Brauchen wir Gott in der Moral?
Am 9. November ist der Philosoph Herbert Schnädelbach gestorben. Mit der Theologin Margot Käßmann sprach der Religionskritiker 2013 über die Frage, wie Menschen ohne Rückgriff auf Gott zu moralischem Handeln zu bewegen sind, und die Möglichkeit eines leeren, gottverlassenen Himmels.
Ein Sitzungsraum im Gebäude der Evangelischen Kirche Deutschlands am Berliner Gendarmenmarkt. Es ist 11 Uhr vormittags, fahl fällt Sonnenlicht durch den weißen Sichtschutz. Margot Käßmann ist als Erste da, sie wirkt etwas angespannt – oder ist sie einfach nur ein wenig erschöpft? Während sich die Theologin mit Kaffee und Weintrauben versorgt, tritt Herbert Schnädelbach ein und entschuldigt sich sofort für die Verspätung, obwohl er auf die Minute pünktlich ist. Man nimmt am großen runden Tisch Platz, auf Wunsch des Fotografen direkt nebeneinander. Schon nach wenigen Minuten verwandelt sich der anfängliche Argwohn in interessierte Zugewandtheit. Alle Beteiligten sind jetzt hellwach.
Herr Schnädelbach, Sie behaupten, das Christentum als Ideologie, Tradition und Institution laste als Fluch auf unserer Zivilisation. Was meinen Sie damit?
Schnädelbach: Wenn man sich mit der Philosophie der Neuzeit beschäftigt, sieht man, wie die Aufklärungsbewegung gegen bestimmte Traditionen kämpft, die auf dem Neuen Testament beruhen. Fluch ist vielleicht zu viel gesagt, aber die Erbsündenlehre in der augustinisch-lutherischen Fassung ist eine schwere Hypothek, die bis heute vor allem in der Pädagogik nachwirkt. Die Vorstellung, dass der Mensch als Wilder auf die Welt kommt und erst einmal domestiziert werden muss, dass sein Wille gebrochen werden muss – genau das ist eine der Erblasten, die auf einem ganz bestimmten Aspekt des christlichen Lehrbestands beruhen.
Käßmann: Sie werden verstehen, dass ich das nicht als Fluch, sondern als Segen sehe. Ich bin ganz bestimmt kein Fan der Erbsündenlehre, nur kann ich nachvollziehen, was Augustinus meinte: Warum will der Mensch im Prinzip das Gute und tut es dann nicht? Es muss irgendetwas in ihm angelegt sein, was ihn immer wieder zum Bösen oder Schlechten verführt. Ein anderes Beispiel ist die Zuwendung zu den Kindern, die Jesus vorführt. Das zeigt, wie er sich auf ihre Ebene begibt, in die Knie geht, um die Kinder „zu herzen“, ja sie als Vorbild im Glauben benennt. Die Pädagogik ist sicher vom Christentum beeinflusst, nehmen wir jemanden wie Piaget: Als Reformpädagoge war er sehr fortschrittlich, aber auch er hatte die Idee, das Kind müsse erst „werden“. Eigentlich ist Jesus dem weit voraus.
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