Juliette Morice: „Der ,Instagram-Reisende' beansprucht absolute Freiheit, ist aber ständig lokalisierbar“
Die Verhaftung eines Deutsch-Franzosen im Iran verdeutlicht die Risiken, die mit Reisen in touristisch nicht erschlossene Gebiete einhergehen. Für die französische Philosophin Juliette Morice hat die Figur des abenteuerlichen Reisenden jedoch Bestand – auch wenn Instagram das Bild etwas verzerrt.
Frau Morice, in Anbetracht von Kriegen, Diktaturen oder der Klimakrise: Ist das Reisen heute so gefährlich, dass man lieber darauf verzichten sollte?
Es ist unvorstellbar, dass wir unter dem Vorwand, die Welt sei gefährlicher geworden, nicht mehr reisen könnten. … Die Welt war in der Vergangenheit genauso gefährlich, wenn nicht sogar noch gefährlicher, und Kriege hat es schon immer gegeben. Was sich heute ändert, ist die Möglichkeit, sich im Voraus zu informieren und zu wissen, welche Gebiete man meiden sollte. Aber gerade weil man weiß, dass es dort riskant oder verboten ist, gibt es immer Menschen, die an diese Orte reisen wollen. Dies gilt umso mehr, da als Reaktion auf die Ausbreitung des zeitgenössischen Übertourismus der Wunsch entsteht, ein Ideal des Reisens zu bewahren, das als „authentisch“, d. h. abenteuerlich verstanden wird. Wir beobachten sogar die Entstehung von Tourismus in der roten Zone, also der höchsten Risikokategorie, die vom französischen Außenministerium festgelegt wurde. Trotz der Hinweise des Ministeriums gibt es einige Reiseführer und Agenturen, die Reisen in diese roten Zonen anbieten. Es gibt also eine Reihe von Personen, die diese Art von Reisen suchen – entweder, weil sie risikofreudig sind und sich nicht vorstellen können, „normal“ zu reisen, oder weil sie das Realitätsprinzip ablehnen, das die meisten von uns dazu zwingt, zu akzeptieren, dass bestimmte Orte auf der Welt für uns vorübergehend oder dauerhaft unzugänglich sind.
Was sagt uns die Aktion des jungen Deutsch-Franzosen, der im Iran verhaftet wurde, über die Ideale, die wir mit Reisen verbinden?
Der Plan dieses jungen Mannes, der mit dem Fahrrad durch den Iran fuhr, scheint an der Schnittstelle mehrerer Ideale zu liegen, die mit dem Reisen verbunden sind. Da ist zunächst das alte Ideal der Reise nach dem Schulabschluss, welches darauf abzielt, die eigene Bildung durch die direkte Konfrontation mit der Welt zu krönen. Dann gibt es ein Ideal, das neu ist: das ökologische Ideal. Der junge Mann wollte nicht nur eine Nachhaltigkeit der Reise mit dem Fahrrad aufzeigen, sondern auch Umweltverschmutzung dokumentieren. Es ist darüber hinaus wahrscheinlich, dass man zunehmend mit einer neuen Art des Dilemmas konfrontiert wird, welches das ökologische und das politische Problem miteinander verknüpft. Wenn man das Fliegen vermeiden will, kann man zwar den Landweg nutzen, aber man riskiert, den damit verbundenen Gefahren ausgesetzt zu sein. Im Gegensatz dazu hat das Flugzeug den Vorteil, dass man gefährliche Räume umgehen kann. Dies zu wählen, kollidiert jedoch mit dem neuen ökologischen Ideal. Man sieht also deutlich, dass beim Reisen bestimmte Ideale aufeinanderprallen.
Die Intention des 19-Jährigen, wegen der Schönheit der Kultur in den Iran reisen zu wollen, deutet darauf hin, dass er eine idealisierte Beziehung zum Reisen hat. Wie lässt sich das Fortbestehen eines solchen Ideals heute erklären?
Die Reise ist immer zwischen dem Ideal und der Realität hin- und hergerissen. Einerseits existiert eine ganze Mythologie, die das Reisen umgibt: Man neigt dazu, aus dem Reisen einen Ort der privilegierten, spirituellen Erfahrung zu machen, die uns den Sinn des Lebens offenbaren kann, und Reisen als Beweis und Manifestation unserer Freiheit zu betrachten. Andererseits bleiben Reisen aber dennoch der Ort par excellence für eine Konfrontation mit der Realität: Sie stellen eine Prüfung für einen selbst im Kontakt mit der Welt dar, in dem, was trivial und wenig erfreulich sein kann. Das ist das sehr Paradoxe und Überraschende am Reisen.
Verkörpert der junge Mann für Sie die literarische Figur des Abenteurers?
Ja, bis zu einem gewissen Grad. Der Historiker Sylvain Venayre zeigt auf, dass das Ideal des Abenteuers mit dem Aufkommen eines romantischen Bild des Reisenden entstand. Eines der vielen Paradoxe des Abenteuers ist, dass es zu einer Zeit entstand, als Reisen eigentlich einfacher und komfortabler wurde. Unter dem Ancien Régime wurde das Abenteuer gefürchtet, nicht nur, weil Reisen viel gefährlicher war, sondern auch, weil die Normen und Werte rund um das Reisen ganz anders waren als heute. Mindestens bis ins 18. Jahrhundert galt der Reisende, der waghalsige Risiken einging, als Angeber und Abschreckungsmittel. Damals gab es eine ganze Literatur namens „Apodemik“, die sich mit der Kunst des „guten Reisens“ befasste. Sie bestand darin, Vor- und Nachteile abzuwägen und zu bestimmen, was ein guter Grund zum Reisen sei – kurz gesagt, eine Methode zu definieren, um sinnvoll (und nicht nur zum Vergnügen) zu reisen. Eine der Herausforderungen bestand darin, sich der Welt zu öffnen, ohne jemals zum „Spielball des Schicksals“ zu werden. Vor allem war es weder tugendhaft noch bewundernswert, Risiken umsonst einzugehen, ganz im Gegenteil. Die Idee des Reisenden, der sich aufmacht und allein reist, ist relativ neu.
Was zeichnet ein Abenteuer aus?
Der Philosoph Vladimir Jankélévitch definiert etwa das Abenteuer am Beispiel der Besteigung des Mount Everest und behauptet, dass es einen Moment gibt, in dem die Freiheit beschließt, die Vernunft in den Hintergrund zu drängen. Mit anderen Worten, es gibt offensichtlich keinen guten Grund, Risiken einzugehen: Es handelt sich eher um einen autokratischen Akt der Freiheit. Das Paradoxon des Abenteuers besteht nun darin, dass man sich in ein Abenteuer stürzt, weil man weiß, dass man dabei sterben kann. Das Problem ist, dass Ratschläge und Warnungen (seien es die von Verwandten oder politischen Autoritäten oder Ratschläge, die von der eigenen Vernunft diktiert werden) nur wenig Einfluss auf den Reisenden haben. Jankélévitch zufolge kann man als Gott oder Engel, d. h. als unsterbliches Geschöpf, kein Risiko eingehen. Im Gegensatz dazu hat der Mensch als endliches und verletzliches Lebewesen das „Privileg“, reisen zu können, und fühlt sich dadurch lebendig.
Inwiefern verändert die „Instagramisierung“ des Reisens diese Situation?
Sie neigt dazu, den Ethos des abenteuerlustigen Reisenden zu verstärken, während sie diese Figur gleichzeitig zu einem Widerspruch in Aktion macht: Der Abenteurer beansprucht absolute Freiheit, ist aber gleichzeitig ständig verortbar. Sehen Sie sich das Beispiel der App Polarsteps an, mit der Reisende in Echtzeit auf einer Karte verfolgt werden können. Ein weiterer Aspekt des Instagram-Reisenden erscheint mir problematisch: Es wird eine einzigartige Art zu reisen angepriesen und gleichzeitig Tipps geliefert, wie man diese Reise nachmachen kann. Letztendlich verstärkt Instagram, dass unbedachte Risiken eingegangen werden. So wie es auf Reisen viele Todesfälle durch Selfies gibt, bei denen Menschen Fotos von sich selbst über dem Abgrund oder zu nahe an einem gefährlichen Ort machen, scheint mir, dass die Darstellung und Inszenierung der eigenen Person zu einer Form der Derealisierung führen kann. Der Fotograf Martin Parr hat über diese makabre Realität eine Fotoreportage mit dem Titel Death by Selfie gemacht. Waren sich diese Menschen der Risiken nicht bewusst oder wurden sie von der Intensität der Landschaften eingenommen? Dieses Beispiel ist ein weiterer möglicher Einwand gegen die „Eitelkeit“ des Reisens (ein wiederkehrender Einwand im Ancien Régime), insofern das Reisen letztlich darin besteht, sich selbst zu betrachten und daran zu sterben.
Wie können wir dieser Derealisierung entgehen, die von einer Instagramisierung ausgeht?
Vielleicht, indem man einfach nur ein Reisetagebuch führt? Der Reisebericht und das Reisen haben eine sehr alte und fast schon notwendige Verbindung (natürlich nur, wenn man von einer etwas längeren und weiter entfernten Reise spricht). Im Schreiben geht es nicht nur darum, Zeugnis abzulegen und sich (nach der Rückkehr) zu erinnern, sondern vor allem darum, eine Form der geistigen Gesundheit zu bewahren, indem man das Gefühl für Raum und Zeit behält, während man beim Reisen - per Definition - desorientiert und manchmal allein ist. Es ist ein Unterschied, ob man sich Notizen in einem Notizbuch macht oder sich live für soziale Netzwerke filmt. Es klingt rückwärtsgewandt, wenn ich das sage, aber mir scheint, dass das Schreiben eine Art der Reifung, Wiederaufnahme und Verdauung erfordert; kurz gesagt eine Zeitlichkeit des „Aufgeschobenen“ (die mir übrigens geeignet erscheint, das Ideal von Freiheit und Einsamkeit zu bewahren, das viele Reisende heute dennoch antreibt). Eine Zeitlichkeit, die sich deutlich von der Unmittelbarkeit unterscheidet, die von den sozialen Netzwerken gefordert wird und die die Erfahrung des Reisenden in dem Moment filtert, in dem er sie eigentlich machen sollte. Natürlich ist mir bewusst, dass in der Praxis des Instagram-Reisens auch ein Ideal am Werk sein kann, nämlich das des „Teilens“. Aber was genau soll geteilt werden? Wem ist ein Reisender verpflichtet? Wäre seine Erfahrung dieselbe, wenn er sie nicht teilen würde? •
Juliette Morice ist französische Philosophin und unterrichtet Literatur und Philosophie der Moderne an der Universität Le Mans. Zuletzt erschien ihr Buch „Renoncer aux voyages. Une enquête philosophique“ (PUF, 2024), in dem sie über die Geschichte des Reisens reflektiert.