„Im Westen nichts Neues” – Voyeurismus oder Antikriegsfilm?
Die deutsche Netflix-Produktion Im Westen nichts Neues hat soeben vier Oscars gewonnen und wird von vielen als Meisterwerk gefeiert. Teile unserer Redaktion sehen das ähnlich, andere finden den Streifen furchtbar. Ein Hausstreit über die Macht der Bilder.
Maximilian Kisters (MK): Im Westen nichts Neues ist eine wichtige Warnung, da Krieg in letzter Zeit zu einem alltäglichen Thema wird. Wir brauchen bei jeder Gelegenheit eine Darstellung des Kriegs, die ihn in seiner vollen Grausamkeit darstellt. Fiktion genoss schon von antiken Denker ein hohes Ansehen: Aristoteles schätzte die Darstellung von Sachverhalten in der Kunst als Ventil für Dinge, die sonst unausgesprochen bleiben würden.
Hendrik Buchholz (HB): Ich würde dir in zwei Punkten zustimmen. Warnung vor Krieg kann gar nicht unangebracht sein und die Fiktion kann sich als hervorragendes Instrument eignen, diese Warnung hochzuhalten. Es ist jedoch die Frage, ob das bei Im Westen nichts Neues und genreähnlichen Kriegsfilmen gelingt. Hier scheint lediglich eine martialische und realistische Darstellung von Gewalt die triviale Botschaft per Bild zu vermitteln, Krieg ist grausam; eine Eindimensionalität, die mit echtem Kriegsgeschehen überhaupt nicht zu vergleichen ist. Diese Eindimensionalität gibt sowohl die echte Geschichte als auch das Buch nicht her. Hier sind viele Dinge unvorteilhaft verändert worden, die uns zum Beispiel gänzlich über das psychologische Innenleben der Figuren im Dunkeln lassen. Der Film liefert lediglich Prototypen statt ambivalenter Figuren.
MK: Ist das ein Anspruch, den wir an einen Film haben können? Muss ich mehrere Dimensionen darstellen, wenn die erste schon Trauma für den einen und Tod für den anderen Soldaten bedeutet?
Schließlich kann der Zuschauer in einem so biographischen Setting sehen, wie das Individuum den Krieg erlebt, und keine Analyse über das Kriegsgeschehen erfahren. Eine Qualität, anhand derer audiovisuelle Medien bemessen werden, ist es schließlich, was sie mit ihrer Bildsprache und als Werk kommunizieren, nicht wie sie die Realität abbilden.
HB: Stimmt, Filme müssen auf keinen Fall dem Anspruch gerecht werden, die Realität, in diesem Fall die Kriegsrealität, vollumfänglich darzustellen. Interessanterweise stellt er aber noch nicht einmal das individuelle Kriegstrauma des Soldaten gut dar. Der Film gibt ästhetisch nur das her, was wir auch an Kriegsbildern von einem Kriegsfilm erwarten und geht nicht darüber hinaus. Er ist somit im Sinne des Begriffs der „Kulturindustrie“ von Adorno nicht authentisch. Das Kunstwerk, in diesem Fall der Film, ist lediglich ein den Kriegsfilmstandard erfüllendes Konsumprodukt, wie es Adorno kritisierte, das mit nagelneuer Kamera- und Schnitttechnik wirbt. Der Zuschauer zahlt den Eintritt oder Monatspreis eines Netflixabos lediglich wegen des erwartbaren Adrenalinkicks beim Sehen von Kriegsszenen. Ich, als Zuschauer, konsumiere die hyperrealistischen Gewaltexzesse nur. Sie erschrecken mich bei Im Westen nichts Neues auf erwartbare Weise. Dann nach dem Film kann ich zu dem begrenzt komplexen Urteil kommen: Krieg ist schrecklich, und die neue Filmtechnik, die war echt der Hammer!
MK: Genau das ist doch die Stärke des Films. Eine vermeintliche Trivialität, nämlich dass Krieg schrecklich ist, wird explizit und anschaulich gezeigt. Friedrich Schlegel wies auf diesen Umgang mit bekannten Weisheiten in Über die Unverständlichkeit hin: Aufgrund der Natur dieser „Wahrheiten“ sei „nichts notwendiger als sie immer neu, und wo möglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ausgesprochen werden können“.
HB: Gerade die Wahrheiten, die nicht ausgesprochen werden können, verdienen jedoch einen kreativen und untypischen Artikulationsversuch. Vielleicht hilft folgende Analogie: Im Westen nichts Neues will lediglich mit der Darstellung von extremen und verstörenden Bildern ein Kriegstrauma erklärbar machen. Das ist so, als würde in einem Film Liebe durch die ausschließliche Darstellung von Sex erfahrbar gemacht werden. Was ich damit verdeutlichen möchte: Die reine Aneinanderreihung von Bildern, die den Zuschauer am größtmöglichsten affizieren, kann hier nicht das bewirken, was bewirkt werden sollte; nämlich eine nachhallende ästhetische Kriegserfahrung, die natürlich nur aspekthaft verbleiben kann. Gewalt und Trauma sind in gewisser Weise problematisch auf realistische Weise im Medium Film zu konsumieren. Es gibt jedoch Filme, die das vermögen – wie zum Beispiel der Vietnam- und Kriegsfilm Full Metal Jacket, der das schon in den 80ern unter dem Aspekt einer „Erziehung“ zur Moral des Krieges tut. Aber auch Michael Hanekes sehr empfehlenswerter (Nichtkriegs-)Film Funny Games stellt die Eigentümlichkeit von Gewaltexzessen auf realistische, aber ungewöhnliche Weise dar.
MK: Aber es geht doch auch bei Im Westen nichts Neues über die Aneinanderreihung von Bildern hinaus. Wir beobachten, wie ein junger Soldat früh an seinem Einsatz zweifelt und als unterstes Glied der Kette immer weitermachen muss. Das Leben des Protagonisten wird als Tragödie erzählt, für Auseinandersetzungen mit seinem Trauma bleibt keine Zeit, schließlich ereilt ihn dasselbe Schicksal wie das der meisten Soldaten. Er stirbt an der Front. Einen dreckigen Tod; zum Helden macht ihn das nicht, sondern zum Opfer der Kriegslogik. Im Westen nichts Neues ist zu einem gewissen Grad Kulturindustrie, aber der Film leistet das, was er leisten kann: Darstellen. Und das nahezu subversiv. In der Massenkultur, meint Adorno, sei alles „stumpfsinnig ausgeklügelte Überraschung“. Hollywoodkino brauche Twists und komplexe Erzählstränge, nur um den Zuschauer (kognitiv) zu beschäftigen. Der Inhalt rücke hinter den „Stil“ der Kulturindustrie und die Werke würden alle demselben „Skelett“ entsprechen. Dieser Film geht aber über ein solches Schema hinaus. Es wird fast prognostizierbar gezeigt, wohin ein Krieg führt.
HB: Tatsächlich stirbt der Protagonist in einem bildgewaltigen Spektakel, das sich dem Spannungsbogen einer Drehbuchlogik unterwirft. Voll Hoffnung blickt der Zuschauer der letzten Schlacht entgegen, die für unseren Helden, ich würde ihn so nennen, tragisch endet. Aber in welchem Verhältnis steht nun das Gefühl der Spannung und die Ehrfurcht vor den hyperrealistischen Darstellungen auf der einen, zum angeblichen Nachvollzug einer Kriegsrealität durch den Zuschauer auf der anderen Seite? Da scheint sich ein Widerspruch einzuschleichen. Ein episches Storytelling á la Hollywood will Gefühle wecken, die sich gar nicht mit der Lebensrealität des Dargestellten decken können. Das ist ein Spagat, der auch von Im Westen nichts Neues nicht gemeistert wird.
MK: Die Ästhetik des Films untergräbt seine Bedeutung aber nicht. Die langen Bildstrecken und graphischen Darstellungen schmälern nicht seine Wirkung als Antikriegsfilm. Der Tod im Schützengraben sieht in 4K und bei Raketen am Himmel zwar besser aus, fühlt sich aber nur umso grausamer an. Die letzte Schlacht versinnbildlicht nur, wie ein Krieg bis in die letzten Züge geführt, aber von keinem Soldaten gewonnen wird. Am Ende ruft das Schicksal des Protagonisten keine Ehrfurcht, sondern Mitleid hervor. Mit anderen Worten: Der ästhetische Tod zwingt uns, die Grausamkeit des Krieges zu sehen. •