Pathos der Nüchternheit. Zum Tod von Ernst Tugendhat
Ernst Tugendhat war einer der einflussreichsten Philosophen der Gegenwart. Am 13. März ist er im Alter von 93 Jahren gestorben. In seinem Nachruf zeichnet Josef Früchtl Leben und Werk des ungewöhnlichen Denkers nach, dem es gelang, die analytische und traditionelle Philosophie zu verbinden.
Die westliche Philosophie des 20. Jahrhunderts steht im Zeichen der Sprache. Nachdem sie seit der griechischen Antike versucht hat, die Grundstrukturen des Seins zu begreifen und sie diesen Grundlegungscharakter mit der Neuzeit auf das Konzept des Bewusstseins, das „Ich-denke“, übertragen hat, vollzieht sie Anfang des 20. Jahrhunderts einen „linguistic turn“. Sein, Existenz oder Wirklichkeit sind nicht ein Objekt, worauf ein Subjekt sich erkennend bezieht, sondern etwas, worauf Subjekte sich in einer gemeinsamen Sprache beziehen. Man muss also die Sprache analysieren, wenn man die alten Probleme der Philosophie lösen will.
Ernst Tugendhat gehört zu den namhaften Philosophen, die diese Wende geprägt haben. Das ist seine herausragende Leistung vor allem in der deutschsprachigen Philosophie. Seine Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie (1976) sind ein Ereignis, das sich schnell als einflussreich erweist. Dies nicht nur, weil Tugendhat im typisch analytischen, also nüchternen, klaren und – Vorlesungen eignen sich dafür besonders – zugänglichen Stil vorgeht, sondern weil er zugleich den Anspruch der traditionellen Philosophie hochhält. Die Begriffe des Seins, der Vernunft und der Wahrheit bleiben leitend, müssen aber neu gedacht werden. Nur das bewahrt die analytische Philosophie davor, in Kleingeisterei zu verfallen. Positiv gesagt: Nur das ermöglicht ihr, das Erbe der Metaphysik anzutreten. Sie muss Nüchternheit und Pathos vereinen.
Kleinschreibung der Großbegriffe
Tugendhats Biographie macht verständlich, woher diese anspruchsvolle Neuformulierung der Philosophie kommt. Angeregt durch seine Mutter und eine Tante liest er am Ende des Zweiten Weltkriegs Martin Heideggers bahnbrechendes Buch Sein und Zeit (1927). Er ist fünfzehn Jahre alt, die Familie im Exil in Venezuela, wegen ihrer jüdischen Herkunft vertrieben aus dem tschechischen Brünn durch die Nationalsozialisten. Dass Heidegger selber sich der braunen Bewegung angedient hat, tut der jugendlichen Begeisterung Tugendhats zunächst keinen Abbruch. 1949 zieht er nach Freiburg, um bei Schülern Heideggers zu studieren und den Meister selber zu hören, nachdem das Lehrverbot gegen ihn 1951 aufgehoben wird. Mitte der 1960er Jahre aber, mit der Habilitationsschrift zum Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger, ist eine erste Abwendung vollzogen. Zehn Jahre später dokumentieren die Vorlesungen zur analytischen Philosophie die vollständige Abkehr vom Freiburger Seinsdenken – nicht aber von den großen Begriffen der Philosophie. Sie müssen vielmehr konsequent sprachphilosophisch kleingeschrieben werden. Von daher ist es nicht überraschend, dass Tugendhat seine Vorlesungen Heidegger gewidmet hat.
Kleinschreibung der Großbegriffe ist seither das philosophische Programm Tugendhats. Eine exemplarische Durchführung dazu bietet er im folgenden Buch über Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung (1979). Hier ist es das Konzept der Selbstbeziehung, das analytisch durchdacht wird. Das „ich“, das seit Descartes die Philosophie beherrscht, verstrickt sich demnach unentwegt in Paradoxien, aus denen auch die klugen Interpretationen Dieter Henrichs, des profunden Kenners des deutschen Idealismus und zeitweiligen Kollegen an der Universität Heidelberg, nicht herausführen. Daher der Vorschlag, es mit Ludwig Wittgenstein zum „ich“ als Subjekt eines Satzes herabzusetzen. Mit Heidegger aber geschieht der Übergang zum Selbst als einer praktischen Beziehung. Es bringt sich nicht durch einen Denkakt hervor, sondern mit der Antwort auf die Frage: Wie soll ich leben? Heideggers Existenzphilosophie hat also ihre Berechtigung darin, dass sie zum notwendigen Übergang in die Ethik anweist.
Das Visier öffnen
Die Ethik ist, auch nach dem „linguistic turn“, der Kern der Philosophie. Was ist ein gutes Leben? Was ein Leben in Gerechtigkeit? Tugendhat zeigt sich durchgängig unnachgiebig gegenüber allen Versuchen der Philosophie, Moral an unhinterfragbare letzte Gründe oder erste Prinzipien zu binden, seien sie auch gemildert wie bei seinem Freund Jürgen Habermas. Das alles gehört für ihn zur „fettgedruckten“ Vernunft. Es versteht sich umgekehrt von selbst, dass jemand, der eine sprachanalytische „re-education“ durchlaufen hat, mit der postmodernistischen Entgrenzung der Vernunft nichts anfangen kann. Sehr wohl aber mit einer Philosophie der Gefühle. So greifen die Vorlesungen über Ethik (1993) überraschend auf Adam Smith zurück, den Theoretiker der Marktwirtschaft, denn dieser war sich bewusst, dass der Egoismus des homo oeconomicus und die Verpflichtung auf allgemeine Rechte durch Mitgefühl („sympathy“) ausgeglichen werden müssen. Eine Moral der Pflichten, so auch Tugendhat, sieht die Menschen „wie in ihre Rüstungen eingeschlossene Ritter“. Es geht aber darum, „dass wir unser Visier öffnen“ und „aufeinander eingehen“, und das heißt, dass wir den Gefühlen Raum in unseren Diskussionen lassen.
Zur Frage: Wie soll ich leben? gehört natürlich auch die Frage: Wie umgehen mit dem Tod? Insofern ist das Buch, das Tugendhat dieser Thematik widmet, nur auf den ersten Blick verwunderlich: Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie (2003). Anthropologie ist nun der Name für die grundsätzliche Art und Weise, wie man sich als Mensch zu sich verhalten kann. Es ist wiederum die Struktur der menschlichen Sprache, von der Tugendhat das Phänomen des „ich“-Sagens sowie die Bedeutung von „gut“ und „wichtig“ analysiert. Wie Heidegger erkannt hat, ist der Tod für diese Analyse unausweichlich, sobald es um das Leben „im Ganzen“ geht. In der Mystik, nicht in der Religion, sieht Tugendhat nun ein therapeutisches Angebot, um mit dem Schrecken, den der Tod auslöst, umzugehen. Denn Erfahrungen zuzulassen, die wir mystisch nennen, heißt, von sich selbst „zurückzutreten“, sich nicht mehr so wichtig und dementsprechend alles andere wichtiger zu nehmen. Anders als die Religion führt die mystische Erfahrung allerdings nicht ins Jenseits, sie erhofft sich keine Hilfe von Gott oder anderen transzendenten Kräften. Sie bleibt der Welt verbunden.
Fernab des Jahrmarkts
Hier kommt der analytische Sprachphilosoph an seine Grenze, und es zeichnet Tugendhat erneut aus, dass er sie freimütig einbekennt. Mystisch sind Erfahrungen, die in ihrer Wirkung unmittelbar und damit auch unmitteilbar sind. Sie entziehen sich der Sprache, jedenfalls der Sprache von Aussagesätzen. Der Übergang zu einem anderen menschlichen Ausdrucksbereich, dem Bereich des Schönen, Erhabenen, der Kunst, des Ästhetischen im weiteren Sinn, bietet sich hier an, aber Tugendhat hat ihn leider nie wahrgenommen. Wie das Mystische hilft das Ästhetische den Schrecken zu mildern. Das Universum, die Allheit, der man sich in mystischer Erfahrung öffnet, macht einen selber klein und ohnmächtig und dadurch indirekt, geistig, auch wieder mächtig. Es ist dies, Immanuel Kant zufolge, auch die Erfahrung des Erhabenen. Das Ästhetische hat eine transformierende Kraft. Ein uraltes Modell dafür ist Pegasus, das geflügelte Pferd aus der griechischen Mythologie, Sinnbild der Kunst. Man sagt, dass das Fabelwesen dem Blut der Medusa entsprungen ist, als Perseus der grässlichen Medusa das Haupt abgeschlagen hat. Rilke erinnert daran in der Gedichtzeile, das Schöne sei „nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen.“
Bei alldem bleibt Tugendhats Art zu denken vollkommen nüchtern. Das Pathos, das mit dem Denken des Ganzen verbunden ist, lässt er als unvermeidlich zu, aber keinen Trost und falsche Illusionen. Er verkörpert die analytische Sprachphilosophie in ihrer besten Form. Indem sie die alten großen Begriffe neu ausbuchstabiert, bleibt sie dem Menschen als existierendem Lebewesen verbunden. Von Zeit zu Zeit zeigt sich das sogar in politischen Stellungnahmen. Dann demonstriert Tugendhat in einem Artikel wie „Nachdenken über die Atomkriegsgefahr“ (1986), dass er nicht nur, wie die Mehrzahl seiner Kollegen, ein akademischer Philosoph ist.
Am 13. März 2023 ist Ernst Tugendhat, am Ende wieder zurück in Freiburg, gestorben. Wer ihn bei Diskussionen erlebt hat, wird sich an die ebenso bescheidene wie strenge Art erinnern, in der er nicht nur vorgab, sondern glaubhaft versicherte, er verstünde nicht, was sein Gegenüber mit einem bestimmten Satz meinte. Am Vortragspult seitlich auf eine Hand gestützt, zeigte er dann einen skeptischen Blick, einbezogen in ein freundlich-ironisches Mienenspiel. Er war allein an der zu verhandelnden Sache interessiert, der akademisch-intellektuelle Jahrmarkt der Eitelkeiten war ihm völlig fremd. Es bleibt einem nur großer Respekt und ebenso große Sympathie angesichts dieser Art von philosophischer Existenz. •
Josef Früchtl ist emeritierter Professor für Philosophie mit dem Schwerpunkt Kunst und Kultur an der Universität Amsterdam. Zuletzt erschien von ihm „Demokratie der Gefühle. Ein ästhetisches Plädoyer“ (Meiner, 2021).