Juliane Marie Schreiber: „Negativität bringt uns der Wahrheit näher“
„Positiv denken“, „Krisen als Chancen sehen“, „optimistisch bleiben“. Juliane Marie Schreiber erteilt in ihrem neuen Buch derartigen Glücksimperativen eine Absage. Ein Gespräch über depressiven Realismus und die Kraft der Negativität.
Frau Schreiber, selbst im Angesicht des Krieges in der Ukraine suchen Kommentatoren nach positiven Aspekten in der Katastrophe. So heißt es, dass sich durch Putins Krieg die Energiewende in Deutschland schneller vollziehen könnte. Warum verdrängen wir das Negative mehr und mehr aus unserem Leben?
Ich sehe das als einen weiteren Hinweis dafür an, dass wir in einer Kultur der Positivität leben, die unseren Glücksstandard total verschoben hat. Wer heute nicht andauernd überglücklich ist, wirkt schon fast dysfunktional, als hätte er oder sie das eigene Leben nicht im Griff. Mal schlechte Laune zu haben, die sich vielleicht sogar mal über ein paar Tage hinzieht, fällt aus dem Rahmen dessen, was wir als akzeptabel ansehen. Viele von uns setzen alles daran, um das eigene Glücksprestige aufrechtzuerhalten.
Was meinen Sie mit Glücksprestige?
Glück ist zu einer Form von sozialem Status geworden, den wir anderen laufend kommunizieren müssen. Bleibt dieses Signalisieren von Positivität aus, wird das von außen sofort als problematisch angesehen. Glück ist vermeintlich zum Normalzustand geworden und alles „darunter“ ist defizitär. Das hat mindestens drei Gründe. Erstens macht das heute sehr wirkungsvolle Wachstumsnarrativ auch vor unserer Psyche nicht Halt. Wir gehen auch bei Emotionen davon aus, dass alles nach vorne gehen, besser werden, skalieren muss, weshalb wir selbst den schrecklichsten Dingen etwas Positives abgewinnen wollen. „Krise als Chance“ ist das Stichwort. Damit einher geht zweitens das spätkapitalistische Narrativ, wonach Schlechtes nur geschieht, damit man daran wachsen kann. Dass das eine perverse Sichtweise ist, sollte klar sein. Schließlich passieren in der Realität haufenweise Dinge, aus denen überhaupt nichts Positives folgt. Man denke eben an den Krieg oder schwere Krankheiten wie Krebs.
Und der dritte Grund?
Der dritte und gewissermaßen tiefer liegende Grund ist der Imperativ unserer neoliberalen Leistungsgesellschaft, dass Aktivität immer besser ist als Passivität. Handeln wird also auch dann belohnt, wenn es eigentlich unüberlegtes Handeln ist und tatsächlich niemandem nützt. Wenn wir nicht mehr weiterwissen, wälzen wir die Verantwortung im Zweifel auf das Individuum ab, das vermeintlich alles in der Hand hat. Selbst bei den übelsten Schicksalsschlägen sagen wir, dass es „auf die Perspektive ankommt“, was einfach nicht stimmt. Als Gesellschaft sind wir sehr schlecht darin, mit Schmerz umzugehen, weshalb wir Leid auslagern und hoffen, dass auch hier das Prinzip „aus den Augen aus dem Sinn“ greift. Menschen sterben in Heimen, aber nicht mehr im Familienkreis, wir nehmen Unmengen an Schmerzmitteln und richten unser Leben auch in vielen anderen Bereichen auf absoluten Komfort aus.
Lassen sich kulturgeschichtlich besonders starke Treiber für diese Dynamik hin zum Komfort und weg vom Schmerz ausmachen?
Der bereits angesprochene Neoliberalismus seit den 1980er-Jahren und der Rückbau des Sozialstaats bei gleichzeitiger Entfesselung der Märkte ist sicher ein starker Treiber dieser Entwicklung. Arbeitsmärkte wurden flexibler und ehemals sozialstaatlich geregelte Bereiche wie Bildung oder Gesundheit wurden immer mehr privatisiert, was den Druck auf die Individuen erhöhte. Ebenfalls in diese Zeit fällt der Aufstieg der sogenannten Positiven Psychologie, die in den USA der 1990er-Jahre entstanden ist und die sich in der Folge auch bei uns etablierte.
Würden Sie diese Richtung der Psychologie kurz umreißen?
In dieser Zeit merkten Psychologen, dass Menschen lieber Tabletten einnahmen, statt in Therapie zu gehen. Der Markt bewegte sich auf eine Sättigung zu. Die Antwort, die unter anderem der Psychologe Martin Seligman, damals Vorsitzender der American Psychological Association, fand, lautete: Nicht mehr Heilung, sondern stetige Optimierung für alle ist das Ziel. Eine geniale Idee, dann wer das Ziel nie erreichen kann, bedarf ewig der Verbesserung. Seligman hat sogar eine wissenschaftlich nicht haltbare „Glücksformel“ formuliert, die besagt, dass die Hälfte unseres Glückslevels von genetischen Faktoren abhängt, ein weiteres Zehntel würde das Schicksal ausmachen und die restlichen 40 Prozent lägen allein in unserer Hand. Mit anderen Worten: nur ein Teil Umwelt, aber ganze vier Teile Eigenverantwortung. Diese Denkweise ist so einflussreich geworden, dass sie uns bis heute in der Form des Hygge-Kults, von Meditations-Apps und einer schier unübersehbaren Menge von Ratgeberliteratur begegnet. Die Botschaft hier lautet immer: Sorge für Dich, denn sonst macht es niemand! Das kommt bei vielen gut an, weil es den Eindruck vermittelt, man könne sich sein Glück erarbeiten, erkaufen oder sich einfach nur glücklich denken.
Sie beschreiben in ihrem Buch Ich möchte lieber nicht einen Gang durch den Supermarkt und ihr Unbehagen mit Tees und Shampoos, die sie zu einem „glücklicheren“, „mutigeren“, gar „besseren“ Leben auffordern. Was stört Sie so daran? Schließlich könnte man derart stumpfsinnige Werbung doch auch einfach ignorieren?
Wenn nur der Supermarkt voll mit solchen Botschaften wäre, könnte man sie tatsächlich einfach ignorieren. Allerdings zeigt sich an diesen Botschaften eine grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft, die schon Zygmunt Bauman beschrieb. Der polnisch-britische Soziologe stellte in seinem Buch Flüchtige Zeiten fest, dass wir uns weg von einer Art Verbotskultur hin zu einer sogenannten „Command Culture“ entwickelt haben, in der man eben keine Verbote mehr, sondern Befehle ausspricht. Wo es früher oft hieß: „Du darfst nicht!“, ist heute immer öfter von „Du musst!“ die Rede. Früher ging es vielen Menschen schlecht, weil sie ihre Persönlichkeit nicht ausleben durften. Man denke auch an sexuelle Vorlieben. Heute begeben sich Leute in Therapie, weil sie ständig etwas wollen sollen und keine Lust mehr auf irgendetwas haben. Sie sind überlastet von all den Imperativen, die auf sie einprasseln.
Wer nach Glück strebt, tut dies oft für sich. Ist der Glückskult auch ein vereinsamender?
Das würde ich sagen, ja. Begründen lässt sich das unter anderem mit der Forschung der Soziologin Eva Illouz zum emotionalen Kapitalismus, die in ihren Werken immer wieder eine doppelte Bewegung beschreibt. Sie sagt, dass wir Waren und Gegenstände mit Gefühlen aufladen, während wir unser Privatleben zunehmend einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterziehen.
Was wäre dafür ein Beispiel?
Gut veranschaulichen lassen sich diese Emotionalisierung des Ökonomischen und die Ökonomisierung der Emotionen an unseren Handys und unserem Freundeskreis. Während viele von uns eine beinahe intime Beziehung zu ihrem Smartphone haben (es muss immer in unser Nähe liegen, wir halten uns daran fest wie an einem Partner), laden wir einen Gegenstand emotional auf. Auf der anderen Seite denken viele bei neuen Freundschaften unweigerlich „Was bringt mir der Kontakt?“. Und da natürlich niemand jemanden in diesem Kreis haben will, dem es nicht gut geht, weil das manchmal anstrengend ist und darunter auch das eigene Glücksprestige leiden könnte, wird jemand schnell aussortiert, wenn er mal traurig oder schlecht gelaunt ist. Eine gefährliche Entwicklung, wie ich finde.
Hat der Kult des Positiven auch politische Auswirkungen?
Verheerende, denn gesellschaftlich können wir praktisch nichts verändern, wenn sich Menschen nicht als Kollektiv und voneinander abhängig begreifen, sondern glauben, alle Erfolge selbst errungen zu haben, und dann umgekehrt auch selbst für alle Probleme verantwortlich zu sein. Viele Leute coachen sich dann lieber selbst bis über die Belastungsgrenze hinaus, als in Gewerkschaften für gute Arbeitsbedingungen oder gesellschaftliche Verbesserung zu kämpfen. So wird allerdings auch immer seltener, was Karl Marx als Grundvoraussetzung für die Bildung eines Klassenbewusstseins ansah: wahrzunehmen, dass es anderen genauso schlecht geht wie einem selbst. Es muss ja nicht gleich die große Revolution sein, aber auch zu sozialen Reformen kommt es nicht, wenn alle vorschützen, dass doch alles super ist. Genau diese Botschaft ist ein Kernanliegen meines Buches: Gesellschaftliche Probleme werden wir nicht jeder für uns wegmeditieren können. Das Einzige, was durch diese Individualistische und psychologisierende Sichtweise passiert, ist, dass wir den Status quo zementieren.
Ihr Buch ist in zwei Teile geteilt. Im ersten erläutern Sie die negativen Seiten des Positivitätskults, im zweiten zeigen Sie auf, welche Vorteile die Negativität haben kann.
Zuerst möchte ich sagen, dass Negativität nicht gleich Negativität ist. Ich messe den Hatern im Netz keinerlei produktive Kraft bei. Was ich mit Negativität im produktiven Sinne meine, ist, in einer Welt der Positivität auch die schlechten Dinge beim Namen zu nennen und sie nicht auf Teufel komm raus umdeuten und freudvoll machen zu wollen. Wir können Probleme nur angehen, wenn wir sie realistisch als solche erkennen. Ohne die Wut der Suffragetten über die Ungerechtigkeit hätte es kein Frauenwahlrecht gegeben. Diese Art von Negativität ist befreiend und der Anlass für gesellschaftlichen Fortschritt. Und so würde ich auch ganz im Sinne des 1891 in Italien geborenen Philosophen Antonio Gramsci das Motto des „Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens“ verteidigen.
Was meinte er damit?
Wenn man die Passage davor miteinbezieht, wird sein Anliegen klarer. Sie lautet: „Man muss nüchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts der schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.“ Mich inspiriert das sehr, weil das auf den Kern dessen zielt, was derzeit unser Problem ist. Wir verzweifeln schnell an den schlimmsten Schrecken, aber wir begeistern uns auch schnell an jeglicher Dummheit. Dazwischen gilt es eine Balance zu finden.
Um diese Balance zu erreichen, plädieren Sie für einen „depressiven Realismus“. Was kann man sich darunter vorstellen?
Heute gehen wir oft davon aus, dass die Optimisten die Welt so sehen, wie sie ist und die Pessimisten eine verzerrte Wahrnehmung der Wirklichkeit haben. Allerdings legte unter anderem der Sozialpsychologe Joseph Forgas belastbare Forschung dazu vor, dass es genau andersherum ist: Es sind gerade Menschen mit einer mürrischen Einstellung zur Welt, mit einer melancholischen Grundstimmung, die die Welt so sehen, wie sie tatsächlich ist. Sie sind kritischer, empathischer und fallen auch weniger auf Vorurteile herein. Wer nur positiv denkt und immer gut drauf ist, überschätzt sich hingegen oft. Ich finde diese Forschung revolutionär, weil sie mit dem Kult um die Positivität bricht und zeigt: Ein gewisses Maß an Negativität macht uns nicht nur realistischer, sondern bringt uns sogar der Wahrheit näher. •
Juliane Marie Schreiber ist Politologin und Soziologin. Als freie Journalistin arbeitet sie u. a. für den Freitag, ZDFheute, Die Welt und Jung & Naiv. Ihr Buch „Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven“, das jüngst bei Piper erschien, ist ein Bestseller.
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Kleines Lexikon des Realismus
Die Realismus-Diskussion geht von der Frage aus, ob und woher wir wissen können, dass die Objekte, die wir für existierend halten, auch unabhängig von unseren Wahrnehmungen oder Überzeugungen so existieren, wie wir sie wahrnehmen oder beschreiben. Sie betrifft also die Frage, was es wirklich und damit unabhängig von unseren Meinungen und Überzeugungen gibt – und was nicht.