Kerstin Decker: „Im Paradies zieht es nicht“
Der Wind scheint auf den ersten Blick ein Hauch von Nichts zu sein, auf den zweiten ist er jedoch überall: In der Windkraftanlage und in den Segeln der Schiffe, im Atem und in der Seele, in der Religion und im Kommunismus. Im Interview zu ihrem Buch Eine kleine Geschichte des Windes spricht die Philosophin Kerstin Decker über das unterschätzte Phänomen.
Frau Decker, Ihr neues Buch Eine kleine Geschichte des Windes ist ein Streifzug durch die Geschichte der Menschheit, von einem höchst flüchtigen Element her betrachtet: dem Wind. Woher kam diese windige Idee?
Der Reiz war eben diese Flüchtigkeit. Der Wind gehört zu den Hintergrundphänomenen unseres Daseins, das heißt, wir nehmen ihn meistens gar nicht wahr, wenn er nicht gerade als werdender Sturm auf sich aufmerksam macht oder durch sein völliges Fehlen: als Windstille. Selbst unser Atem bleibt gewöhnlich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle. Wind ist bewegte Luft, auch Atem ist Wind. Es handelt sich zudem um die Grundverrichtung unseres Daseins, wir atmen 20 000 mal am Tag. Das Äußerste also ist zugleich das Intimste, das Intimste zugleich das Äußerste. Das ist doch ein Buch wert! Oder um es mit Hegel zu sagen: Das Bekannte ist noch nicht das Erkannte.
Zugleich widmen sie der Windkraft-Technik große Aufmerksamkeit, von der Windmühle und dem Segel bis zum Windrad, dem Luftschiff und dem Frachtsegler der Zukunft.
Ja, der konkrete Anstoß zum Buch, war eine Windkraft-Reportage, die ich geschrieben habe. Die letzte große Rotorblattflügelfertigung – Nordex in Rostock – verließ im vorigen Jahr das Windkraft-Pionierland Deutschland (neben Dänemark) und zur selben Zeit rief Robert Habeck die heiße Phase des Windkraftausbaus aus. Das passt nicht unbedingt zusammen. Zugleich kam die Nachricht, dass das Windrad des Leipziger Rentners Horst Bendix – er war promovierter Maschinenbauingenieur und hatte einst den Kran entworfen, mit dem die Kugel auf den Berliner Fernsehturm gesetzt wurde – wirklich gebaut wird. In Bendix' Entwurf war es so hoch wie der Berliner Fernsehturm, und zwar mit Spitze! Das Kennwort lautet: Höhenwind, Höhenwindtechnologie.
Sie schreiben, der Genius der meisten Erfindungen der Menschheit sei die Faulheit und der Wind sei ihr erster großer Komplize. Wie meinen Sie das?
Was ist denn der Antrieb, etwas zu erfinden? Entweder das Streben nach Noch-mehr-noch-schneller oder der Wunsch nach Erleichterung. Wir delegieren gern Arbeit auf andere, etwa auf den Wind als dienstbaren Geist. Die Windmühle war die erste Kraftmaschine der Menschheit. Das Segel entlastete die Ruderer. Die älteste – bekannte – Darstellung eines Segels finden wir auf einer 8000 Jahre alten Felsenzeichnung in der nubischen Wüste. Der Wind ist der älteste Verbündete des Menschen.
Oder ist er noch mehr? Sie sagen: „Am Anfang war der Wind!“ Wirklich?
Wir leben in einer globalen Windkommune: Die Welt ist alles, was vom Wind umweht wird. Und denken Sie an die ersten Sätze der Bibel: „Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern“. Das hebräische Wort lautet „ruach“. Und das heißt nichts weiter als „Wind, Hauch“. „Heiliger Geist“ ist schon eine sehr freie Übersetzung. Doch wir dürfen von einem höchst kreativen Wind ausgehen, die Liaison des Elements mit der schöpferischen Kraft ist von Anfang an da. Und nehmen sie die griechischen Urworte für Seele, psyche und anémos. Das ist erst einmal kein besonderer Stoff, nichts übersinnlich Exklusives. Die Wortbedeutung ist wiederum: Hauch und Wind. Nicht zu vergessen das pneuma: Wind. Man schrieb ihnen zu, das Bewusstsein des Höheren, des Rationalen zu beherbergen – all das, was auch die Philosophie kennt.
Er ist der „Urvater von Allem“, schreiben Sie.
Habe ich das gesagt? Den Urvater der Globalisierung habe ich ihn genannt. Aber Sie wollen wohl auf die alte, leicht anachronistische Frage der Philosophie nach dem Ursprung, dem Urprinzip hinaus. Da gibt der Wind in der Tat eine erfrischende Antwort. Man könnte vielleicht sagen: Der Wind ist der Atem der Welt. Wenn etwas am Anfang ist, dann ist es der Wind.
Welchen Stellenwert hat der Wind in der Philosophiegeschichte?
In der ganzen klassischen Denktradition, innerhalb der Metaphysik ist der Wind ein Sekundärphänomen, er gehört ins Reich der Empirie. Immerhin war Aristoteles der Begründer der empirischen Naturwissenschaften und der Aristoteles-Schüler Theophrastos von Eresos hat Wind und Wetter untersucht. Woher wehen die Winde und wie wirken sie auf uns? Es war wichtig, ihn zu erforschen, aber da, wo wir eigentlich hinwollen, ist Ruhe. Christlich gesprochen: Im Paradies zieht es nicht. Das vollkommene Sein ist niemals ein windiges. Nur unvollkommenes Sein ist bewegtes, gegebenenfalls stürmisches Sein. Allerdings stammt von Aristoteles das vielleicht schönste Windzitat: „Wir können den Wind nicht ändern, aber die Segel anders setzen.“ Und als die Philosophie den metaphysischen Horizont verlor, trat das Modell der Mechanik an seine Stelle. Im Uhrwerk zieht es auch nicht.
Gibt es Ausnahmen?
Die Romantiker werden wieder sehr wetterfühlig, und nehmen Sie Nietzsche, den großen Apologeten der Windstille – der halkyonischen Tage. Er meinte das manchmal anzutreffende ruhige klare Hochdruckwetter um die Wintersonnenwende am Mittelmeer. Nietzsche ertrug nur Hochdruckgebiete, er sah sich selbst als lebende und überaus leidensfähige Wetterstation. Seinen „Zarathustra“ nannte er ein „halkyonisches Buch", das heißt, ein vollkommenes Buch. Eine halkyonische Stimmung bezeichnet den vollendeten Einklang der Seele mit sich selbst: Windstille also. Friede im Äther. Letztlich haben Sie hier wieder das alte metaphysische Muster. Aber wie kommt man ins Auge dieser Vollkommenheit? Mitten durch den Sturm! Dafür steht Nietzsches Aufforderung: „Auf die Schiffe, ihr Philosophen!“ Und bei Schiff dachte er keineswegs an einen gemächlichen Dampfer, sondern gewissermaßen an Kolumbus' Santa Maria. Ausfahrt ins Ungewisse, alle Segel der Wahrnehmung und Erkenntnis gesetzt.
Ähnlich wie der Wind scheint auch sein Verwandter, der Atem als Urphänomen des Lebens in den Hintergrund unserer Aufmerksamkeit geraten zu sein. Woran liegt das?
In manchen Bereichen ist er durchaus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die großstädtische Avantgarde philosophiert nicht mehr, sie meditiert. Ein atemvergessenes Meditieren gibt es nicht. Manche sind schon beim „Breathworking“ angekommen. Da wird sogar das Atmen zur Arbeit! In der Philosophie sieht das anders aus. Man könnte auch – in Anlehnung an Heidegger – von einer Atemvergessenheit der Philosophie sprechen.
Immerhin gewähren wir einem äußeren Element in jedem Augenblick Eingang in uns selbst. Wird dieser Umstand thematisch, haben wir eine ganz andere erkenntnistheoretische Ausgangslage. Das Gewährsorgan der klassischen Metaphysik, des Hauptstroms des abendländischen Denkens, ist gewissermaßen das Auge: Es suggeriert ein Gegenüber. Ein Subjekt, das sich auf ein Objekt richtet. Erst recht, wenn das Gegenüber den Blick nicht erwidern kann.
Diesen – für die Erkenntnis vielleicht notwendigen Abstand – bietet der Wind nicht. Er erlaubt keine Hybris. Wer im Wind ist, kann bloß hoffen, dass er standhält. Wenn er vor dem Wind ist, trägt er ihn. Es ist immer schon ein In-Sein, ein Enthaltensein.
Was sind das für Momente, in denen wir diese Vergessenheit überwinden und des Atems gewahr werden?
Die Philosophen sprechen vom „Schock der Existenz“. Wenn wir uns fragen, woher das Entsetzen rührt, das ganz und gar Unannehmbare bei dem Gedanken, einmal nicht mehr da zu sein, welche Antwort finden wir da? Es ist doch nicht nur, dass die Welt unvollständig wäre ohne mich. Oder dass ich nicht mehr zu meinem Lieblingsitaliener gehen kann. Vielleicht nicht einmal, dass ich die vertrautesten Menschen nicht mehr sehe. So verschieden wie die Menschen werden wohl ihre Antworten sein, aber ich glaube, sie werden immer auf etwas ebenso Elementares wie Ephemeres zielen. Etwa, nie mehr den Wind im Gesicht zu spüren. Ihn nicht mehr in den Bäumen zu hören.
Warum hat dieses Geräusch denn – ich rede nicht von Sturm! – eine so wohltuende Wirkung auf uns? Ich glaube, wir hören den Atem des Lebendigen und wissen uns in diesem Augenblick als Teil von ihm.
Und sofort kommt auch das Schöpferische ins Spiel. Es ist oft ein sehr plötzlicher Prozess, den wir nicht willkürlich herbeiführen können, dessen Auslöser meist im Verborgenen bleibt. Wenn wir inspiriert sind, sind wir Teilhabende am schöpferischen Atem, ganz unabhängig davon, ob man Gott als Vorannahme, als Inspirator, mitdenkt oder nicht. Mit der Bibel gesprochen: Der Geist weht, wo er will. So gesehen ist der Mensch ganz Naturwesen, das diese Natur zugleich in jedem schöpferischen Moment überschreitet – eigentlich eine schöne Beschreibung der conditio humana.
In welchem Zusammenhang stehen Wind, Glaube und Religion?
Ich glaube, es ließe sich zeigen, dass fast alle großen Götter als Wettergötter angefangen haben, nicht einmal der jüdisch-christliche Gott macht da eine Ausnahme, und in allen polytheistischen Religionen sind Windgötter unmittelbare Assistenten der Hauptgottheit. Aber ich würde noch weiter gehen: Ist nicht der Wind der erste Kulturstifter der Menschheit?
Und zwar im Zeichen des ausbleibenden Atems! Keine menschliche Kultur enthält nur die Lebenden, sie umfasst von Anbeginn die Lebenden und die Toten. Das ist einzigartig im Tierreich, wenn man das so sagen darf. Es markiert unseren Austritt aus den Tiergesellschaften.
Wir sind die Einzigen, die die Toten – die Ahnen – als die eigentlichen Bürgen unserer Existenz ansehen. Alles, was sie wissen und können, haben ursprüngliche Gesellschaften schließlich von denen, die vor ihnen waren. Die Toten müssen dafür einstehen, dass es ein gutes Ende nehmen kann mit den Nachfolgern. Götter sind, so betrachtet, Ahnen mit einer beispiellosen Karriere. Und was diese ganze – menschliche – Entwicklung in Gang setzt, ist ein Wind, ein fehlender: der ausbleibende Atem.
Aber warum ist der Wind ein „Urkommunist“?
Das ist eine rein meteorologische Erklärung für Nichtmeteorologen. Warum haben wir denn Wind auf Erden? Der Wind ist ein großer Egalisierer und Umverteiler. Er will, dass überall gleich viel ist: also gleich viel Luftdruck. Sie bemerken, ich verwende hier den vulgären Kommunismusbegriff. Die erwärmte Luft über dem Äquator, dort, wo die Sonne am stärksten scheint, steigt in eine enorme Höhe auf. Da die Luft nicht direkt von der Sonne, sondern durch die erhitzte Erde erwärmt wird, kühlt sie im Aufstieg wieder ab. In einer Höhe von 18 Kilometern erreicht sie einen Grenzwert aufgrund des hohen Drucks und fließt daraufhin seitlich gen Norden und Süden ab. Und wo will sie hin? Immer zum Pol. Da ist der Luftdruck am tiefsten. Der Wind ist eine reine Ausgleichsbewegung.
Ist der Wind nicht auch ein Revolutionär, also auch darin Kommunist?
Die Botschaft des Windes ist: Veränderung ist möglich. Wind of change! Nichts ist für die Ewigkeit gemacht. Das ist das Evangelium der Unterprivilegierten. Insofern war das „Kommunistische Manifest“ wohl die größte Sturmwarnung der Weltgeschichte.
Sie dokumentieren auf der anderen Seite aber auch Ereignisse, in denen der Wind eine geradezu imperiale Rolle spielt: Entdeckungsreisen, Eroberungen. Selbst das Phänomen der Globalisierung sei windursprünglich, sagen Sie. Können Sie das genauer fassen?
Niemand wäre um die Welt gerudert, umsegeln ließ sie sich schon. Und wer füllte die Segel? Der Wind war der große Komplize der Globalisierung. Die einmal umrundete Welt schrumpft, sie wird marktförmig, die Refugien werden knapper. Interessant ist, dass die Welt schon aufgeteilt war, bevor sie überhaupt umrundet war. Sie besaß genau eine portugiesische und eine spanische Hälfte. Und da war Magellan noch gar nicht losgefahren. Die Magellan-Reise ist ein gutes Lehrstück, imperiale Logiken betreffend.
Und sowohl Kolumbus wie auch Magellan segelten nicht geradewegs von Spanien oder Portugal aus über den Atlantik?
Genau, sie segelten mit dem Wind, also erst einmal bis zu den Kanaren hinunter, später oft noch ein Stück weiter an der afrikanischen Küste entlang, bis sie in den Nord-Ost-Passat gerieten. Der Wind gab gespenstisch genau die Routen der späteren Sklavenschiffe vor, die erst Menschen auf die karibischen Inseln brachten und auf der Rückfahrt Zucker oder Zuckerrohr nach Europa. Es ist ein Winddreieck.
Wenn der Wind der Protagonist Ihrer Geschichte ist – wer ist dann der Antagonist?
Keine Ahnung. Die Sonne? Im Gegensatz zum Wind steht sie traditionell für Klarheit, Ordnung, Ewigkeit, für das Rationale auch. Der Sonnenumlauf folgt einem unveränderlichen, kosmischen Plan. Auf die Sonne ist Verlass, sie ist die Bürgin für die Herrschaftsordnung auf Erden, das war sie schon bei den Ägyptern.
Hat der Wind ein Geschlecht?
Auf diese Frage wäre ich nie gekommen, aber die Antwort ist klar: Der Wind ist veränderlich, nicht beherrschbar, unzuverlässig, launisch, unvorhersehbar. Insofern ist der Wind ein Weib – mit den Augen der traditionellen Philosophie und Theologie betrachtet. Was den Sturm betrifft, wird es schwierig, denn der hat Kraft. Das Weib aber wurde seit je durch seine Schwäche definiert. Sie sehen, der Wind entzieht sich jeder Zuordnung.
Sie stellen den Wind als Anfang und Ende, als Verbündeten und Komplizen dar. Heute allerdings müssen immer mehr Menschen durch Wirbelstürme fürchten, alles zu verlieren, was sie haben. Welche Ambivalenz wohnt dem Wind inne und welche Rolle wird er künftig für die Menschheit spielen?
Die Ambivalenz wohnt ihm als Naturgewalt inne, er ist lebenspendend und potenziell vernichtend zugleich wie die Natur überhaupt. Natur ist Schoß und Grab, hätte man früher gesagt. Sie bringt uns hervor, aber sie hat uns nicht gemeint. Wer eine große Sturmwelle auf sich zurollen sieht, begreift das augenblicklich. Sie hat keinerlei Sorgfaltspflichten uns gegenüber. Auf der anderen Seite wird der Wind wieder zu unserem Verbündeten, etwas unpassend gesprochen: Diese Naturkraft gibt freiwillig, wir zerstören sie nicht, indem wir sie nutzen. Wir zerstören auch die Erde nicht um dieses zweiten Lebensatems willen, der Windenergie. Das ist wichtig. Vom ausgebeuteten Objekt also wird sie wieder zum Alliierten. Und um dem trivialen Kommunismusbegriff noch einen sehr anspruchsvollen zur Seite zu stellen: Ich habe Marx’ Wort von der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur nie vergessen können: Was für eine Versöhnungsvision von Mensch und Natur! Sie erst erfüllt den Wortsinn von Kultur. Cultura meint ursprünglich Anbauen, Pflege, es ist ein gegenseitiges, ein Gemeinschaftsverhältnis. Vielleicht ist es ein wenig wie in der Musik: Der Wind weht und spielt einerseits seine eigenen Melodien, klingt andererseits auch durch unseren Atem im Gesang oder als Ton im Resonanzkörper eines von uns entworfenen Instruments. •