Frankenstein, Ana und das Ich
Der Geist des Bienenstocks, derzeit in der Arte-Mediathek zu sehen, gilt als einer der besten Filme der spanischen Kinogeschichte. Zu Recht: Denn der Film gehört zu den wenigen, die direkt das Unbewusste ansprechen. Auf eindrucksvolle Weise behandelt er existenzielle Themen der Ich-Werdung und des Todesbewusstseins.
Protagonisten sind die etwa fünfjährige Ana und ihre wenige Jahre ältere Schwester Isabel. Die Kinder leben in einem kleinen Dorf auf der kastilischen Hochebene. Die Landschaft ist weit und karg, das Anwesen der Familie großzügig, aber heruntergekommen. Ausgangspunkt der Handlung des 1973 erschienen Films von Víctor Erice ist ein Kinobesuch der Mädchen: Ein Filmvorführwagen kommt ins Dorf und zeigt Frankenstein des Regisseurs James Whale aus dem Jahr 1931. Am Ende fragt Ana ihre Schwester, warum das Monster das Mädchen umgebracht habe und selbst sterben musste. Isabel antwortet ihr, dass im Kino „alles Lüge“ sei. In Wirklichkeit sei das Monster gar nicht gestorben, sondern ein Geist, der in der Nähe wohne. Ana beginnt daraufhin, nach diesem Geist zu suchen.
Die Handlung spielt um 1940, zur Zeit der Franco-Diktatur kurz nach dem Spanischen Bürgerkrieg. Die Rolle der politischen Geschehnisse wird jedoch nie explizit thematisiert und die Wirkung des Films hängt von der historischen Ausdeutung nicht ab. Sie vollzieht sich vielmehr in einer Art Hypnose, in die der Zuschauer versetzt wird und die ihn die Perspektive Anas einnehmen lässt. Diese Sichtweise lässt eine traumähnliche Wirklichkeitserfahrung an die Stelle rationalen Verstehens treten, ohne je ins Fantasy-Genre abzugleiten. Erice nutzt hierfür eine aufwendige Bildkomposition, Nahaufnahmen der unergründlichen Kindergesichter, inhaltliche Verschachtelungen (u.a. der „Film im Film“) und eine assoziative Logik, in der verschiedene Figuren miteinander identifiziert werden, ohne dass diese Identifikationen je bestätigt werden -- wie in Träumen, in denen sich eine Person plötzlich als eine andere erweist.
Begegnungen mit dem Tod
Bemerkenswert ist nun, wie Erice die Kindheit zeigt – nämlich weder als Reich vollkommener Unschuld noch als Lindgren-Erzählung, in der freche Kinder freche Dinge tun. Vielmehr erscheint sie als Zeit der Angst im kierkegaardschen Sinne: „Beobachtet man Kinder so wird man diese Angst bestimmter angedeutet finden als ein Suchen nach dem Abenteuerlichen, dem Ungeheuren, dem Rätselhaften“, schreibt der Philosoph in Der Begriff Angst. Es geht um eine zugleich scheue und faszinierte Annäherung – getrieben durch „eine sympathetische Antipathie und eine antipathetische Sympathie“ – an das unbestimmte Feld der Möglichkeiten des Lebens, insbesondere aber auch der äußersten Möglichkeit des Nicht-Seins bzw. des Todes. So erprobt etwa Ana die Rolle des Vaters, wenn sie sich seines Rasierzeugs und seiner Schreibmaschine bedient, Isabel die der Mutter, wenn sie sich die Lippen rot malt.
Vor allem aber suchen die Mädchen die Begegnung mit dem Tod: Angefangen von Anas obsessiver Beschäftigung mit der Frage, warum Mädchen und Monster in Frankenstein sterben mussten, über eine Vorliebe der Schwestern für alles Gefährliche wie giftige Pilze oder das Abhorchen der summenden Bahngleise, bis hin zu Isabels Würgen einer Katze (das eher wie ein Experiment denn wie absichtsvolle Tierquälerei anmutet). Die angstvolle Begegnung der Mädchen mit der Unbestimmtheit der Möglichkeiten und einer zugleich übermächtigen und unverständlichen Welt wird im Film immer wieder durch die Größenverhältnisse visualisiert, etwa wenn die kleinen Figuren in der endlos weiten Landschaft fast verschwinden oder vor dem vorbeirasenden Zug stehen.
Kindheit als Zeit der Angst
Auch der Existenzmodus der Eltern der Mädchen lässt sich mit Kierkegaard beschreiben, doch ist er weniger einer der süßen Angst als vielmehr der Verzweiflung und Schwermut. Die Mutter schreibt Briefe an einen abwesenden Geliebten, der Vater verbringt seine Zeit mit Imkern und in seinem Studierzimmer. Immer wieder beschäftigt er sich mit einem Textfragment, dass das Zusammenleben von Bienen beschreibt: „(…) die mannigfaltige und unaufhörliche Betriebsamkeit der Menge, die schonungslose und nutzlose Anstrengung, das fieberhafte Kommen und Gehen, die Schlaflosigkeit außerhalb der bereits von künftiger Arbeit bedrängten Brutzellen, die Ruhe des Todes selbst, ausgeschlossen aus einer Wohnstätte die weder Kranke noch Grabmäler duldet; jemand also, der all dies zu sehen bekam, wandte nach dem ersten Staunen alsbald den Blick ab, aus dem ich weiß nicht was für ein betrübtes Entsetzen sprach.“ Diese Stelle, ein Auszug aus dem Essay Das Leben der Bienen des belgischen Autors Maurice Maeterlinck, wurde von Kritikern als Beschreibung des Lebens in der Franco-Diktatur verstanden. Sie lässt sich aber auch allgemeiner als Charakterisierung eines mechanischen und konformistischen Erwachsenenlebens lesen, das der eigenen Freiheit ausweicht. Die Eltern wiederum sind nicht Teil einer solchen blinden Betriebsamkeit, sondern scheinen aus ihr ausgestiegen zu sein, ohne ihr einen eigenen Entwurf entgegensetzen zu können.
Die Kindheit hingegen ist, wie Kierkegaard schreibt, eine Zeit der Unbewusstheit, in der „der Geist (...) träumend im Menschen“ ist. Gemeint ist, dass das reflexive Selbstverhältnis und die Unterscheidung von Gut und Böse noch nicht erwacht, aber auch nicht vollkommen abwesend sind. Für Ana wird ihre Suche nach dem Frankensteinmonster zum Initiationsritual, indem sie eine Ahnung ihrer eigenen Individualität erfährt. Folgerichtig endet der Film damit, dass Ana nachts am Balkon beschwörend flüstert: „Ich bin Ana“. •
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