Das Pöbel-Problem
Die Superreichen werden zunehmend zur Zielscheibe gesellschaftlicher Kritik. Doch erfasst diese den Kern des Übels? Hegel zeigt, dass hier viel mehr als materielle Ungleichheit droht, und gelangt dabei selbst an die Grenzen seiner politischen Philosophie.
Hegels Rechtsphilosophie beansprucht nichts Geringeres, als eine Ordnung zu entwerfen, die das Individuum und das Ganze in Einklang bringt und gegensätzliche Kräfte miteinander versöhnt. Doch es bleibt ein Riss, den Hegel nicht zu kitten vermag, und der nicht wenige außerhalb der vermeintlich integrierenden Ordnung zurücklässt. Die Rede ist vom Pöbel.
Der Pöbel meint diejenigen, die nicht mehr in Markt und Gesellschaft eingebunden, sondern, vereinzelt und entfremdet, in einen Zustand der sozialen Isolation geworfen sind. Hegel dachte hier zuallererst an die Armen, an „das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise“, die damit ihr Recht, durch Arbeit zu existieren, ebenso verliert wie ihre Ehre und ihr Vertrauen in die Gesellschaft. Das Problem des armen Pöbels bleibt für Hegel eine ebenso „bewegende und quälende“ wie ungelöste Erscheinung, der erst in Karl Marx’ Konzept des Proletariats als revolutionärer Masse ein Platz in der Geschichte zukommt.
Doch damit nicht genug. Denn der arme Pöbel hat noch einen Doppelgänger: den reichen Pöbel. Auch unter den Reichen, bemerkt Hegel, drohe eine soziale Verwahrlosung, weil sie – in diesem Fall durch ihr Vermögen – jeglicher Abhängigkeit enthoben sind. Qua ihrer wirtschaftlichen Macht erheben sie sich über die Gesellschaft. Unsittlich, ja pöbelhaft wird also, wer aus dem „Vermittlungszusammenhang“ der Marktgesellschaft hinausgedrängt wird (die Armen) oder aus ihm heraustritt (die Reichen). Der Kern des Übels – das, was den Pöbel zum Pöbel macht – ist allerdings nicht Armut oder Reichtum an sich, sondern die sich damit verknüpfende, gesellschaftsfeindliche „Gesinnung“. Der arme Pöbel gibt sich der Empörung gegen die Gesellschaft hin, der reiche Pöbel fällt durch seine „Verdorbenheit“ auf.
Mischung aus Ekel und Faszination
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Wem gehört die Schlossallee?
Ob Privatbesitz der Grund allen Übels oder vielmehr die Voraussetzung der Freiheit ist - darüber war man sich in der Philosophiegeschichte uneins.

Zu viel Gerede
Die Diskussionen auf Facebook, Twitter und Co. sind oft von Missgunst, Hass und Häme geprägt. Daran werden auch einzelne technische Neuerungen oder sogar die Zerschlagung von Tech-Konzernen nichts ändern. Es hilft nur, an die Wurzel allen Übels zu gehen: Es braucht eine Beschränkung unserer Online-Kontakte.

Leopold Kohr – Small is beautiful
Für Leopold Kohr bestand die Wurzel allen Übels in der Überdimensionierung. Seine Philosophie des kleinen Gemeinwesens macht ihn zum Vordenker einer anderen Globalisierung. Heute vor 30 Jahren ist er gestorben.

Lob der Männlichkeit
Gegenwärtig gilt Männlichkeit oft als die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels. Die Welt, so die Annahme, wäre eine bessere, würde sie von Frauen und femininen Werten bestimmt. Das ist eine fatale Verkürzung.

Was ist fair?
John Rawls hat die wirkmächtigste Theorie der Gerechtigkeit des 20. Jahrhunderts entworfen. Der „Schleier des Nichtwissens“ bildete für ihn den Kern einer gerechten Gesellschaft. Mit seinem „Differenzprinzip“ legitimierte der Philosoph soziale Ungleichheiten unter bestimmten Bedingungen. Was können wir heute von Rawls lernen? Und was waren die Argumente seiner Kritiker? Ein Überblick mit Tiefenschärfe
Ungleichheit ist kein Schicksal
In Anfänge setzen David Graeber und David Wengrow auf die Vielfalt menschheitsgeschichtlicher Entwicklungen – und demontieren den Mythos von der Gesellschaft, die ihren Aufstieg mit dem Preis der Ungleichheit bezahlt.

Es kam so überraschend wie verheerend.
Das Coronavirus, das die Welt Anfang 2020 erfasste und in vielen Bereichen noch immer unseren Alltag bestimmt, erzeugte vor allem eines: ein globales Gefühl der Ungewissheit. Wurde das soziale Leben in kürzester Zeit still gestellt, Geschäfte, Kinos und Bars geschlossen und demokratische Grundrechte eingeschränkt, blieb zunächst unklar, wie lange dieser pandemische Ausnahmezustand andauern würde. Und selbst jetzt, da sich das Leben wieder einigermaßen normalisiert zu haben scheint, ist die Unsicherheit nach wie vor groß: Wird es womöglich doch noch eine zweite Infektionswelle geben? Wie stark werden die wirtschaftlichen Auswirkungen des Shutdowns sein? Entwickeln sich Gesellschaften nun solidarisch weiter oder vollziehen sie vielmehr autoritären Rollback? Ganz zu schweigen von den individuellen Ungewissheiten: Kann ich im Sommer in den Urlaub fahren? Werde ich im Herbst noch Arbeit haben? Hält die Beziehung der Belastung stand? Kurzum: Selten war unsere so planungsbedürftige Zivilisation mit so viel Ungewissheit konfrontiert wie derzeit.

Hegel als Denker des Kolonialismus?
Jüngst entflammte eine Debatte über die Frage, ob die Texte Georg Wilhelm Friedrich Hegels in Teilen kolonialistisches Denken offenbaren. Dabei beziehen sich die Vorwürfe besonders auf Hegels Kritik an mangelhaften Zuständen in puncto Freiheit, Recht und politischer Struktur auf dem afrikanischen Kontinent. Der Philosoph und Hegel-Biograf Klaus Vieweg argumentiert jedoch: Hegel war keineswegs Kolonialist, ganz im Gegenteil.

Kommentare
Ein sehr interessanter Essay mit einer geglückten Pointe: Die Verbindung von Ethik, Ökonomie und Freiheit.
Die Frage welche sich für mich daraus ergibt ist folgende: Gibt es eine gültige Moral für den Einzelnen? Ist die Komparation und somit eine gesellschaftliche Abhängigkeit das Wesen von Moral?
-->Damit meine Ich, ob uns der Punkt des unsittlichen Lebens eines Reichen, welches aus der ihm gegebenen Freiheit erwächst, uns aufzeigt, dass Moral nur im Bezug zu einer Abhängigkeit existieren kann [bzw. gesellschaftlicher Kontext] und somit ein Reicher und eine vollends unabhängige Person logisch zwangsläufig unsittlich sein muss, da ihm sein Status der Freiheit ihm seinen Status der Moral entzieht.
Die erste Prämisse [welche ich annehmen muss] wäre, dass Moral ein gesellschaftliches Produkt ist und nur qua einer Komparation (Gesellschaft) existieren kann. Jeglicher Reichtum, welcher einer Person eine vollends finanzielle - und somit gesellschaftliche - Freiheit ermöglicht, entsagt sich der Komparation innerhalb der Gesellschaft und ermöglicht dem reichen Subjekt ein Wertesystem ohne Bezugsnorm zu schaffen; Eine Moral des Einzelnen entsteht auf dem Boden der Freiheit, welches eher selbstgesetzten Maximen gleicht als einer wahrhaftigen Moral.
Doch eben jene Bezugsnorm und Wertung innerhalb der Gesellschaft gibt der Moral doch erst ihre Wirksamkeit; ein Wertesystem ohne vorhandenes System sind nur singuläre Werte und meiner Auffassung nach "definitionsleer". Durch die Einordnung diverser Handlungen einzelner Akteure in die Wertvorstellungen der Allgemeinheit ist eben jene resultierende Wertung und daraus entstehende Handlungsoptionen das Wesen der Moral und begründet darin seine Funktionalität.
Dies hat jedoch nicht zur Konsequenz, dass eine unabhängige Person (also eine äußerst reiche Person) durch ihre Freiheit bedingt lediglich schlechte Handlungen vollzieht. Ich möchte lediglich zum Ausdruck bringen, dass ihre Handlungen qua eines eigenen Wertesystems, welches sie sich aufgrund ihrer Freiheit leisten können, sie aus der Sphäre der Moral und Gesellschaft wirft. Unsittlich beschreibt somit nicht wertend die Handlungen des Reichen, sondern beschreibt eine vorhandene "un-Sittlichkeit", also ein Leben außerhalb der existierenden Moral und einhergehende Wertvorstellungen.
Abschließend möchte ich also aussagen, dass eine Moral des Einzelnen keine Gültigkeit in der Gesellschaft erlangt und ein Zeugnis seiner absoluten Freiheit von Gesellschaft [Entkopplung] darstellt.
Danke für die Möglichkeit hier einen Kommentar zu hinterlassen.
Liebe Grüße Nico