Swetlana Alexijewitsch: „Ich beginne, wo Historiker enden“
Swetlana Alexijewitsch erhielt den diesjährigen Nobelpreis für Literatur. Sie verleiht all jenen eine Stimme, deren Leben von der Sowjetmacht gezeichnet wurde – vom Zweiten Weltkrieg über Tschernobyl bis hin zumSystem Putin. Wir trafen sie in ihrer Heimat Weißrussland, wo dieSehnsucht nach autoritärer Führung größer scheint als je zuvor.
Es gibt ein seltsames Land in Europa, in dem die Zeit stehen geblieben ist. In Minsk, der Hauptstadt Weißrusslands, sind die breiten, fast leeren Straßen geschmückt mit Staatswerbung für Dünger oder Metall aus volkseigener Produktion. Im Supermarkt Ozean findet man alle Fischkonserven, die es schon zu Sowjetzeiten gab. Und im Staatsladen stehen die Flaschen mit dem unvermeidlichen zuckersüßen Sekt, der bei jedem Bankett in der UdSSR getrunken wurde, neben armenischem Cognac und russischem Wodka – Produkte, die Nostalgie verströmen und die man nicht einmal mehr in Moskauer Regalen findet. Über den riesigen Siegesplatz im stalinistischen Stil, der an den Zweiten Weltkrieg erinnern soll, schreien große rote Buchstaben: „Die Heldentat des Volkes ist unsterblich“. In der Nähe des von dickem Schnee eingehüllten Parlaments erinnert ein Gefängnistransporter an die hypothetische Existenz von Oppositionellen. Als ich mich vom Stadtzentrum entferne, komme ich in ein Viertel mit einer etwas weniger bedrückenden Atmosphäre. Ich brauche eine ganze Weile, um den richtigen Eingang in dem gigantischen Wohnblock zu finden, wo ich die berühmteste Schriftstellerin Weißrusslands besuche. Swetlana Alexijewitsch, die 2015 den Nobelpreis für Literatur und zwei Jahre zuvor den Friedenspreis des deutschen Buchhandels erhielt, wohnt hier seit Jahrzehnten, auch wenn sie auf Druck der Regierung mehrmals ins Exil gehen musste. Sie empfängt mich in einem scharlachroten Kokon mit geflochtenen Holzwänden. Sie verrät mir, dass unzählige Nachbarn im Gefängnis gelandet sind, dass ihre Post geöffnet und ihr Telefon abgehört wird. Ich bin bis nach Minsk gereist, um jenes Geheimnis zu ergründen, das Swetlana Alexijewitsch in ihren verblüffenden „Stimmenromanen“ mit Beharrlichkeit beschreibt. Ihre Romane sind Symphonien, in denen sich die furchtbarsten und intimsten Zeugnisse der Tragödien des Sowjetzeitalters vermengen: die Repressionen der Stalinzeit, Zweiter Weltkrieg, Afghanistankrieg, die Tschernobyl-Katastrophe, blutige postsowjetische Auseinandersetzungen … Wie kommt es, dass trotz solch unerhörten Leides noch immer eine solche Nostalgie für den Kommunismus herrscht? Während sich die benachbarte Ukraine im Krieg befindet, kehren wir bei einem Tee und weißrussischem Konfekt ausführlich zu dieser Vergangenheit zurück, die hier noch immer Gegenwart ist.
Was sind die stärksten Eindrücke aus Ihrer Kindheit?
Swetlana Alexijewitsch: Wir lebten auf dem Land, wo mein Vater Schuldirektor war und meine Mutter Lehrerin und Bibliothekarin. Sie verbrachten ihre Zeit auf Arbeit und ich sah sie sozusagen gar nicht. Wer mir die Augen für die Welt geöffnet hat, war meine Großmutter. Jeden Sommer besuchten wir sie in der Ukraine. Weißrussland ist ein sumpfiges Gebiet. Es ist dort grau. Die Atmosphäre ist ziemlich trist. Während es in der Ukraine überall Blumen gibt. Es herrscht Armut, aber die Häuser sind so schön und die Natur duftet. Die Öfen werden mit Stroh geheizt und verströmen einen wundervollen Duft. Das Brot wird selbst gebacken … Doch inmitten dieser üppigen Natur begegnete man Kriegsversehrten, beinlose Krüppel bewegten sich auf zusammengebastelten Brettern mit Rollen fort. Auf den Märkten baten sie um Almosen. In den Zügen versammelten sie sich und sangen Frontlieder. Das war ein lustiges Bild. Und im Hintergrund unterhielten sich die Bauern, wunderbar. Meine Großmutter erzählte, wie mein Großvater sie dazu gebracht hatte, ihn zu heiraten. Aber sie erzählte mir auch eindrücklich vom Holodomor, der 1933 von Stalin angeordneten Hungersnot, bei der Millionen Menschen starben. Meine Großmutter hatte sie erlebt und erzählte mir grauenhafte Dinge. Wir kamen an einem Haus in der Nachbarschaft vorbei. Eine ganz einfache alte Frau kam heraus. Da begann meine Großmutter automatisch zu flüstern. Wir fragten sie, warum: Weil die Frau ihre Kinder während der Hungersnot gegessen hatte, gab sie schließlich zu.
Weißrussland hat enorm unter dem Zweiten Weltkrieg gelitten. Wurde darüber auch geredet?
Oh ja! Aber eher auf dem Land als in der Stadt, wo man vorsichtiger war. Wenn eine Taufe oder eine Hochzeit stattfand, fingen die Alten an, vom Krieg zu erzählen. Da nur sehr wenige Männer übrig geblieben waren, wurde kaum über die Front geredet. Die Frauen erzählten vor allem vom Partisanenkrieg gegen die Nazis. Dieser Krieg war extrem grausam. Die sowjetischen Partisanen waren hungrige, völlig erschöpfte Männer, die sich in den Wäldern versteckten. Sie konnten plötzlich in einem Dorf aufkreuzen und dem Bauern seine letzte Kuh wegnehmen. Das waren sehr harte und eindrückliche Erzählungen. Ich habe sie nie vergessen. Stellen Sie sich die Szene vor: Die Erwachsenen sitzen an einem Tisch. Wir Kinder rennen drum herum. Manchmal jagte man uns weg und sagte uns, wir sollten woanders spielen. Aber ich versuchte immer zuzuhören … Wie bei jener Frau, die sich mit ihren Kindern im Sumpf versteckte, um vor den Nazis zu fliehen. Sie hatte nicht genügend zu essen für alle. Sie hätten sie mit ihren Schreien verraten. Sie musste zwei davon ertränken.
Was ist Ihnen von diesen Erinnerungen geblieben?
Ein gewisses Misstrauen gegenüber dem gedruckten Wort. Was diese Leute in vertraulichen Situationen erzählten, war viel erschreckender als das, was man damals in Büchern und Artikeln lesen konnte, die voll waren von „unserem“ Sieg über die „anderen“. Der Krieg in der Literatur wurde hübsch dargestellt. Alles hatte dort nur einen Sinn: Der Feind muss zurückgedrängt werden. Doch das, was die Bäuerinnen erzählten, entbehrte jeglichen Sinnes. Sie malten ein Bild der menschlichen Grausamkeit, zum Beispiel wie eine Gruppe Partisanen in einem Dorf aufkreuzte und die gesamte Familie eines Polizeiers (einheimische Hilfspolizei der SS), samt Kindern und Großeltern, tötete, indem sie ihren Hof anzündeten. Außerdem gab es damals Tabuthemen: In der sowjetischen Presse und den Büchern wurde nie erwähnt, wie die Deutschen mit den Juden umgegangen waren. Nun wurde aber ein ganzer Teil der weißrussischen Kultur, die jüdische Kultur, während des Krieges ausradiert, und das ist ein sehr großer Verlust. In den Dörfern gab es vielleicht zwei Schneider, einen Schuster und alle möglichen jüdischen Handwerker und Händler. In einer Nacht wurden sie alle weggebracht und keiner hat sie mehr gesehen. Es gab schreckliche Geschichten über sie.
Haben diese Erzählungen verhindert, dass Sie an den Kommunismus glauben konnten?
Ich wurde nicht als Dissidentin geboren. Wie alle sowjetischen Schüler habe ich die Literatur gelesen, die erlaubt war. Darunter waren unglaublich viele Kriegserzählungen, die einen sehr viel siegreicheren und heroischeren Tonfall hatten. Ich bekam doppelten ideologischen Druck von der Schule und von meinen Eltern. Unter diesen Umständen waren meine Zweifel am Kommunismus nicht so offen. Ich war problemlos Mitglied in der kommunistischen Jugendorganisation. Aber ich stellte meinen Lehrern trotzdem ungehörige Fragen. Um mich zu bestrafen, verbot man mir sogar, einen Preis in Anspruch zu nehmen, den ich gewonnen hatte: eine Reise zu allen „Lenin-Orten“ in Europa. Ich war keine Oppositionelle, aber ich dachte anders. Als ich an die Uni kam, an die Fakultät für Journalismus, habe ich mich sehr für Philosophie interessiert. Ich habe versucht, Marx zu lesen, aber es gefiel mir nicht und ich ließ es wieder. Ich mochte lieber Gramsci, der für die italienische Version des Sozialismus stand. Und dank der Studenten aus den „Bruderländern“ konnte ich Werke von Freud oder Nietzsche lesen. Erst später, als ich angefangen habe, ins Ausland zu reisen, begann ich, mir Bücher mitzubringen, insbesondere die Literatur über die Lager der Stalinzeit. Doch in den siebziger Jahren wusste ich noch nichts von all dem. Ich kam aus der Provinz und war nie in Moskau gewesen!
Wie entstand Ihr erstes Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“?
Als ich mein Studium abgeschlossen hatte, entschied ich mich, für eine Zeitung auf dem Land zu arbeiten. Ich begann wieder, mit den alten Leuten zu diskutieren. Zur selben Zeit las ich die Werke des weißrussischen Schriftstellers Ales Adamowitsch. Er und seine Freunde fuhren übers Land auf der Suche nach Überlebenden der Dörfer, die von den Nazis während des Krieges niedergebrannt worden waren, und zeichneten Gespräche mit ihnen auf. Als ich diese vielen Stimmen hörte, habe ich sofort gespürt, welche literarische Form auch ich für mein Schreiben wählen sollte. Ich fing ebenfalls an, Zeitzeugenberichte zu sammeln, sieben Jahre lang. Ich entschied mich für das Thema der Kriegserzählungen aus weiblicher Sicht, wie die meiner Großmutter, die mir in Erinnerung geblieben waren.
Sie beklagen, dass wir in männlichen Bildern des Krieges gefangen bleiben …
Was mich am stärksten beeindruckt hat, war, dass diese Frauen Mitleid mit den Deutschen hatten. In der Schule hat man uns beigebracht, kein Mitleid mit Feinden zu haben. Aber der Krieg lässt sich für diese Frauen nicht in die von Männern geschriebenen Gesetze des Krieges pressen. Die Frauen erzählten mir ebenso viel von zerstörten Bäumen und Vögeln, die bei einer Schießerei umkamen, wie von menschlichen Opfern. In der Kriegsliteratur ist die Frau dazu da, den Soldaten für seine Heldentaten auszuzeichnen. Als ich durchs Land reiste, habe ich etwas ganz anderes entdeckt. Gebildete Leute benutzen ein ganz bestimmtes Repertoire an Begriffen und Vorstellungen von der Welt, die sie aus Büchern und Zeitungen entnommen haben. Bei einfachen Leuten entstehen Wissen und Weisheit hingegen aus dem Leid, aus der persönlichen Bemühung um Verstehen oder es ist ein Talent. Später habe ich das auch bei der Katastrophe von Tschernobyl beobachten können. Die Gelehrten, die Intellektuellen, die Funktionäre waren völlig verloren und wussten nicht, was sie denken sollten. Während ich bei den ungebildeten Menschen auf eine große Gelassenheit und Weisheit traf.
Wie wurde das Buch aufgenommen?
Eine erste Version erschien 1983 in der Moskauer Zeitschrift Oktjabr (Oktober). Gewisse Passagen waren zensiert worden. Aber die Selbstzensur, meine eigene und die meiner Gesprächspartnerinnen, war schlimmer als die Zensur. Das Werk rief ein enormes Echo hervor. Es wurden zwei Millionen Exemplare gedruckt. Die Zeit war reif für ein solches Buch, es war kurz vor dem Beginn von Gorbatschows Glasnost-Politik, die zum Ende der UdSSR führen sollte. Man suchte nach der Wahrheit über eine Epoche und begann daran zu zweifeln, dass der Mensch so einfach sei, wie er in der Propaganda geschildert wurde. Ich versuche, das menschliche Leben zu verstehen. Die Lügen des sowjetischen Systems oder des Systems Putin anzuprangern, bleibt zweitrangig. Die Dinge interessieren mich nicht, wenn sie sich auf ideologischer Ebene abspielen, die für mich nur oberflächlich ist. Aber im Ergebnis zerstören diese Bücher dennoch Mythen, ob sowjetische oder postsowjetische.
Wie konnten Sie „Zinkjungen“ veröffentlichen, ein noch grausameres Buch über den Afghanistankrieg (1979–1989)?
Ich hatte keine Lust, ein neues Buch über den Krieg zu schreiben. Dieses Thema hatte mich erschöpft. Doch ich besuchte meine Eltern auf dem Land. Da war ein Soldat von dort unten zurückgekehrt. Er war verrückt geworden. Wie er sprach und schrie, hat einen starken Eindruck bei mir hinterlassen. Also beschloss ich, trotzdem ein Buch zu schreiben. Ich begann, Augenzeugenberichte zu sammeln. Der Unterschied war dieses Mal, dass ich nach Afghanistan reisen konnte. Es war nicht einfach, die Erlaubnis zu erhalten. Am Ende verbrachte ich drei Wochen dort, Ende der achtziger Jahre. Der Krieg erwies sich als noch schrecklicher als die Erzählungen. Alles schien mir so verworren: Das Heldentum dieser Jungs – aber wofür? –, all diese grauenhaften Toten, die nächtlichen Trinkgelage … Um nicht davon zu reden, wie die Neuzugänge gequält wurden … Trotzdem waren diese Jungs keineswegs rohe Kerle. Viele von ihnen waren Söhne von Lehrern oder Landärzten, Kinder der ländlichen Intelligenzija, die die Eltern mit sowjetischen Slogans vollgestopft hatten. Ich erkannte meine eigene Familie in ihnen wieder. Die Leute aus den ländlichen Gebieten dachten, in einen schönen Krieg im Namen hehrer Ideale zu ziehen. Man hat sie von Anfang an getäuscht und verraten. Und man hat sie zu Mördern gemacht. In dieser Zeit habe ich definitiv den Glauben an den Sozialismus verloren. Diese Beschreibung – die sehr weit entfernt war vom sowjetischen Bilderbuchsoldaten – hat mich während der Veröffentlichung des Buches einen Prozess gekostet. Aber wir waren Anfang der neunziger Jahre, es war bereits unmöglich, es zu verbieten.
Hatten Sie, schon während Sie Buch für Buch schrieben, die Idee, ein breit angelegtes Bild des sowjetischen Zeitalters zu zeichnen?
Nicht gleich. Erst als 1986 die Katastrophe von Tschernobyl geschah, die Weißrussland stärker als die Ukraine traf, hatte ich die Idee dazu. Bei dieser Nuklearkatastrophe hatte ich das Gefühl, dass das ganze Gebäude der Sowjetunion dabei war, Risse zu bekommen, und dass man der Geschichte dieser Utopie auf den Grund gehen musste. „Tschernobyl“ ist zweifellos mein wichtigstes Buch. Es hat mich enorme Anstrengungen gekostet. Es fiel mir schwer, das Thema selbst zu erfassen: Wie sollte man das, was da unten geschehen war, nennen? Also habe ich wieder jahrelang Augenzeugenberichte gesammelt. Dann sah ich, wie sich Leitlinien abzeichneten. Es tauchte eine Philosophie des Ganzen auf und ich verstand, was ich sagen wollte. Mit Tschernobyl begann eine völlig neue Epoche. Wir haben erkannt, dass technischer Fortschritt ein Weg zum Selbstmord ist. Es handelt sich um einen Krieg neuen Typs, in dem der Mensch sich nicht nur selbst bekämpft, sondern alles Lebendige überhaupt: die Pflanzen, die Tiere, die Erde und den Himmel. In der verstrahlten Zone wurden haufenweise tote Spatzen eingesammelt. Die abgefallenen, verstrahlten Blätter wurden nicht mehr verbrannt, sondern man vergrub sie. Außerdem wusste man nicht einmal, wovor man Angst haben sollte. Und der Tod war zeitversetzt, leise. So hatten wir die Natur noch nie gesehen. Am Tag des Unfalls habe ich eine riesige schwarze Wolke gesehen. In den folgenden Tagen hatten die Pfützen unglaubliche Farben. Sie wurden schwarz, gelb, grün, fluoreszierend. In der verstrahlten Zone wurden die Tannen und Kiefern rot, dann rotbraun. Am Himmel war eine Art Glühen, ein Strahlen. Natürlich war niemand darauf vorbereitet. Wir waren in dem Glauben erzogen worden, dass die friedlich genutzte Kernenergie der Sowjetunion harmlos war. Darum benutzte man zur Bekämpfung des Problems die Mittel, die man kannte: Man schickte mit Gewehren bewaffnete Soldaten. Das war absurd!
Ihr letztes Werk „Secondhand-Zeit“ beschließt den Zyklus. Es beschreibt die große Nostalgie für die Sowjetunion, 25 Jahre nach deren Verschwinden. Minsk mit seinem stark sowjetisch inspirierten Stil ist ein gutes Beispiel dafür …
Das Buch befasst sich mit dem sowjetischen Revival, das man derzeit im Russland der Ära Putin und in mehreren anderen exsowjetischen Staaten beobachten kann. In Weißrussland ist der Fall etwas anders: Wir sind nicht zum Kommunismus zurückgekehrt, weil wir ihn nie hinter uns gelassen haben! Sehr schnell nach dem Ende der UdSSR hat Präsident Lukaschenko die Zeit angehalten. Und da die Leute sahen, dass in den anderen exsowjetischen Staaten die Reformen Unsicherheit mit sich brachten und keine unmittelbaren Ergebnisse hatten, sind sie gern beim Sowjetsystem geblieben. Im Grunde genommen war das Ende der UdSSR für die Mehrzahl der Leute eine Tragödie. Mein Vater zum Beispiel war völlig verloren, als das geschah. Er glaubte aufrichtig an den Kommunismus. Er dachte, man müsse das Gebäude nur ein wenig aufräumen, aber es nicht abreißen. Dabei war er durchaus kein verdorbener Mensch, sondern ein gerechter und aufrichtiger Mann. Es gibt in „Secondhand-Zeit“ jede Menge Zeitzeugenberichte in diesem Sinne. Viele trauern dem Opferkult nach, der die damalige Gesellschaft prägte. Geld wurde verachtet. Altruismus war gut. Das Schlimmste ist, dass nicht nur die Alten zurückwollen, sondern auch ihre Kinder. Unter den Jugendlichen heute gibt es viele Kommunisten. Ich glaube, dass wir uns nicht so leicht vom Kommunismus befreien werden.
Der alte polnische Dissident Adam Michnik antwortete, als man ihn fragte, was das Schlimmste am Kommunismus sei: „Das, was nach ihm kommt …“
Das ist ein sehr scharfsinniger Satz. Der Kommunismus hinterlässt einen Menschen, der völlig verloren ist, der nicht weiß, wie er leben soll. Die Staatschefs, die Russland nach dem Ende der UdSSR regierten, haben die Länder ausgeplündert und das Volk ist wahnsinnig wütend auf sie. Auf einmal sind die Begriffe „liberal“ und „demokratisch“ zu Schimpfworten geworden. Die Leute haben beschlossen, es noch einmal mit dem Kommunismus zu versuchen. Die Geschichte hier ist tragisch: Alle 30 oder 40 Jahre geschieht etwas Grauenhaftes. Aber die Leute sind daran gewöhnt, so zu leben. Sie kennen es nicht anders. Sie waren nie frei. Sie wissen, dass man ihnen jederzeit alles wieder wegnehmen kann. Die Ursachen dieses Gefühls reichen übrigens viel weiter zurück. Das geht mindestens bis auf Iwan den Schrecklichen zurück. Die christliche Opferkultur wurde vom kommunistischen Totenkult ergänzt. Was in Weißrussland passiert, ist wirklich unglaublich. Im Dezember 2010 sind die Leute auf die Straße gegangen, um gegen die x-te Wiederwahl Lukaschenkos zu protestieren. Die Polizei hat 639 Personen ins Gefängnis geworfen. Und die Mehrheit der Gesellschaft tat, als wäre nichts geschehen. Die Leute interessiert vor allem, eine Arbeit zu finden, Geld zu verdienen, und sie sind bereit, vor den anderen Dingen die Augen zu verschließen. Als ob sie nach dem Kommunismus nicht mehr in der Lage wären, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen. Mutige Menschen gibt es hier nur sehr wenige. Man kann also nicht wirklich von Schreckensherrschaft sprechen, sondern von einer permanenten Angst. Was Lukaschenko anbelangt, so verhält er sich im Moment ruhig, weil er glaubt, die Situation im Land unter Kontrolle zu haben. Aber wenn er jemals das Gefühl bekommt, die Kontrolle zu verlieren, so wird er das Land abschotten und in ein Nordkorea verwandeln. Wenn sich hunderttausend Menschen versammeln, wird er keinerlei Skrupel haben, Blut zu vergießen.
Zu welcher Wahrheit wollen Sie mit Ihrer so besonderen Art des Schreibens gelangen?
Ich versuche nicht, ein Dokument hervorzubringen, sondern das Bild einer Epoche herauszuarbeiten. Darum brauche ich bis zu zehn Jahre für jedes Buch. Ich interviewe Hunderte von Leuten. Ich besuche dieselbe Person mehrmals. Am Anfang neigen wir nämlich dazu, das zu wiederholen, was wir in den Zeitungen oder Büchern gelesen haben. Aber nach und nach geht man sich selbst auf den Grund und spricht Sätze, die wir aus unserer lebendigen und einzigartigen Erfahrung ziehen. Am Ende behalte ich von 50 oder 60 Seiten nur eine halbe Seite, höchstens fünf. Natürlich versäubere ich das, was man mir sagt, ein wenig, lösche Wiederholungen. Aber ich verändere nicht den Stil und ich bemühe mich, die Sprache beizubehalten, die die Leute verwenden. Und wenn ich den Eindruck habe, dass sie gut im Redefluss sind, dann warte ich den Moment ab, wo sie den Tod oder die Liebe erwähnen und unter Schock stehen. Dann schärft sich ihr Geist und sie sind ganz bewegt. Wir vergessen, dass die Kunst des Wortes eine russische Tradition ist. Die Italiener haben ihre großartige Malerei, die Deutschen ihre große Musik. Die Russen haben eine logozentrische Kultur entwickelt, die das Wort verehrt. Ich bleibe nicht auf der Ebene der Information, sondern ich erkunde das Leben der Menschen, das, was sie vom Leben verstanden haben. Für mich beginnt alles genau dort, wo der Historiker endet: Was geschah in den Köpfen der Leute nach der Schlacht von Stalingrad oder nach der Explosion von Tschernobyl? Ich schreibe keine Geschichte der Tatsachen, sondern die Geschichte der Seelen.
Welche Fragen treiben Sie letztlich um?
Dieselben, die schon Dostojewski plagten. Warum sind wir bereit, unsere Freiheit zu opfern? Wie kann der Wunsch, Gutes zu tun, in das schlimmste Übel münden? Wie erklärt sich die Schwärze der menschlichen Seele? Als ich jung war, habe ich die Tagebücher der großen Figuren der Russischen Revolution gelesen. Ich wollte gern wissen, wer die Leute waren, zum Beispiel Dserschinski, der spätere Geheimpolizeichef. Nun, er war ein junger, sehr brillanter Mann, der von der Erneuerung des Menschen träumte. Durch welche geheimnisvollen Umstände verwandeln sich diese jungen Idealisten in blutrünstige Machthaber? Das wollte ich verstehen. Darum habe ich dem Buch „Secondhand-Zeit“ diesen Satz des Philosophen Fedor Stepun als Motto vorangestellt: „Zumindest müssen wir daran denken, dass für den Sieg des Bösen in der Welt nicht in erster Linie seine blinden Vollstrecker verantwortlich sind, sondern die geistig sehenden Diener des Guten.“ Das ist mein Kindheitstrauma und das bleibt die große Frage, um die ich kreise. •