Bertrand Russell und die Mathematik
Philosophen formulieren oft provokant und scheinbar unverständlich. Doch gerade die rätselhaften Sätze sind der Schlüssel zum Gesamtwerk. Auch Bertrand Russels Auffassung von Mathematik ist nicht, was sie zunächst scheint.
Das Zitat
„So kann also die Mathematik definiert werden als diejenige Wissenschaft, in der wir niemals das kennen, worüber wir sprechen, und niemals wissen, ob das, was wir sagen, wahr ist“
– Mystik und Logik (1918)
Die Erklärung
Sollte Bertrand Russell, einer der größten Logiker des 20. Jahrhunderts, der Ziffern, Symbole und Beweise derart überdrüssig geworden sein, dass er behauptete, die Mathematik – die Wissenschaft par excellence – sei zu nichts nütze (Mystik und Logik, 1918)? Im Gegenteil, mit einer gehörigen Portion britischen Humors gibt er uns hier einen tieferen Einblick in das Wesen der Mathematik. Die Aussagen von Mathematikern sind in einer symbolischen Sprache formuliert, die anstrebt, Mehrdeutigkeiten zu eliminieren und Gedanken ausschließlich logisch, oder wie man sagt: „formal“, fassen zu können. Ein Mathematiker kann also eine Ableitung anstellen und dabei an ein bestimmtes rechtwinkliges Dreieck denken, doch seine Argumentation gilt für eine unendliche Zahl von rechtwinkligen Dreiecken und eine unendliche Zahl weiterer Objekte. In Wahrheit wird er also nie wissen, auf welche Objekte sich seine Deduktion alles anwenden lassen wird!
Außerdem kann man heutzutage einen Computer darauf programmieren, einfache Theoreme zu beweisen, wenn man seinen Speicher zuvor mit logischen Regeln und Axiomen gefüttert hat, also jenen Aussagen, die als Ausgangspunkt des Beweises dienen. Der Computer kann rein syntaktisch, das heißt aufgrund der formalen Regeln zur Symbolmanipulation, Ergebnisse generieren, ohne zu wissen, wovon er spricht. Russell würde provozierend hinzufügen, dass es nicht einmal nötig ist, dass er von etwas spricht, das auch existiert. Denn wenn die Argumentation selbst kohärent ist, ist sie auch dann korrekt, wenn sie sich auf kein reales Objekt bezieht, das uns in der Erfahrung gegeben ist. Die reine Mathematik kann also auf den Bezug zur Realität (im normalen und empirischen Sinne des Wortes) verzichten, vorausgesetzt, ihre Aussagen sind korrekt bewiesen. Hinter dem scheinbar provokanten Satz des englischen Philosophen verbirgt sich demnach eine tiefsinnige Lektion über das Wesen der Wahrheit in der Mathematik: Ihr Wahrheitsbegriff orientiert sich nicht an einer angestrebten Übereinstimmung mit der sogenannten Wirklichkeit, sondern ganz am reinen Ideal formaler Gültigkeit. Was zu beweisen war. •