Rechtsleere
Advokaten, Richter und Beamte bevölkern Kafkas Universum. So detailliert der moderne Rechtsstaat aber auch beschrieben wird, so unklar bleibt seine innere Funktionsweise. Besteht gerade darin Kafkas Rechtskritik?
Wie kein anderer Autor hat Kafka es vermocht, die Wirkweisen des Rechts zu erfassen. Der wohl am meisten diskutierte Text in diesem Zusammenhang ist die 1913 geschriebene und 1915 veröffentlichte Parabel Vor dem Gesetz. Sie handelt von einem Mann vom Lande, der vor ein offenes Tor tritt, hinter dem der Legende zufolge das Gesetz sein soll. Das Tor wird bewacht von einem Türhüter, der ihm den Zutritt verwehrt. Statt zu gehen, beschließt der Mann, sich neben den Türhüter zu setzen und auf Einlass zu warten. Doch trotz jahrelangen Wartens und etlicher Überredungsversuche wird ihm kein Zugang gewährt. Der Mann vom Lande wird alt, seine Augen schwach und in diesem Augenblick meint er ein Licht aus dem Tor hervorscheinen zu sehen. Doch zu spät. Der Türhüter schließt das Tor mit den Worten: „Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.“
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Die neue Sonderausgabe: Der unendliche Kafka
Auch hundert Jahre nach seinem Tod beschäftigt und berührt Franz Kafka. Fast unendlich erscheint der Interpretationsraum, den sein Werk eröffnet.
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Kommentare
Ein erstaunlich gelungener Beitrag, der die Ambiguität des Lebens, der es prägenden normativen Leitbilder (Gesetz) thematisiert - ohne sich eine Auflösung anzumaßen. Fragen bleiben also weiterhin offen: Warum hat sich der Mann vom Land nicht gewaltsam Zutritt zum "Gesetz" verschafft, sich quasi in Besitz des Gesetzes gebracht? Warum nur fällt mir dazu Carl Schmitts Diktum zur Souveränität im Ausnahmezustand ein?