Malcom Ferdinand: „Wer der Umwelt helfen will, benötigt Respekt vor indigenen Gemeinschaften“
Für Malcom Ferdinand hängt die Klimakatastrophe direkt mit der Kolonialisierung indigener Bevölkerungen zusammen. Ein Gespräch über die Beziehung der Maroons – einer indigenen Gruppe, die der Sklaverei entkam – zur Natur und darüber, was wir von ihnen lernen sollten.
Herr Ferdinand, Sie sind auf Martinique geboren und aufgewachsen, einer Insel in der Karibik, die früher eine französische Kolonie war. Martinique wurde auch von der indigenen Gruppe der Maroons bewohnt. Können Sie uns über die Maroons und ihren Umgang mit der Natur, insbesondere mit Pflanzen und Bäumen, erzählen?
Die Maroons sind Nachkommen von Afrikanern, die der kolonialen Sklaverei entkommen sind. Ihre Gemeinschaften gab und gibt es in fast allen Teilen Amerikas, insbesondere in Brasilien, in der Karibik, auf anderen Inseln im Indischen Ozean, aber auch auf Kap Verde. Dort schlossen sie sich oft anderen indigenen Völkern an. Was sie alle trotz ihrer Unterschiede vereint, ist ihr Widerstand gegen das System der Sklaverei und gegen die kolonialistische Art, die Welt zu bewohnen. Das Verhältnis der Maroons zu Pflanzen und Bäumen ist – im Gegensatz zu dem der Kolonialherren – nicht das der monokulturellen Ausbeutung. Anstatt ihre Umwelt zu dominieren, geht es den Maroons darum, eine Allianz zwischen den Elementen des Ökosystems zu bilden. Dabei haben alle Elemente unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen, auch der Mensch. Aber es geht dabei weder darum, „eins“ mit der Natur zu werden, noch sie auszubeuten, sondern um ein Zusammenleben, bei dem jeder für den anderen Verantwortung übernimmt.
Könnten Sie uns ein Beispiel für ein solches Zusammenleben nennen?
Die Wälder an Orten wie Martinique oder Guadeloupe waren für die Maroons überlebenswichtig und deswegen auch Mittelpunkt ihres Daseins: Sie waren ein Versteck, etwas, um das es sich zu kümmern galt, eine Quelle für Nahrung und ein Ort zum Leben. Bäume sind mehr als nur Bäume; sie sind aktive Mitglieder der Gemeinschaft. Außerdem glauben die Maroons noch immer fest an die heilenden Kräfte der Pflanzen. Ein Beispiel dafür ist „Zèb à pik“, ein Gewächs, das Erkältungen heilen können soll. Oder „Zèb charpantié“, das wörtlich übersetzt „Kraut des Tischlers“ heißt und von den Maroons verwendet wird, wenn man sich bei Handwerksarbeiten am Finger verletzt. Die Kolonialisten trauten dem Wissen der Maroons nicht und fürchteten sich davor, weshalb die Verwendung von Heilpflanzen vor Ort nicht erlaubt war. Noch bis Ende des 20. Jahrhunderts war es in den französischen Kolonien verboten, die heimischen Pflanzen zu benutzen. Tragischerweise bedeutete dieses Bündnis zwischen den Maroons und der Natur auch, dass die Kolonialherren ihre Dominanz zeigten, indem sie die Natur angriffen: Wie wird man die Maroons los? Indem man die Wälder zerstört! Die Maroons wurden zu den wichtigsten Beschützern des Waldes, denn ihr Leben hing von ihm ab. Aber es war und ist nicht nur eine Beziehung der Abhängigkeit, sondern auch der Spiritualität, die sich durch Bäume und Pflanzen manifestiert.
Wie sieht diese spirituelle Verbindung zwischen Maroons und Pflanzen aus?
Es gibt in fast jeder Maroon-Gemeinschaft verschiedene Götter, die mit dem Wald oder dem Wasser verbunden sind: Yemayá in Brasilien zum Beispiel ist eine Wassergöttin, die Frauen, Fischer und Schiffbrüchige beschützt. In Ayiti, wie Haiti auf Kreolisch heißt, spielt Voodoo eine große Rolle. Einige Bäume gelten als Gefäße für Geister und Seelen, was sie zu einem wichtigen Bestandteil vieler Zeremonien macht. Eines dieser Gefäße ist der Mapoubaum. Im 20. Jahrhundert fällten Vertreter der christlichen Kirche jedoch die meisten dieser Bäume und zerstörten damit die spirituelle Verbindung. Auch die Kolonialherren holzten viele Mapous ab, um Platz für Plantagen zu schaffen. Heute gibt es in Ayiti nur noch wenige davon.
Was können wir von der Beziehung der Maroons zu Pflanzen und Bäumen lernen?
Vorab gilt es zu bedenken, dass sich indigene Gemeinschaften massiv voneinander unterscheiden und dass die Geschichte der Maroons mit der westlichen modernen Gesellschaft zusammenhängt. Ich möchte davon abraten, sich mit indigenen Gruppen in der Hoffnung zu beschäftigen, irgendeine Technik oder Lebensweise zu finden, die für den Westen nützlich wäre – sei es auf spiritueller, anthropologischer oder ökologischer Ebene. Jedoch ist eine der wichtigsten Lektionen, die wir von vielen indigenen Völkern lernen können, dass das Schicksal der Natur direkt mit dem des Menschen verbunden ist. Nur durch eine Neukonzeption unserer Beziehung zur Natur können wir uns der Vorherrschaft der Menschen entledigen. Die klassische Genealogie des Denkens beschränkt sich eher auf die Erfahrungen weißer Männer in postkolonialen und kolonialen Gesellschaften und ihren Wunsch nach einer „freien“ Erfahrung der „unberührten Natur“. Dabei wird übersehen, dass die Menschen dort bereits mit der Natur koexistierten. Diese Kolonialisierung des Wissens besteht auch heute noch. Menschen wie Andreas Malm nutzen die Erfahrung der Maroons, um eigene Vorstellungen von der Natur zu verteidigen.
Andreas Malm, der Autor von Wie man eine Pipeline in die Luft jagt, wird im globalen Norden meist als eine Art Klimaheld gehandelt. Sie aber sehen in seinen Schriften eine Tendenz, die Idee der „Wildnis“ zu idealisieren und zu fetischisieren?
In gewisser Weise ja. Die „Wildnis“, dieses Bild von unberührten Wäldern, ist zu einem Zufluchtsort für einen Zustand der Unschuld und Unwissenheit geworden. Das führt zu einer sehr unpolitischen Perspektive, die es nicht erlaubt, Ungerechtigkeiten zu betrachten. Es ist sehr einfach zu sagen: „Bewahrt die Natur.“ Aber was ist Natur? Wer sollte sie bewahren? Und wie sollten wir sie benennen?
Die Frage, wie wir die Natur benennen, wird von vielen als sehr wichtig angesehen. Weltweit kämpfen indigene Aktivisten dafür, Pflanzen mit den Namen zu benennen, die ihnen ursprünglich von indigenen Völkern gegeben wurden. Warum ist das so wichtig?
Kolonialisierung ist nicht nur ein politischer und militärischer Prozess, sondern beinhaltet auch die Kontrolle über Wissen. Die Umbenennung von etwas, das bereits einen Namen hat, ist dabei ein gewalttätiger Prozess. Etwas als Entdeckung darzustellen, verschleiert die gewaltvolle Aneignung des Landes, die damit einherging. Ich bezeichne dies als „Altericide“, die Negierung des Anderen. Wenn man Pflanzen einen neuen, lateinischen und angeblich „wissenschaftlicheren“ Namen gibt, ignoriert man, dass an diesem Ort bereits Menschen lebten und Begriffe für die Natur hatten. Ähnlich problematisch sind viele Begriffe in Umweltdiskursen, wie das „Anthropozän“. Wir halten solche Begriffe fälschlicherweise für neutral, obwohl sie Vorurteile und dominante Denkansätze bekräftigen können. Das Anthropozän beispielsweise blendet die Geschichte der Sklaverei aus, indem es den Beginn des Klimawandels im Industriezeitalter verortet.
Sie haben bereits erwähnt, dass die Kolonialisierung nicht nur ein politischer Prozess war, sondern auch Auswirkungen auf das Verhältnis zur Natur hatte. Wann wurde die Verbindung zwischen Pflanzen und indigenen Gemeinschaften zum ersten Mal gestört?
Das Jahr 1492, als Kolumbus nach Amerika kam, stellt sicherlich einen Wendepunkt dar. Die Kolonialisierung verfestigte den noch heute existierenden Glauben, dass die Natur nur existiert, um die Wünsche einer Handvoll Menschen zu befriedigen. Jedoch glaube ich nicht, dass die Verbindung zur Natur vollständig gekappt wurde. Viele indigene Gruppen sind den Pflanzen immer noch in starker Weise verbunden. Was ich in meinem Buch Decolonial Ecology zeigen wollte, ist, dass die Fortführung ihrer Praktiken auch eine Form des Widerstands ist.
Haben Sie ein Beispiel dafür, wie Pflanzen als eine Form des politischen Widerstands eingesetzt wurden?
Einige Gruppen in der Karibik pflanzten eine bestimmte Art von „Cassava“ an, eine Knolle, die giftig ist. Sie tauchten Pfeilspitzen in eine daraus hergestellte Mischung, um die Kolonialherren zu erschießen. Ein anderes Beispiel wären Heilpflanzen als Form des Widerstands. Wie ich bereits erwähnte, war diese Nutzung den Ureinwohnern gesetzlich verboten. Aber die Maroons wendeten das Verbot zu ihrem Vorteil. Auf Martinique gibt es eine sehr giftige Schlange. Die Kolonialherren wussten nicht, wie man ihre Bisse heilen konnte. Die Maroons, die das pflanzliche Gegenmittel kannten, enthielten ihnen dieses Wissen vor. Dies ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie Menschen, Pflanzen und Tiere eine Allianz bildeten.
Viele Personen führen den Klimawandel auf menschliche Aktivitäten im Industriezeitalter zurück. Sie weisen jedoch darauf hin, dass diese Sichtweise lange bestehende Herrschaftsverhältnisse außer Acht lässt.
Ja, denn wir beschäftigen uns vor allem mit der Rettung der Umwelt, insofern die westliche Lebensweise bedroht ist. Aber versuchen wir dabei auch, eine gerechtere Welt zu schaffen? Wir übersehen einen wesentlichen Teil des Problems, wenn wir dies als zwei voneinander unabhängige Dinge betrachten. Dabei beschränken wir uns oft auf technokratische Lösungswege: Eine Chemikalie ist giftig? Wir nehmen sie vom Markt. Umweltverschmutzung durch Abgase? Wir erlassen eine neue Vorschrift. Aber eigentlich geht es für indigene Gemeinschaften darum, fünf Jahrhunderte später endlich zu verändern, wie wir die Erde bewohnen. Wenn man der Umwelt helfen will, muss man zunächst die indigenen Gemeinschaften mit Respekt behandeln. Sie leben immer noch unter extrem schwierigen Bedingungen: Die meisten der Menschen, die heute im Amazonas getötet werden, gehören indigenen Gruppen an. Sie verlieren ihr Leben, weil sie versuchen, die Bäume und damit uns alle zu schützen. Und dann kommen wir und sagen: „Seht her, sie haben eine gute Beziehung zu Pflanzen!“ Das kann sehr problematisch werden. Wir müssen uns fragen, wie wir uns mit indigenen Praktiken auf eine nichtexotisierende Weise auseinandersetzen können. Wir sollten uns von ihren Weltanschauungen herausfordern lassen, ohne dabei die Geschichte dieser Völker und ihre Forderungen zu vergessen. Es ist politisch wichtig zu verstehen, dass meine Existenz als Mensch von meiner kollektiven Beziehung zur Erde abhängt.
Bewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion betonen, dass es bei ihrem Kampf für Klimagerechtigkeit darum geht, den Menschen klarzumachen, dass sie im Einklang mit der Natur leben müssen und nicht endlos Ressourcen verbrauchen dürfen. Das klingt nach dem, wofür sich auch indigene Völker einsetzen.
Es erfordert einigen Mut, Teil dieser Bewegungen zu sein. Dennoch sollten wir kritisch bleiben. Den meisten dieser Bewegungen mangelt es an Diversität, insbesondere in Bezug auf den sozialen und ethnischen Hintergrund. Der Ausschluss derer, die einst kolonialisiert und versklavt waren, schafft die Illusion, dass sie nicht umweltbewusst denken. Nur wenn wir diesen Ausschluss überwinden, können wir neue Formen des Aktivismus schaffen. Wir müssen uns fragen, wie die Stimmen der Unterdrückten an den mächtigsten Orten der Welt gehört werden können. Dies setzt voraus, dass wir unser Verständnis vom eigentlichen Problem ändern. Natürlich geht es auch um das Klima. Wir befinden uns mitten im sechsten Massenaussterben! Aber das lässt sich nicht vom politischen Aspekt trennen. Erst durch die Kolonialisierung der indigenen Völker, die die Wälder und das Land geschützt haben, konnte es so weit kommen. Viele Umweltbewegungen halten einen Zustand der Unwissenheit und damit der Verantwortungslosigkeit aufrecht, weil sie die Hinterlassenschaften des Kolonialismus und der Sklaverei, auf denen die moderne Welt gründet, nicht berücksichtigen. Dabei weiß der globale Norden, was Gerechtigkeit bedeutet, doch diese Gerechtigkeit ist nur für eine Handvoll Leute reserviert. Nur durch diese Bewusstwerdung können wir etwas verändern. •
Malcom Ferdinand, geboren und aufgewachsen auf der karibischen Insel Martinique, war ursprünglich Bau- und Umweltingenieur, bevor er an der Université Paris Diderot seinen Doktor in politischer Philosophie machte. Er arbeitet heute als Forscher am Centre national de la recherche scientifique und an der Université Paris Dauphine-PSL im Bereich der politischen Ökologie. Zum Thema erschien von ihm: „Decolonial Ecology. Thinking from the Caribbean World“ (Polity, 2021)
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