Der blinde Fleck - Teile der Linken und der Antisemitismus
Viele postkoloniale Linke scheinen sich kaum für die jüdischen Opfer der Hamas zu interessieren. Welche Rolle spielt Antisemitismus in der Linken historisch und gegenwärtig? Eine Analyse von Christoph David Piorkowski.
Das progressive Denken ist auf Abwege geraten. Die radikal antisemitische Hamas hat den größten Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Ende des Holocaust verübt und sich links wähnende Menschen überall auf dem Globus schweigen, rechtfertigen, klatschen in die Hände.
Noch am Tag des Pogroms postet die US-Amerikanische Influencerin Najma Sharif: „Was dachtet ihr denn was Dekolonisierung bedeutet? Vibes, Seminararbeiten, Essays? Loser.“ Judith Butler, Ikone des Queer-Feminismus, hat die Hamas schon vor einigen Jahren als „Teil der globalen Linken“ missdeutet und scheint auch nach der Abschlachtung von jüdischen Kleinstkindern nicht zu einer besseren Einsicht gelangt. Queere Aktivist:innen marschieren mit Dschihadisten, in deren Herrschaftsbereich sie um ihr Leben fürchten müssten, um gegen den verhassten Zionismus zu wettern. Postkoloniale Linke, die jede unbedachte Alltagsäußerung auf potenzielle „Mikrorassismen“ untersuchen und es als symbolischen Gewaltakt betrachten, wenn man Menschen mit dem falschen Pronomen anredet, verklären Vergewaltigungen, Folter und Lynchmorde als antikoloniale Befreiungsaktion. Wie kommt es, dass das postkoloniale Milieu, das den linksakademischen Diskurs dominiert, Judenhass anscheinend nicht als solchen erkennt? Warum spielt die wohl geschundenste Bevölkerungsgruppe der heute bekannten Menschheitsgeschichte in ihren Diskriminierungsanalysen keine Rolle? Woher rührt diese Leerstelle namens Antisemitismus?
Verkürzte Kapitalismuskritik
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