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Bild: Diane von Schoen

Interview

Julian Nida-Rümelin: „Wir müssen anerkennen, dass wir uns immer irren können“

Julian Nida-Rümelin, im Interview mit Timm Lewerenz veröffentlicht am 27 September 2024 11 min

Julian Nida-Rümelin hat seine Erinnerungen vorgelegt. Und gleichzeitig eine Untersuchung über den schwankenden Zeitgeist. Ein Gespräch über Peak Woke, die Probleme des Faktenchecks und Oppenheimer als Film der Stunde. 

 

Herr Nida-Rümelin, wer sich vom Zeitgeist leiten lässt, verhalte sich wie die Ähren im Wind, so schreiben Sie in Ihrem gleichnamigen Buch. In welche Richtung neigen sich die Ähren eigentlich im Moment?

Nach den neoliberalen Stimmungen der ego-orientierten Neunziger und frühen 2000er Jahre erleben wir derzeit eine Repolitisierung. Das ist für sich genommen gut, geht aber leider damit einher, dass populistische Parteien an Zustimmung gewinnen. Ob sich die Ähren nun nach links oder rechts biegen, ist schwer zu sagen, da diese Kategorien nicht mehr so gut greifen. Das galt schon für die oft als links beschriebene Ökologiebewegung, die konservative Elemente des Bewahrens teilweise mit einem technologieoffenen Fortschrittsoptimismus verbindet.

Wenn man nicht so recht feststellen kann, ob sich die Ähren nach links oder rechts biegen, warum wählen Sie dann diese Metapher?

Es ist die Volatilität, die Schnelligkeit des Umdenkens, die mich an die Bewegung der Ähren im Wind denken lässt. Immer wieder erstaunt es mich, wie bereitwillig sich auch kluge Leute an Stimmungslagen anpassen und dies im Nachhinein wieder bereuen. Ich möchte keine Namen nennen, aber es gibt zahlreiche Prominente, die auf keinen Fall mit ihren Zitaten von früher konfrontiert werden wollen.

Sie dagegen scheinen dem Zeitgeist gerne zu trotzen. Im April 2020 forderten Sie im Spiegel ein schnelles Ende des Lockdowns, später warnten Sie vor der „Cancel Culture“ als mögliches „Ende der Aufklärung“. Sind Sie keine Ähre im Wind?

Zumindest überlege ich meine öffentlichen Äußerungen relativ gründlich. Ich ecke an, weil ich diese Konformität nicht einfach mitmache. Dabei würde ich mich nicht als streitbar bezeichnen, was gerne über mich gesagt wird. Ich hasse Streit, vor allem privat.

Um der Konformität zu widerstehen, braucht es politische Urteilskraft. Bildung und Intelligenz seien dafür keine Garantie, schreiben Sie in Ihrem Buch …

In der Tat gibt es keine Korrelation zwischen bestimmten politischen Einsichten und einem höheren Bildungsstand. Das zeigen die neuesten Analysen zur Landtagswahl in Brandenburg genauso wie ein Blick in die Geschichte. Der Deutsche Akademikerbund war einer der ersten, der sich Hitler unterwarf und die NS-Studentenbewegung betrieb bereits in den 1920er Jahren Cancel Culture in der Unterdrückung jüdischer und linker Stimmen. Vielleicht sind intellektuelle Zirkel sogar besonders anfällig für radikale Ideen. Zum Beispiel dachte Hans-Magnus Enzensberger am Vorabend des RAF-Terrors darüber nach, ob es nicht eine Stadt-Guerilla bräuchte. Gruselig, da reibt man sich die Augen.

Aber wenn Intelligenz und politische Bildung nicht genügen, was braucht es denn dann? Charakter, Haltung oder Tugend?

Man muss sich selbst ein Bild machen. Es braucht eine gewisse Skepsis gegen vorgefertigte Meinungen, die sich in vielen Medien wiederholen. Im erkenntnistheoretischen Sinne bin ich „Kohärentist“, will sagen: Kohärenz ist alles, was wir haben. Wir müssen versuchen, unsere Informationen zu gewichten, auf ihre Verlässlichkeit zu prüfen und mit einer Interpretation zu versehen, die ein stimmiges, zusammenhängendes Bild ergibt.

Aber können nicht auch Verschwörungstheorien kohärent sein?

Sie sind nur nach innen stimmig, schirmen sich jedoch, wie sämtliche Ideologien, nach außen ab. Für kritische Einwände und neue Erfahrungen sind sie taub. Nur übereinstimmende Meinungen werden akzeptiert, die zur eigenen Stabilisierung gebraucht werden.

Sie schreiben, Jüngere hätten in politischen Fragen oft einen besseren Bildungsstand als viele Ältere in ihrem ganzen Leben. In den Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen wählte rund jeder dritte junge Wähler die AfD. Wie erklären Sie sich das?

Ich lehne es ab, den jungen Wählern eine Narrenfreiheit einzuräumen. In dem Zusammenhang steht meine Aussage. Und wer sagt, dass junge Menschen immer links sein müssen? Der bekannte Spruch, „wer als junger Mensch nicht links ist, hat kein Herz, wer im Alter noch links ist, keinen Verstand“, ist Blödsinn. Auch die Jüngeren können eine ausgeprägte politische Urteilskraft haben, anstatt bloß irgendeiner Laune zu folgen.

Die rechtspopulistische Wahlentscheidung vieler junger Wähler halten Sie also für wohl überlegt?

Auf jeden Fall würde ich davor warnen, sie als jugendliche Allüre abzutun. Meine Vermutung ist eher, dass wir derzeit „Peak Woke“ erleben, so wie wir in den frühen 2000ern ein „Peak Oil“ diagnostiziert haben, also ein historisches Maximum, auf das nun der Abstieg folgt. Dass die jungen, volatilen Wähler ihre zunehmende Anti-Wokeness nun darin äußern, dass sie AfD wählen, ist sehr betrüblich. Aber ja, ich habe wirklich das Gefühl, dass viele junge Menschen von den politisch-korrekten Indoktrinationen, die sie erfahren, die Nase vollhaben.

Sind es nicht vielmehr die rechtsextremen Indoktrinationen in den Sozialen Medien, die ihr Wahlverhalten beeinflussen?

Das spielt sicher auch eine Rolle, aber TikTok und Co. gibt es schon länger. Der totale politische Umschwung innerhalb von zwei Jahren – von links-grün nach Rechtsaußen – lässt sich damit nicht erklären. Die rechten Online-Kampagnen laufen so oder so, die Frage ist: Warum fallen sie auf fruchtbaren Boden? Ich bin kein Kommunikationswissenschaftler, aber ich vermute, manche Entwicklungen gehen vielen Jungen zu weit. Denken Sie an diese Tradwife-Trends, wo junge Influencerinnen vor einer millionenstarken Followerschaft ihr Leben als Hausfrau zelebrieren. Offensichtlich gibt es in dieser Generation Bedürfnisse, die sich nicht mit unseren Stereotypen einer links bewegten Fridays-for-Future-Jugend decken.

Wo wir gerade von Jugend sprechen: Dem revolutionären Zeitgeist um 1970 haben Sie zumindest ästhetisch entsprochen. Frisur und Kleidung führten dazu, dass ein Lehrer Ihre Mutter ermahnte, besser auf das Aussehen ihres Sohnes zu achten. Andererseits haben Sie damals auf Ihre Umhängetasche „no revolution“ gekritzelt – als Akt der Abgrenzung?

Ja, ich fand die damalige Revolutionsromantik hoch problematisch, diese Romantisierung von Che Guevara und Fidel Castro bis zur Bejahung der Gewalt gegenüber Polizisten, die man als „Bullen“ entmenschlichte. Dabei hatte die Jugendbewegung von den Beatniks zu den Hippies mit humanistischen Idealen begonnen, dem Plädoyer für einen achtsamen Umgang mit der Natur und Frieden.

Sie bezeichnen sich selbst als Pazifist, da sie die Tötung unschuldiger Menschen prinzipiell für unzulässig halten. Ist das nicht ein sehr schwammiges Verständnis von Pazifismus?

Im Krieg werden unschuldige Menschen getötet. Damit meine ich nicht nur die Zivilbevölkerung, sondern auch die Soldaten, die ja in den seltensten Fällen freiwillig an der Front sind, oder bei der Bombardierung ihres Feldlagers ums Leben kommen. Das ist ein tiefer Bruch mit humanistischen Werten und daher unzulässig. Doch pragmatisch gesehen, kann Krieg nur dann verhindert werden, wenn Verteidigungen erfolgreich sind, Angriffe jedoch nicht. Deshalb befürworte ich eine starke Bundeswehr zur eigenen Landesverteidigung und bin gegenüber Militärinterventionen höchst skeptisch. Doch es bleibt die Paradoxie, die ich nicht lösen kann: Wenn ich prinzipiell das Töten unfreiwillig eingezogener Soldaten ablehne, wie soll ich mich dann verteidigen?

Für die aktuelle internationale politische Lage gäbe es, so schreiben Sie, keinen passenderen Film als Christopher Nolans Oppenheimer (2023). Was kann uns dieser Film sagen?

Mit dem Bau der Atombombe im Manhattan-Projekt kam etwas völlig Neues in die Welt: die Möglichkeit der menschlichen Selbstvernichtung auf diesem Planeten. Oppenheimer ging es darum, die Nationalsozialisten zu stoppen. Als der Krieg gegen die Deutschen zu Ende war, kam die Bombe in Hiroshima und Nagasaki dennoch zum Einsatz, obwohl klar war, dass die Japaner in einigen Wochen oder Monaten kapitulieren würden. In dem Moment erkennt Oppenheimer, dass ihm diese Technik entglitten ist. Zugleich klammert er sich an die Hoffnung, dass dieses Schrecken das Potenzial hat, Frieden zu stiften, wenn die Nuklearmächte USA und die Sowjetunion zusammenarbeiten. Dazu kam es zwar nicht, aber spätestens nach der Kubakrise 1962 war nicht nur den Mächtigen klar: Wir brauchen Stabilität und dürfen Konflikte nicht mehr unkontrolliert eskalieren lassen. Diese historische Lehre steckt in Oppenheimer und sie scheint mir nach 1990 verloren gegangen zu sein.

Man könnte aus Oppenheimer auch den Schluss ziehen, dass der oft gepriesene technologische Fortschritt mehr Fluch als Segen ist. Sie aber vertrauen darauf, Technik würde das menschliche Leben auf unserem Planeten kontinuierlich verbessern. Was macht Sie da so sicher?

Der technische Fortschritt beinhaltet keinen Automatismus. Ich bin kein Marxist. Aber technische Neuerungen können dazu eingesetzt werden, das Leben auf dieser Welt zu verbessern. It’s up to us, das ist ja der Kern humanistischer Philosophie: nur Menschen handeln, diese können auch entscheiden, zum Beispiel aus Technologien wie der Kernkraft wieder auszusteigen. Ich vertrete keinen Technikdeterminismus, der die Technik als das bestimmende Subjekt begreift. Wir sind es, die handeln. Und wir dürfen Innovationen nicht aus Angst unterdrücken, jemand könne sie missbrauchen.

Also haben Sie kein Vertrauen in die Technik, sondern in die Menschen, sie richtig zu nutzen?

Es gibt das Potenzial, aber keine Garantie, sie richtig zu nutzen. Der Abwurf der Atombomben war ein Menschheitsverbrechen und das lange Festhalten an fossiler Energie ein großes Versäumnis. Doch die Entwicklungen liegen in unserer Hand und für Atomenergie gilt dasselbe wie für Künstliche Intelligenz: Es ist unsere Aufgabe und die der Politik, sie zum Wohle aller zu nutzen und uns dabei nicht von Angst leiten zu lassen.

Da Sie die Politik ansprechen: Von 1998 bis 2002 waren Sie Kulturstaatsminister im Regierungskabinett Gerhard Schröders. Dass die Philosophen herrschen sollten, forderte schon Platon. Aber was bleibt von der Philosophie in einem so hohen Amt eigentlich noch übrig?

Die intensive Beschäftigung mit politischer Philosophie garantiert noch keinen politischen Erfolg. Dass meine Amtsführung doch recht reibungslos funktionierte, lag nicht an meiner philosophischen Expertise, sondern daran, dass ich mich über viele Jahre politisch engagiert hatte und vorher bereits als Kulturreferent der Stadt München tätig war. Wissenschaft und Politik folgen grundsätzlich verschiedenen Rationalitäten.

Worin sehen Sie die wesentlichen Unterschiede?

Die wissenschaftliche Sphäre ist wahrheitsorientiert, oder sollte es sein. Es geht darum, herauszufinden, was der Fall ist. Die politische Sphäre ist dagegen entscheidungsorientiert. Das heißt jedoch nicht, dass es in der Politik nur um Einfluss geht und nicht auch um Wahrheiten. Es gibt Politiker, die sich tatsächlich bloß um Interessenausgleiche bemühen, aber wirklich substanziell wird es erst, wenn man sich fragt, was das objektiv Richtige ist, und wie es erreicht werden kann. Das Ringen um politische Entscheidungen wird dadurch ernsthafter und nur so kann eine Demokratie gelingen. Geben wir dieses Ringen um das Richtige auf, bleiben nur noch wechselseitige Diffamierungen, wie wir sie derzeit im US-Wahlkampf beobachten können.

In diesem öffentlichen Ringen um das Richtige wird auch die Relevanz der Wissenschaft kontrovers diskutiert: Auf der einen Seite steht die Wissenschaftsfeindlichkeit alternativer Fakten, auf der anderen die klima-aktivistische Forderung „follow the science“. Sie scheinen beiden Positionen gleichermaßen zu misstrauen.

In der Tat. Wir erleben derzeit eine radikale kulturelle Wende, die vielen nicht bewusst ist. Sie zeigt sich darin, dass auch prominente Journalisten mit Nachdruck fordern, wir müssen eindeutig zwischen Meinungen und Fakten unterscheiden. Wenn das so leicht wäre, bräuchte es keine Erkenntnistheorie. Die fragt nämlich: „Wie finden wir heraus, was ein Fakt ist?“ Der Journalist antwortet: „Die Wissenschaft weiß das.“ Aber so einfach ist es nicht.

Sie plädieren für einen Fallibilismus. Was meinen Sie damit?

Wir müssen anerkennen, dass wir uns in der Regel immer irren können. Für wissenschaftliche Theorien gilt das ohnehin, wie schon der Philosoph Karl Popper erkannt hat. Irgendwann wird jede wissenschaftliche Annahme einmal widerlegt und wenn sie grundsätzlich nicht widerlegt werden kann, ist sie keine wissenschaftliche. Wir sind in einer permanenten Suchbewegung und die Wissenschaften haben hochqualifizierte Methoden entwickelt, um einen thematisch begrenzten Konsens zu erreichen, der seinerseits meist nur vorübergehend Bestand hat. Im Mittelalter suchte man das fundamentum inconcussum, eine letzte unhintergehbare Instanz, auf der wir unser Wissen gründen können. Die Wissenschaft kann eine solche letzte Instanz nicht bieten. Es ist bedauerlich, dass nach einer Zeit der radikalen Bestreitung von Objektivität und Wahrheit, nun ein so naives Wahrheitsverständnis um sich greift.

Als ein besonders „bizarres Phänomen“ unserer Zeit bezeichnen Sie den Faktencheck in journalistischen Formaten. Was ist denn dagegen einzuwenden, gegen Falschinformationen vorzugehen?

Grundsätzlich ist dagegen nichts einzuwenden. Und es gibt Fälle, in denen Falschaussagen durch den bloßen Verweis auf empirische Daten widerlegt werden können. Zum Beispiel, wenn Donald Trump behauptet, die US-Wirtschaft unter Joe Biden sei die schlechteste aller Zeiten. Doch in vielen anderen Fragen, zeigt sich, dass die Vorstellung einer letzten Instanz, die zwischen wahr und falsch unterscheidet, für Missbrauch anfällig ist.

Woran denken Sie da?

Vor allem an ideologische Verwerfungen. Manches, was in der Corona-Pandemie der Verschwörungstheorie verdächtigt und von Faktencheckern vermeintlich „widerlegt“ wurde, stellte sich im Nachhinein als richtig heraus. Zum Beispiel behauptete ich unter Rückgriff auf eine frühe italienische Studie im März 2020, dass Unter-30-Jährige von einer Corona-Infektion nicht stärker bedroht seien, als durch eine Grippe. Der Widerspruch war damals groß, unterdessen wird das kaum noch bestritten. Joshua Kimmich wurde öffentlich diffamiert, weil er sich unsicher zeigte, ob er sich impfen lassen solle. Diese Unsicherheit war, wenn man sich die Daten anschaut, berechtigt. Wir sollten also stets objektivitätsorientiert diskutieren und die eigenen Argumente und Aussagen ebenso prüfen wie die des Gegenübers. Doch die Annahme einer unhintergehbaren Wahrheitsinstanz ist meistens trügerisch. Und nicht selten folgen Faktenchecks auch den Interessen von Stiftungen und Geldgebern.

Im November dieses Jahres werden Sie 70 Jahre alt. Um Ihre Biografie begreifbar zu machen, sprechen Sie von einer „Deontologie der Lebenspraxis“. Was meinen Sie damit?

In unserer Gesellschaft dominiert vielerorts der Ansatz des Konsequentialismus, der besagt, dass eine Handlung nur dann rational ist, wenn man die Folgen optimiert. Das widerspricht jedoch unserer Art zu denken und zu handeln. Wir treffen unsere Entscheidungen nicht, weil wir uns vorteilhafte Folgen versprechen, die wir ohnehin oft nicht absehen können, sondern weil wir sie für sinnvoll und richtig erachten. In anderen Worten: Eine vernünftige Praxis ist deontologisch verfasst, weil sie sich in Strukturen einbettet, die wünschenswert sind. Deontologisch kommt vom altgriechischen to déon, oft mit „Pflicht“ übersetzt, besser noch mit „das Gesollte“.

Das klingt fast so, als ob Sie Ihren bisherigen Lebensweg als einen vorgefertigten Pfad betrachten, den Sie verpflichtet waren, entlangzugehen.

Ganz so ist es auch nicht. Es stimmt, dass ich gegenüber der existenzialistischen Überzeugung, wir könnten uns stets immer wieder von Grund neu entwerfen, sehr skeptisch bin. Wir tragen viel mit uns herum, entstanden in unserer Kindheit, durch Sozialisation und Erbanlage. Ich bin kein gänzlich unbedingtes Subjekt, das über seine Existenzform entscheidet. Doch innerhalb der biologischen, sozialen und kulturellen Bedingtheiten gibt es Spielräume. Manche nutzen sie mehr, andere weniger.

Haben Sie Ihre Spielräume genutzt?

Auf jeden Fall habe ich immer wieder zwischen zwei Wegen geschwankt, habe verschiedene Abbiegungen ausprobiert. Zunächst stellte sich die Frage „Kunst oder Wissenschaft?“, dann: Sollte ich die Physik oder die Philosophie zum Beruf machen? Später hatte ich zwischen Politik und Wissenschaft zu entscheiden, was ich beides – das eine weit länger als das andere – ausüben durfte. Nie wollte ich mich zu früh verengen lassen. Einen übergeordneten Plan gibt es bei alldem nicht. Erst im Laufe der Zeit kristallisiert sich etwas heraus. Das ist es dann, was einem inmitten all der Zufälligkeiten und Uneindeutigkeiten als das Richtige erscheint. •
 

Julian Nida-Rümelin ist emeritierter Professor für Philosophie und politische Theorie an der LMU München. Seit 2020 ist er stellvertretender Vorsitzender des Deutschen Ethikrats. Gestern erschien sein Buch „Ähren im Wind. Politische Orientierung in fordernder Zeit“. Piper Verlag. 304 Seiten. 24 €
 

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