Martin Seel: „Es gibt eine Analogie zwischen Spielen und dem Gebrauch der Sprache“
Wenn wir sprechen, spielen wir auch auf eine Weise. So lautet eine zentrale These im neuen Buch von Martin Seel. Im Interview erläutert der Philosoph, wie unsere Kommunikation unser Handeln und Denken prägt.
Herr Seel, warum spielen wir, wenn wir sprechen?
Weil wir uns im Spielraum der Sprache bewegen. Es gibt eine aufschlussreiche Analogie zwischen gewöhnlichen Spielen und dem Gebrauch der Sprache. In beiden Zusammenhängen folgen wir Regeln, die uns nicht im voraus festgelegte Möglichkeiten des Denkens und Handelns eröffnen. In einem derartigen Möglichkeitsraum spielt sich auch die menschliche Kommunikation ab. Der Erkundung dieses Spielraums der Sprache ist mein Buch gewidmet.
Hat dieses Spiel irgendwann einmal einen Anfang gehabt?
Es hat wohl nicht den einen, genau datierbaren Anfang gehabt, sondern sich über eine lange Zeit hinweg sukzessive eingespielt. Es gab im 18. Jahrhundert eine wilde Diskussion darüber, wie Sprache hat entstehen können – ob sie eine göttliche Gabe war, durch Verabredung oder durch Nachahmung der Natur entstanden ist. Das Interessante hierbei ist, dass die Autoren eigentlich darüber diskutieren, welche Rolle der Sprache in menschlichen Kulturen und Gemeinschaften zukommt und gar nicht so sehr darüber, wie sie ihren Anfang genommen hat.
Welche Philosophen waren in diesen Diskussionen federführend?
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