Das Rätsel des Übergangs
Wie kann ein Bewusstsein in den Schlaf sinken – und wieder aufwachen? Auf diese von Marcel Proust gestellte Frage antworten zwei der berühmtesten Existenzialisten der Nachkriegszeit: Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty. Eine Debatte, in der zwei Auffassungen vom Körper, vom Bewusstsein und von der Existenz aufeinanderprallen.
„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen.“ Wer kennt ihn nicht, den berühmten ersten Satz aus Marcel Prousts Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit? Mit diesen Eingangsworten wird das groß angelegte Spiel des Erzählers mit der Zeit in die Sphäre eines Traums versetzt, den ein Schlafender just im Moment des Einschlafens hat. Weniger bekannt sind jedoch die auf diesen Beginn folgenden tiefgründigen Überlegungen dazu, wie wir in den Schlaf gleiten und wieder herauskommen – Momente, in denen wir eine Art freiwilliges Verschwinden oder unfreiwilliges Wiedererwachen erleben. Das Geheimnis des Einschlafens und Erwachens! Gedanken zu diesem Thema ziehen sich durch die gesamte Suche nach der verlorenen Zeit. Wir alle werden dieses Geheimnisses in Momenten gewahr, bemerkt der Erzähler, in denen wir Zweifel haben über den Ort, an dem wir gerade aufgewacht sind. Um den beunruhigenden Zustand, in den uns dieser Zweifel versetzt, zu überwinden, rufen wir sofort die Erinnerungen an die verschiedenen Orte auf, an denen wir in der Vergangenheit gelebt haben und die auf geheimnisvolle Weise in unserem Körpergedächtnis gespeichert sind. Kinderzimmer, Studentenbude, Ehebett und so weiter: Im Dämmerzustand eines überstürzten Erwachens lassen wir all diese möglichen Räume im Geiste vorüberziehen, als wollten wir testen, ob sie zutreffen – so lange, bis die Anhaltspunkte der Vergangenheit und der Gegenwart zueinanderpassen und wir endlich wieder an die Welt andocken und den Kontakt zur Wirklichkeit aufnehmen können. So gelingt es uns, uns aus dem „Nichts“ zu befreien, in das uns der Schlaf versetzt hat. Proust fragt sich, ob das weit größere Rätsel als der Traum nicht sei, dass wir als wache Wesen nach Belieben in die Sphäre des Schlafs wechseln und aus den Armen des Morpheus wieder in den Wachzustand zurückkehren können. Man wundert sich kaum darüber, so natürlich und alltäglich scheint das Phänomen zu sein. Es hängt zusammen mit einem beinahe animalischen Bedürfnis, mit unserer Bedingtheit durch den kosmischen Rhythmus von Tag und Nacht. Dieses Bedürfnis wird zum Gegenstand frühester Erziehungsbemühungen und bleibt Sinnquelle der wechselnden Rhythmen des sozialen Lebens.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Jean-Paul Sartre: „Die Hölle, das sind die anderen“
Große Philosophen formulieren oft provokant und scheinbar unverständlich. Gerade diese rätselhaften Sätze sind der Schlüssel zum Gesamtwerk. Was also will Sartre mit seinem vermutlich berühmtesten Satz sagen?

Sind wir alle Synästhetiker?
Nur drei Prozent aller Menschen gelten als Synästhetiker, die etwa Farben hören können. Für Maurice Merleau-Ponty und Mikel Dufrenne ist die Fähigkeit jedoch verbreiteter: Über den Körper kommunizieren die Sinne in uns allen miteinander.

Vergesst Sartre!
Das Verhältnis zwischen Michel Foucault und Jean-Paul Sartre war nicht einfach. In den 1960er-Jahren wurde Sartre für Foucault sogar zum heimlichen Antipoden. Dabei hatte Foucaults Frühwerk ganz anders begonnen.

Die neue Sonderausgabe: Der Schlaf. Das unbekannte Drittel unseres Lebens
Philosophen von Heraklit über Hegel bis zu Jean-Luc Nancy haben die vielschichtige Bedeutung des Schlafs ergründet. Der Schlaf, so zeigt dieses Heft, ist das unabdingbare Andere von Bewusstsein, Vernunft und Willenskraft, die ohne Gegengewicht unerträglich und irrational werden. Der Schlaf erhält das Lebendige, lässt uns lernen und träumen. Zeit, das unbekannte Drittel unserer Existenz zu entdecken.
Hier geht's zur umfangreichen Heftvorschau!

Wie finde ich die meisten Ostereier?
Am heutigen Ostersonntag gibt es besonders für die Kleinsten unter uns eine wichtige Frage: Wie findet man die meisten Ostereier? Augustinus, Hegel und Merleau-Ponty haben Antworten.

Gabriel Marcel und die Wahrheit
Ist die Wahrheit eine „Beute“, die wir in unseren Besitz bringen können? Der christliche Existenzialist Gabriel Marcel verneint dies vehement. Wir erklären, warum.

Kriegstagebücher – Jonas, Sartre, Camus und Weil
Wie fühlt es sich an, den Übergang vom Frieden zum Krieg zu erleben? Und was bedeutet es, wenn die Gewalt zum Alltag wird? Auszüge aus den Tagebüchern von Hans Jonas, Albert Camus, Jean-Paul Sartre und Simone Weil.

Sartre, das Meskalin und die Krabben
Seit jeher stehen psychoaktive Substanzen und die Suche nach Weisheit eng miteinander in Verbindung. In dieser Reihe beleuchten wir verschiedene Denker und ihre Drogenerfahrungen. Heute: Jean-Paul Sartre und Meskalin.
