Wer hat Angst vor Sahra Wagenknecht?
In der FAZ bedient Christian Geyer in einem Artikel über die ehemalige Führungsfigur der Partei Die Linke Weiblichkeitsstereotype, die weit bis in die Antike zurückreichen und nur eines offenbaren: Die Angst des Mannes vor der potenten Frau. Eine Replik von Svenja Flaßpöhler.
„Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz der Archaier!
Treibe dein Schiff ans Land, denn du musst unsere Stimmen erst hören!
Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen, bevor er Stimmen aus unserem Munde vernommen, die süß sind wie Honig.“
So locken die Sirenen den berühmten Seefahrer in Homers Odyssee. Die Sirenen sind vogelähnliche Frauen, die zwischen Gebeinen und getrockneter Haut auf einem grünen Eiland sitzen. Wer ihrem süßen Gesang verfällt, ist verloren.
Wer heute morgen in der FAZ den Feuilleton-Aufmacher von Christian Geyer über Sahra Wagenknecht gelesen hat, mag sich an das antike Epos erinnert gefühlt haben. „Ein Luder, das alle anderen in den Schatten stellt? Leichtfüßig lockend hält Sahra Wagenknecht ihre Prominenz im Spiel“, heißt es da gleich im Anlauf. Der Artikel handelt von Wagenknechts offen artikulierten Überlegungen, eine eigene Partei zu gründen. Doch gerade diese Offenheit legt Geyer als „Masche“ und „Lust an der Mimikry“ aus, als Spiel mit dem Schein also, durch den es ihr gelinge, potenzielle Mitgründer zu werben: „Die Kunst der Irreführung durch Locksignale gibt ihr (…) etwas Zauberhaftes und Leichtes“, schreibt Geyer und impliziert damit die deutliche Warnung, dem Lockruf ja nicht nachzugeben, denn – siehe Homer – das endet für die Betroffenen böse.
Männliche Furcht vor weiblicher Potenz
Am Ende des Artikels wird klar, dass das im Anlauf genannte „Luder“ eine Anspielung ist auf einen Prominenten-Podcast mit Namen „Lose Luder“, bei dem Wagenknecht einen Auftritt hatte, doch Podcast hin oder her, der Ton wird durch dieses Wort gleich am Anfang gesetzt. Ein Luder ist eine liederliche, mit ihren sexuellen Reizen spielende Frau; auch ein Köder bei der Jagd wird mit diesem Wort bezeichnet. So oder so ist das Luder in seiner Lockfunktion tödlich.
Es ist vollkommen klar, dass auf die Weise, wie Geyer es in einer der größten Tageszeitungen des Landes in Reinform prominent auf der ersten Seite des Feuilletons vormacht, niemals über einen Mann geschrieben werden würde – und so lohnt sich eine nähere Betrachtung. Die Verbindung von Weiblichkeit mit Schein und Maskerade ist so alt wie das Abendland. So wurden die Sophisten in der Antike mit weiblichen Stereotypen beschrieben, es gehe ihnen nicht – wie Sokrates – um Weisheit, sondern nur um scheinbare Weisheit, um rhetorische Verführung, für die sie als Wanderlehrer sogar Geld nehmen; natürlich lässt auch Geyer das Honorar, das Wagenknecht für ihr Buch „Die Selbstgerechten“ bekommen hat, nicht unerwähnt.
Kulturgeschichtlich ist es die Frau, die den Mann ins Verderben führt; nicht umgekehrt. Sie ist falsch wie eine Schlange, auch wenn sie nach außen hin den Schein wahrt. „Ein Biederweib im Angesicht, ein Schandsack in der Haut / Ist manche; Geiles liegt bedeckt und Frommes wird geschaut“, heißt es in Friedrich von Logaus Gedicht „Zweifelhafte Keuschheit“. Ein ‚Schandsack‘, so verrät das Grammatisch-kritische Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, ist eine „im höchsten Grade schändliche oder unzüchtige Weibesperson“. So schön und sittsam, so keusch und schamhaft Frauen nach außen hin tun, so liederlich sind sie in Wahrheit. Für Freud lag es im „Defekt ihres Genitales“ begründet, dass die Frau bestrebt ist, ihren Mangel durch umso mehr ausgestellte Schönheit zu bedecken. „An der körperlichen Eitelkeit des Weibes ist noch die Wirkung des Penisneides mitbeteiligt, da sie ihre Reize als späte Entschädigung für die ursprüngliche Minderwertigkeit umso höher einschätzen muss“, schreibt Freud in „Die Weiblichkeit“.
Zu durchsichtig
Doch sollte man nicht übersehen, dass Freud die kulturelle Abwertung der weiblichen Sexualität stets mitgedacht hat. Mit anderen Worten: Freud hat die männliche Furcht vor der potenten Frau klar erkannt, und auch die alten Mythen erzählen davon: Man denke an Medusa, jene Gorgonentochter aus der griechischen Mythologie, die größte Verführungskraft besaß und dafür enthauptet wurde; ihr abgeschnittener Kopf gilt bis heute als Symbol für das Grauen des weiblichen Geschlechts.
Tatsächlich lässt sich leicht zeigen, dass die männliche Furcht vor der weiblichen Potenz die Kulturgeschichte maßgeblich geprägt, ja geradezu hervorgebracht hat. Kein Zufall, dass der Frauenhasser Nietzsche das Gebären beständig gegen das Denken ausspielte. Es wäre viel gewonnen, wenn wir langsam an einen Punkt kämen, an dem diese aus Angst geborene Abwertung des Weiblichen, die nicht selten in Zerstörungslust mündet, ein Ende fände und Männer den Mut aufbrächten, sich inhaltlich und auf Augenhöhe mit Frauen auseinanderzusetzen. Alles andere ist leider von vorgestern. Und viel zu durchsichtig. •
Svenja Flaßpöhler ist Chefredakteurin des Philosophie Magazin. Ihr Buch „Die potente Frau“ ist 2018 bei Ullstein erschienen.
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