Souveränität als Zumutung
Der Souverän der Demokratie ist das Volk. Es gibt aber kein Prüfsiegel für moralische Integrität: Wertehaltungen kann der Staat nicht erzwingen, ohne ins Totalitäre zu kippen. Von Svenja Flaßpöhler.
Der Souverän der Demokratie ist manchmal schwer erträglich. Tatsächlich durchlebt wohl jeder Mensch diese Momente, in denen man am Fundament unserer Staatsform, die alle Macht dem Volk verleiht, schier verzweifelt. Ich selbst zumindest kenne solche Augenblicke gut. Zum Beispiel, wenn ich durch meine Wahlheimat Berlin radle und von SUV-Fahrern angeblafft werde, während sie mir die Vorfahrt nehmen. Die bräsige Arroganz macht mich richtig aggressiv. Und ich gebe offen zu, dass ich Menschen, die sich freiwillig in solche überdimensionierten Blechkisten setzen, um sich durch die Staus der Großstadt zu schieben, für nicht besonders intelligent halte. Umso schlimmer, dass es so viele von ihnen gibt. So schön könnte Berlin sein ohne sie. Und das Allerschrecklichste ist: Jeder Einzelne von ihnen darf genauso wählen gehen wie ich! Ihre Stimme zählt nicht weniger als meine, obwohl für mich auf der Hand liegt, dass kein einziger dieser Hochsitzpanzerfahrer sich wirklich Gedanken über das eigene Handeln macht. Verschwenden völlig unnötig Ressourcen. Sitzen drei Meter über der Straße und sehen kein Kleinkind.
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Wendy Brown: „Souveränität ist eine Fiktion“
Weinende Kinder an der amerikanisch-mexikanischen Grenze und das Pochen der CSU auf ein Recht auf Zurückweisung sind nur die jüngsten Beispiele einer sich weltweit verschärfenden Abschottungspolitik. Wendy Brown, eine der einflussreichsten Intellektuellen der USA, über die letzten Zuckungen nationaler Souveränität und die menschliche Sehnsucht nach Einhegung

Die neue Ausgabe: Ist die Demokratie auf Sand gebaut?
Die Demokratie ist nur so lange stabil, wie sich der Souverän für sie entscheidet. Diese Macht des Volkes ist die Lebensader und gleichzeitig der wunde Punkt unserer Staatsform. Höchste Zeit, der Demokratie in ihr philosophisches Herz zu schauen.
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Lyndsey Stonebridge: „Für Arendt bedeutet Freiheit auch, Souveränität aufzugeben“
Was können wir heute noch von Hannah Arendt lernen? Eine ganze Menge, wie Lyndsey Stonebridge in ihrem neuen Buch über die Denkerin zeigt, die selbst zeitweise staatenlos war und den Ungehorsam als Schlüssel für gesunde Demokratien verstand.

Gibt es einen guten Tod?
Kein Mensch entgeht dieser Frage. Für die meisten bleibt sie mit Angst behaftet. In den aktuellen Debatten zur Sterbehilfe wird über den guten Tod vor allem im Sinne des guten Sterbens und damit reiner Machbarkeitserwägungen verhandelt. Wo liegen unvertretbare Leidensgrenzen? Hat der Mensch das Recht, selbst über sein Ende zu bestimmen? Gibt es den wahrhaft frei gewählten Suizid überhaupt? Im Zuge dieser Konzentration auf das Sterben geraten die lebensleitenden Fragen aus dem Blick. Wie gehen wir mit der eigenen Endlichkeit und der unserer Nächsten um? Können wir uns mit dem Tod versöhnen? Wie sieht eine menschliche Existenz aus, die ihr Ende stets verdrängt? Oder ist das bewusste Vorauslaufen in den Tod – wie es beispielsweise Sokrates oder Heidegger behaupten – nicht gerade der Schlüssel zu einem gelungenen Dasein? Mit Beiträgen unter anderem von Svenja Flaßpöhler, Reinhard Merkel, Philippe Forest, Thomas Macho und David Wagner
Die Unsterblichkeit des Souveräns
Die Krönung von Charles III. mag wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten gewirkt haben. Wer aber genauer hinsieht, wird feststellen, dass moderne Demokratien auf demselben Souveränitätsdenken gründen wie die Monarchie. Mit weitreichenden Folgen, meint Friedrich Weißbach.

Innere und äußere Stimmen
Ohne Intuitionen wären wir heillos verloren. Doch kann uns die innere Stimme auch täuschen. Um was für eine Instanz handelt es sich? Eine Spurensuche von Svenja Flaßpöhler.

Familie - Zuflucht oder Zumutung?
Der Herd ist noch an. Es fehlen einige Gabeln sowie Tante Barbara, die wieder „im Stau“ steckt. Egal. Anfangen, „bevor das Essen kalt wird“, mahnt meine Mutter wie jedes Jahr. Vor allem aber: „Langsam essen!“ Vater hat derweil schon den zweiten Bissen im Mund. Der Neffe spielt unter der Tischplatte auf seinem Smartphone. Meine Schwester versetzt ihm dezent einen Tritt. Der Schwager zischt: „Lass ihn doch einfach!“ Dass die Flüchtlingskrise als Thema tabu ist, hatten wir im Vorfeld per Rundmail zwar ausdrücklich vereinbart, aber was interessiert das schon Onkel Ernst? Denn erstens hat er kein Internet und zweitens kein anderes Thema. Ein verzweifelter Blick auf die Uhr. Und zur Gattin. Noch 22 Stunden und 34 Minuten, bis der Zug zurück nach Hause fährt. Durchhalten. Frieden wahren. Schließlich ist heute Weihnachten. Und das hier meine Familie.
Verstehen ohne Verständnis
Politisches Geschick setzt voraus, sich in die Sichtweise des Aggressors hineinzuversetzen, ohne das Verstehen in eine Rechtfertigung kippen zu lassen. Nora Bossong über eine Gratwanderung am Beispiel des Taiwankonflikts.
