives Denken erscheint wie eine neue Bürgerpflicht. Da bricht das Leid aus der Welt besonders stark über den kuratierten Neobiedermeier-Alltag herein. Selten war dieser Kontrast so groß wie heute: Auf der einen Seite sieht die Zukunft düster aus. Gleichzeitig wird uns eingeredet, es komme nur auf das richtige „Mindset“ an. Wir sollen alles als Chance begreifen, immer nach vorn blicken: Scheitern wird in der Leistungsgesellschaft nur akzeptiert, wenn man daran wächst. Wir sollen Probleme produktiv umdeuten und aus jedem Schnupfen etwas lernen.
Doch die jüngsten Bilder aus dem Krieg in der Ukraine lassen die Hygge-Blase besonders absurd erscheinen. Wie soll man das alles aushalten? In Trauer versinken? Konsequent ausblenden? Oder muss man es aushalten? Die Schriftstellerin Susan Sontag hat darauf eine klare Antwort. In ihrem Werk „Das Leiden anderer betrachten“ betont sie, wie wichtig es sei, die eigene Wahrnehmung zu schärfen und sich das Ausmaß des Leidens klarzumachen, denn wer sich ständig davon überraschen lasse, sei „moralisch oder psychologisch nicht erwachsen“. Ab einem gewissen Alter habe „niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit“. Sie fordert: „Lassen wir uns also von den grausigen Bildern heimsuchen.“
Ohnehin ist die Glückssuche gar nicht erstrebenswert. Denn Menschen, die gerade in einem Hochzustand sind, fokussieren vor allem auf sich. Nach dem Prinzip: Lassen Sie mich durch, ich bin glücklich! Der Psychologe Joseph Forgas konnte zeigen, dass Personen im Glücksrausch nicht nur unzurechnungsfähiger sind, weil sie sich und ihre Fähigkeiten deutlich überschätzen. Sie sind auch weniger solidarisch mit anderen, weil sie sich weniger in sie hineinversetzen. Hingegen sind Menschen, die sich in einer düsteren Grundstimmung befinden, empathischer. In Experimenten waren sie solidarischer und großzügiger. Auch während der Coronapandemie ging es vielen Menschen schlechter, gleichzeitig stieg die Spendenbereitschaft in diesem Zeitraum deutlich an. Das eigene Leid macht offenbar empfänglicher für das Leiden anderer.
Die Spannung zwischen Glück und Leid ist für jeden eine Herausforderung. Einige schauen gezielt hin, andere lenken sich ab. Fünf Menschen berichten von ihren Versuchen, damit umzugehen.
– Juliane Marie Schreiber
Bild: Myrto Papadopoulos
Simon Werner (26 Jahre) leistet für fünf Monate Freiwilligenarbeit mit Geflüchteten auf Samos: „Ich bin Teil eines Systems, das das Leiden mitverursacht“
„Die Organisation, für die ich tätig bin, kümmert sich um die psychosoziale Gesundheit der geflüchteten Menschen. Es werden Gemeinschaftsräume geschaffen, Freizeitaktivitäten und Sprachkurse angeboten, ich selbst unterrichte Englisch und Deutsch, widme mich auch logistischen Aufgaben. Die Menschen, mit denen ich hier zu tun habe, sitzen, nachdem sie Furchtbares erlebt haben, Monate oder sogar Jahre in diesem Lager fest, sind mit extremer Unsicherheit konfrontiert. Ich selbst bin privilegiert, nicht zuletzt durch meine Hautfarbe und deutsche Staatsbürgerschaft. Ich kann Samos jederzeit verlassen und habe selbst nie rassistische Erfahrungen gemacht. Als europäischer Bürger empfinde ich Scham- und Schuldgefühle. Ich bin Teil eines Systems, das das Leiden mitverursacht. Bei Begegnungen mit den Menschen hier werden mir diese Ungleichheiten oft gespiegelt, was es erschwert, ein persönliches Verhältnis aufzubauen. Dass die europäischen Länder jetzt bereitwillig ukrainische Flüchtlinge aufnehmen, zeigt, dass es eben doch geht, wenn der politische Wille da ist. Aber der politische Wille hängt eben davon ab, woher die Menschen kommen. Was ich hier erlebe, wirkt sich natürlich auf mich aus. Viele Sorgen, die meinen Alltag ausgemacht haben, relativieren sich hier. Oft berührt es mich, wie viel Kraft die Menschen trotz des größten Elends haben. Was aber überwiegt, ist die Verzweiflung, da den Menschen ein Leben in Würde oft verwehrt bleibt und ich durch mein Handeln vor Ort nichts an den Pfeilern eines menschenfeindlichen Systems bewege.“
Kommentar Juliane Marie Schreiber: Gelebter Altruismus
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Kommentare
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