Linke Selbstzerstörung
Die Linke droht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Hat sie sich zu sehr auf das urbane Milieu konzentriert und die Abgehängten vernachlässigt? Ein Kommentar von Bernd Stegemann, der vor fünf Jahren zusammen mit Sahra Wagenknecht die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gründete.
Fahren zwei Linke zusammen im Zug. Sind sie am Ziel angekommen, gründen sie drei Parteien. Dieser alte Witz über linke Streitlust bringt den unseligen Hang zur Zersplitterung auf den Punkt. Was man den Narzissmus der kleinsten Differenz nennt, scheint in diesem Teil des politischen Spektrums besonders ausgeprägt. Linke Parteien zeichneten sich seit Beginn durch einen rigorosen Anspruch der reinen Lehre aus. Die kleinste Abweichung von der Parteilinie führte zum Parteiausschlussverfahren und der Hauch einer Meinungsverschiedenheit führte zum Zerwürfnis. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich aus keiner Milieublase heraus so bösartig angegriffen wurde, wie aus der linken. Der Umgangston dort ist nicht nur herzlich rau, sondern – getriggert durch die sozialen Netzwerke – von Häme, Diffamierung und Vernichtungslust geprägt.
Bei einer Veranstaltung im Karl-Liebknecht-Haus, zu der ich als Podiumsgast eingeladen war, sagte mir die Veranstalterin kurz vor Beginn, dass mein Erscheinen zu einem ernsten Krach bei der Leitung geführt habe. Und im Anschluss an die Veranstaltung kamen nicht wenige Menschen zu mir, die mit leiser Stimme sagten, dass sie eigentlich nicht hätten hier sein dürfen, da sie doch bei der Linkspartei arbeiten würden. Wie die Urchristen im alten Rom hatten sie sich unter Gefahren eingefunden und gaben sich nun gegenseitig zu erkennen.
Repräsentationslücke
Parteien sind sicherlich kein Safespace für weiche Gemüter. Und Lagerkämpfe gibt es in allen politischen Richtungen. Der Streit zwischen den Realos und den Fundis ist bei den Grünen seit ihrer Gründung legendär. Die SPD hadert seit der Ära Schröder zwischen den Anhängern der Agenda 2010 und den alten Sozialdemokraten. Die CDU, lange von solchen inneren Kämpfen verschont, hat seit der Ära Merkel die Fraktionen der Merkel-Jünger und der Merz-Jünger. Und auch die AfD hat zwei Lager, die Anhänger des sozialpatriotischen Flügels um Björn Höcke und die Wirtschaftsliberalen um Alice Weidel. Dass die Linkspartei in zwei Lager zu zerfallen droht, ist also nicht nur eine Besonderheit linken Irrsinns, sondern auch der sich immer weiter ausdifferenzierenden politischen Landschaft geschuldet.
Alle Parteigründungen der letzten Jahrzehnte gingen aus Abspaltungen hervor. Die Kanzlerschaft von Helmut Schmidt führte zur Gründung der Grünen, die von Gerhard Schröder zur Linkspartei und die von Angela Merkel zur AfD. Dass die jetzige Lage eine weitere Abspaltung hervorruft, ist also nicht ungewöhnlich, und doch scheint es dieses Mal anders zu sein. Denn die Linkspartei spaltet sich nicht aus einem Überschuss an politischer Kraft, so wie seinerzeit die Protestenergie der 68er-Generation zu den Grünen drängte, die Agenda 2010 einen Sturm sozialer Proteste hervorrief, die die Linkspartei notwendig machte, und die Merkel-Jahre der Alternativlosigkeit für viele Unzufriedene eine Alternative am rechten Rand nötig erscheinen ließ.
Die relevante Frage für eine Parteispaltung lautet darum: Ist die Lage aktuell wieder so, dass eine relevante gesellschaftliche Kraft nach einer politischen Repräsentanz drängt? Man könnte meinen, dass das im Moment nicht zu erkennen ist. Die Protestenergien sind bei den Grünen noch gut aufgehoben. Und wenn es radikalere Forderungen gibt, wie von der Letzten Generation, dann suchen sie im Außerparlamentarischen nach Rückhalt. Eine neue Klimaschutzpartei ist nicht in Sicht. Und die im weitesten Sinne linken Kräfte in Deutschland scheinen in drei Parteien aufgehoben. Worin besteht also der andauernde Streit in der Linkspartei?
Mobbing gegen Wagenknecht
Hier gilt es zwei Seiten des Streits auseinanderzuhalten. Es gibt eine persönliche Ebene, die von der Parteiführung der Linken seit Jahren in Form von Angriffen auf Sahra Wagenknecht betrieben wird. Von Bernd Riexinger, dem ehemaligen Parteivorsitzenden, gibt es den Ausspruch: „Wir müssen Sahra immer wieder mobben, dann gibt sie irgendwann von alleine auf.“ Dieser Aufruf zum Mobbing wurde mit der linkstypischen Lust an der Ausgrenzung und Zerstörung abweichender Meinungen ernst genommen. Wie erbittert die Wagenknecht-Gegner vorgehen, zeigt sich schon daran, dass sie ihre sensiblen Standards im Umgang mit Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund bei Wagenknecht völlig außer Acht lassen. Sie darf ohne Hemmung frauenfeindlich beschimpft werden.
Mein unerwünschtes Erscheinen im Karl-Liebknecht-Haus hat mir, der damals als Wagenknecht-Vertrauter galt, einen milden Vorgeschmack gegeben. Das von Riexinger geforderte Mobbing hatte sich jedoch ein Opfer ausgesucht, das nicht einfach zusammenbrechen wollte. Das autoritäre Verhalten der Parteiführung und die infamen Mittel der Ächtung führten eben keine Lösung herbei. Es handelt sich also um eine politische Situation, die linkem Denken vertraut sein dürfte, wenn es denn noch die Kunst der Dialektik beherrscht. Die Angriffe haben die Angegriffene gestärkt. Je heftiger Sahra Wagenknecht von ihren eigenen Leuten in den Dreck gezogen wurde, desto heller strahlte sie in der Öffentlichkeit. Die Linkspartei hat so die Ikone einer anderen, vielleicht besseren linken Partei mitgeschaffen.
„Unwashed People“ oder urbanes Milieu?
Doch diese persönliche Ebene deckt nur die eine Seite ab. Die zweite Seite betrifft die politischen Differenzen zwischen der Parteiführung und Sahra Wagenknecht. Die Linkspartei hat seit den Jahren, in denen Katja Kipping und Bernd Riexinger Vorsitzende waren, einen Umbau der Inhalte vorgenommen. Skizziert gesagt: nicht mehr die „unwashed people“, sondern das urbane Milieu junger Menschen sollte stärker angesprochen werden. Was als Bewegungslinke firmiert, meint, dass man sich mit den zahlreichen Protestbewegungen zusammenschließen will, um hieraus eine politische Kraft zu formen. Dieser Plan, das kann man nach nunmehr zehn Jahren sagen, ist gescheitert. Die Ursachen mögen vielfältig sein, aber ein wesentlicher Grund für das Scheitern ist offensichtlich.
Die Proteste der letzten Jahre betrafen die Themen der Identitätspolitik und den Klimawandel. In beiden Feldern hat die Linke traditionell keine Erfahrung. Und auch gilt die Linke in den Milieus, die diese Themen umtreibt, nicht als vertrauenswürdige Adresse. Der Umbau der Linken von einer Protestpartei der Abgehängten zu einer Bewegungspartei des akademischen Protestmilieus war ein Fehler, dessen tägliche Konsequenzen sich in dem Niedergang der Wahlergebnisse und dem wachsenden Zuspruch für Sahra Wagenknecht zeigen.
Dialektik des Progressiven
Denn die Gemobbte fand sich nicht nur nicht mit ihrem Status als Schmuddelkind ab, sondern sie vertrat über die Jahre ein Konzept für eine andere linke Politik. Auch hier wieder skizziert gesagt: Sie stärkt den Gedanken der materiellen Gleichheit und weist der Empörung in der symbolischen Ordnung einen nachgeordneten Platz zu. Damit vertritt sie das Gegenteil dessen, was die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser „progressiven Neoliberalismus“ genannt hat. Das Paradebeispiel für diese raffinierte Form des Neoliberalismus ist das Geschäftsgebaren von Amazon. Dort wird höchster Wert auf Anti-Diskriminierung gelegt, doch Gewerkschaften werden robust bekämpft. Das Kalkül ist einfach: Gendersternchen und Anti-Diskriminierungsseminare kosten wenig und bringen positive Aufmerksamkeit in den entsprechenden Milieus, doch eine Gewerkschaft kann Tarifverträge durchsetzen, und das kostet viel Geld. Die böse Pointe des progressiven Neoliberalismus besteht also darin, dass die fortschrittlichen Gedanken zur Abwehr von sozialen Forderungen verwendet werden
Sahra Wagenknecht hat diesen dialektischen Zusammenhang früh erkannt und die wirtschaftsliberale Sprengkraft der progressiven Proteste gesehen. Ganz im Sinne von Pier Paolo Pasolini, der den 68er-Studentenprotesten schon bescheinigt hatte, dass ihre Attacken auf die alte Universität vor allem dazu führen werden, die Bildungseinrichtungen für den künftigen Arbeitsmarkt fitzumachen, hat Wagenknecht die Dialektik des Progressiven durchschaut. Dabei hat sie die alte marxsche Denkweise angewendet, dass es innerhalb einer kapitalistischen Ökonomie keine einfache gute Lösung geben kann. Die Zauberkraft des Kapitalismus besteht gerade darin, Proteste in Innovationskraft umzumünzen. Wer eine Verbesserung nur in der symbolischen Ordnung betreibt, ist naiv gegenüber den materiellen Folgen.
Selbstverschuldete Erfolglosigkeit
Schaut man mit Wagenknechts Augen auf den Kurs der Linkspartei, dann erscheint dieser wie Selbstmord aufgrund von Dummheit. Man wirft sich einem Protestmilieu in die Arme, das einen nicht will, und verrät dafür die Menschen, die einen brauchen. Und tatsächlich gibt es soziologische Untersuchungen, die zeigen, dass ein Viertel der Wähler keine politische Heimat mehr hat. Dieses Viertel ist inzwischen zu Nichtwählern oder AfD-Wählern geworden. Das Viertel des urbanen Milieus wird hingegen mit überreichlichen Angeboten überschüttet. Grüne, SPD, FDP und der Merkel-Flügel der CDU, sie alle buhlen um die Gunst dieser High Potentials. Dass die Linken hier wenig zu gewinnen haben, ist schon rechnerisch ersichtlich.
Die Frage, vor der die Linkspartei steht, lautet also, ob sie ihren Kurs der Erfolglosigkeit weiterführen will, da ihr Hass auf die Person Wagenknecht so groß ist? Mein Eindruck ist, dass sich viele in der Linkspartei einzureden versuchen, dass ihr Kurs in dem Moment großen Erfolg haben wird, wo sie endlich Wagenknecht los sind. Die klügeren Köpfe wie Gregor Gysi wissen, dass das Quatsch ist. Die Linke wird als fade und unglaubwürdige Kopie der Grünen zur Splitterpartei werden, ähnlich der Tierschutzpartei oder den Grauen Panthern. Denn mit Wagenknecht würde nicht nur die verhasste Ikone verschwinden, sondern es würde auch der Kern einer linken Politik, die das politisch heimatlose Wählerviertel anspricht, verschwinden.
Politik für zukünftige Chefs
Meine gutwillige Interpretation des Verhaltens der Linkspartei gegenüber Wagenknecht ist, dass sie tatsächlich aus ihren persönlichen Animositäten nicht herausfindet. Ein Gespräch, in dem man sich wieder zusammenrauft, könnte vielleicht noch helfen. Doch ich befürchte, dass die Lage viel schlimmer ist. Denn es ist zu befürchten, dass die Bewegungslinken tatsächlich von ihrem selbstmörderischen Kurs überzeugt sind. Sollten sie aber die Kunst des dialektischen Denkens so grundlegend verlernt haben, dann wäre ein Niedergang der Linkspartei kein Schaden für eine mögliche linke Politik. Linke Politik, die nicht für die Abgehängten, die keine Stimme im Parlament haben, spricht, sondern für die zukünftigen Chefs, die, solange sie jung sind, sich über einiges empören, braucht kein Land.
Dass die Linkspartei so hartleibig gegenüber dieser einfachen Erkenntnis ist und keiner der vielen Misserfolge sie von diesem Kurs abbringt, lässt nichts Gutes hoffen. Dass die Fehler der Parteiführung dazu führen, dass nicht nur Wagenknecht vertrieben, sondern auch eine realitätstauglichere linke Politik unmöglich gemacht wird, ist hingegen ein großer Schaden für das Land. Denn die Geschichte, dass die beiden SPD-Genossen Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine zusammen Bahn fahren und am Ende drei Parteien dabei herauskommen, ist nicht lustig. Ob darin aber ein weiterer Totalschaden für linke Politik oder eine Hoffnung liegt, darüber wage ich keine Prognose. •
Bernd Stegemann ist Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch und veröffentlichte u. a. „Das Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie“, Theater der Zeit: Berlin 2017. Demnächst erscheint von ihm „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz Berlin.
Kommentare
Der Bipol Arbeit-Kapital, gesehen von der Seite der Arbeiter, und Sozialrevolution-Konservation, gesehen von der Seite der Konservativen, war einige Jahrzehnte der beste um die Demokratie zu ordnen.
Jetzt schätze ich dafür besser geeignet den Bipol "Versuch des wahrscheinlich Besten für alle durch [Gemeinschaft]" - "Versuch der wahrscheinlichen Befreiung für [Gemeinschaft]".
Ich danke für den Artikel und die Möglichkeit, zu kommentieren.
Wo ist denn die Kunst des dialektischen Denkens, wenn der Artikel über den Niedergang der Linken ohne ein kritisches Wort zu Wagenknecht auskommt?