Sondierung statt Polarisierung
Politische Debatten werden zunehmend von Selbstvergewisserungsgemeinschaften geprägt, die sich in Absolutheitsansprüchen verschanzen. Derlei kennt auch die christliche Tradition zur Genüge. Doch gerade deshalb lässt sich aus Letzterer womöglich lernen, dass Kritik nicht immer ein Angriff sein muss – und der andere womöglich auch recht haben könnte.
„Wie kannst du als Bratschistin nur mit diesem Heavy-Metal-Freak zusammen sein?“ Unverständnis in der Stimme der Frau am Vierertisch gegenüber, neulich im ICE. Noch bevor das Gegenüber antworten kann, denkt die Fragende laut weiter. „Vermutlich redet ihr nie über Musik?“ „Ganz im Gegenteil“, sagt die Befragte. „Wir hören zusammen immer die Musik, die wir nicht leiden können.“ Es gibt Dialoge, die muss man einfach belauschen, weil sie so bemerkenswert sind. Dieser gehört dazu. Sich verschiedenen Musikstilen verschrieben zu haben, ist fürs Liebesglück nicht erheblich, auch wenn die junge Frau, die da gegenüber einer Kollegin unter Rechtfertigungsdruck gerät, offenbar Profimusikerin ist. Es ist die Antwort der Bratschistin, die im Kopf bleibt. Es hätte mehrere andere übliche Reaktionen gegeben. „Wir sprechen nicht über Musik“, wäre die eine. Die Differenz einfach ausklammern. Oder sich auf ein höheres Gemeinsames beziehen. „Hauptsache, er mag Musik.“ Dann wäre da noch die Variante des gehobenen Feuilletons: „Wir arbeiten am Crossover der Musikstile.“ Wird bei der Kombination nicht einfach, aber sogar so was gibt es schon, Streichquartette, die berühmte Heavy-Metal-Stücke interpretieren. Die Frau am Nachbartisch entscheidet sich dafür, die Differenz als Form der Nähe entdecken zu wollen.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten, trotzdem steckt in dem leicht dahingeworfenen Satz der Ansatz eines Gesellschaftsmodells, das gerade ziemlich unter Druck gerät: die Zumutung des anderen, den man nicht versteht und dessen Lebensstil man nicht teilt, nicht zu bekämpfen, sondern als Form der Beziehung zum anderen zu akzeptieren. Das Unverständnis in der Frage der Freundin, dieses mehrmalige ungeduldige Nachbohren zeigt, wie ungewöhnlich die Lösung ist, die die beiden Verschiedenen in ihrem Miteinander gewählt haben. Sich einander in seiner Andersartigkeit zuzumuten. Im Trend liegen Selbstvergewisserungsgemeinschaften, die einander nur noch im Modus der Abgrenzung begegnen. Die sozialen Medien heizen diese Sehnsucht nach Abgrenzung an. Das Wort, das sich für diese Entwicklung eingebürgert hat, heißt „Blase“ und ist viel zu nett, denn eine Blase lässt sich mit einem gezielten Stich zerstören. Sie fällt leicht in sich zusammen und verletzt nicht mal jemanden beim Einsturz. Die Abschottungsmilieus, die nur noch sich selbst und ihre Wahrheit kennen, sind längst zu Parallelgesellschaften aller Art geworden, in denen Andersdenkende nicht mehr als Gegner, sondern als Feinde wahrgenommen werden. Es mag sein, dass die vergangenen Monate des Wahlkampfes dieses Bedürfnis verstärkt haben. Wer sich durchsetzen will, muss schrill sein, laut. Übertreibung oder die Fokussierung auf Nebensächlichkeiten gehören zum Wahlkampfsound, ständig werden Bekenntnisse verlangt. Dabei geht es gar nicht um Letzte Dinge, sondern um Fragen der Problembeschreibung und mögliche Lösungen vieler kleiner und auch ein paar sehr großer Fragen. Auch die Pandemie hat sicher ihren Beitrag geleistet zur Verschärfung des Umgangstons. Wir sind es nicht mehr gewohnt, Menschen zu begegnen, denen wir nicht ausdrücklich begegnen wollen. Die öffentlichen Plätze und Räume waren lange leer gefegt, Zufallsbegegnungen am Rande des Alltags mit denen, die anders aussehen, anders riechen, anders reden, beschränkten sich auf Supermarktbesuche oder berufliche Begegnungen. Eine entleibte Gesellschaft, die sich hinter Bildschirmen begegnet. Wie will man sich auseinandersetzen, ja sogar streiten, wenn der Ausschalt-Button nur einen Klick entfernt ist? Bei einem guten Essen mit Freundinnen und Freunden kann es schon mal laut hergehen. Da mag auch mal jemand in der Hitze des Wortgefechts wütend den Raum verlassen. Für Versöhnung in der Küche bei einem letzten Getränk ist immer noch Zeit.
Die künstliche Trennung von intellektueller Auseinandersetzung und körperlichem Wohlgefühl hilft nicht dabei, die anderen mit ihren anderen Überzeugungen, ihren anderen Argumenten, ihren anderen Entscheidungen an sich heranzulassen. So werden Medien zum künstlichen Austragungsort von Debatten, die am eigenen Vereinstisch nicht stattfinden konnten. Das Unbedingte, das sich in Forderungen eingeschlichen hat, der Zustand des Verdachtes, dieses Lauern auf Fehler oder auch nur die Bequemlichkeit, die sich scheut, überhaupt miteinander zu diskutieren, wenn man es hinter dem Rücken derer, die es anders sehen, so viel leichter klären kann, hat auch etwas mit denen zu tun, die das Gesellschaftsklima mit ihren Verschwörungsgeschichten vergiften. Mit dämonischer Energie verwandeln sie Lügen in Wahrheiten und streuen sie geschickt. Sie haben sich in ihrem Kokon aus Kränkung, Wut und Umsturzfantasien eingewickelt. Radikalisierung bis hin zur Gewalt nehmen bei denen, die mit dem irreführenden Begriff der Querdenker beschrieben werden, offenkundig zu.
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Wahrscheinlich geht es Ihnen derzeit ähnlich. Fast täglich muss ich mir aufs Neue eingestehen, wie viel Falsches ich die letzten Jahre für wahr und absolut unumstößlich gehalten habe. Und wie zweifelhaft mir deshalb nun alle Annahmen geworden sind, die auf diesem Fundament aufbauten. Niemand, dessen Urteilskraft ich traute, hat den Brexit ernsthaft für möglich gehalten. Niemand die Wahl Donald Trumps. Und hätte mir ein kundiger Freund vor nur zwei Jahren prophezeit, dass im Frühjahr 2017 der Fortbestand der USA als liberaler Rechtsstaat ebenso ernsthaft infrage steht wie die Zukunft der EU, ich hätte ihn als unheilbaren Apokalyptiker belächelt. Auf die Frage, woran ich derzeit am meisten zweifle, vermag ich deshalb nur eine ehrliche Antwort zu geben: Ich zweifle an mir selbst. Nicht zuletzt frage ich mich, ob die wundersam stabile Weltordnung, in der ich als Westeuropäer meine gesamte bisherige Lebenszeit verbringen durfte, sich nicht nur als kurze Traumepisode erweisen könnte, aus der wir nun alle gemeinsam schmerzhaft erwachen müssen. Es sind Zweifel, die mich tief verunsichern. Nur allzu gern wüsste ich sie durch eindeutige Fakten, klärende Methoden oder auch nur glaubhafte Verheißungen zu befrieden.
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