Hannah Arendt und die Lüge
Lügen gilt als unerhört, die Suche nach Wahrheit als nobel. Doch in der Politik verhält es sich mitunter umgekehrt, behauptete Hannah Arendt vor über 50 Jahren: Hier eröffnen Lügen Handlungsspielräume. Wahrheit ist dagegen despotisch.
Die Psychologie weiß, dass wir alle häufig lügen – mindestens zwei Mal pro Tag, behaupten manche Studien, bis zu 200 Mal, sagen andere. Jedenfalls nehmen wir es mit der Wahrheit im Alltag nicht sehr genau – und die Tradition und ihre Institutionen zeigen sich auch großzügig: Zwar sollen wir kein falsches Zeugnis ablegen, aber zu den christlichen Todsünden zählt die Lüge nicht. Lange war sie nicht justiziabel und ist es auch heute nur, wenn der Belogene durch eine Lüge nachweislich zu Schaden gekommen ist. Dass selbst die Sprache ein lässliches Verhältnis zur Lüge pflegt, verraten Metaphern wie „einen Bären aufbinden“. „Woher in aller Welt (…) der Trieb zur Wahrheit!“, seufzte Nietzsche also mit Recht. Unter den Philosophen war Kant einer der wenigen, die dem Lügen die Stirn boten. In seiner Schrift „Über ein vermeintes Recht aus Menschenliebe zu lügen“ von 1797 verurteilte er den frommen Betrug in guter Absicht rigoros.
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Das Lügenparadox
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