Julian Nida-Rümelin: „Linke Kräfte haben Kulturkämpfe regelmäßig verloren“
Rechtspopulistische und neofaschistische Parteien haben bei der Europawahl das Rennen gemacht. Aber warum, wenn diese Parteien auf die ökonomischen Sorgen der Bevölkerung doch kaum eine Antwort wissen? Der Philosoph Julian Nida-Rümelin über fatale Analysefehler, die überschätzte Rolle von TikTok und den Linkskonservatismus Sahra Wagenknechts.
Herr Nida-Rümelin, bei der Europawahl am Sonntag wurde die CDU die stärkste Kraft, die AfD folgte an zweiter Stelle mit sechs zusätzlichen Sitzen, und die Grüne, SPD und Linke schlossen jeweils mit Verlusten im Vergleich zu den Wahlen vor vier Jahren ab. Wie ordnen Sie diese Ergebnisse ein?
Vielleicht können wir erst mal eine andere Darstellung wählen, als sie üblicherweise in den Medien gewählt wird. Dort ist ja immer von Prozentpunkten die Rede, und das ist durchaus sinnvoll, wenn man das Gesamtspektrum der Wählerschaft vor Augen haben will. Aber es ist ein verzerrtes Bild, wenn man auf den Erfolg oder Misserfolg einzelner Parteien schaut. Wenn man stattdessen die prozentualen Veränderungen der Wahlergebnisse betrachtet, ergibt sich für die Linke ein prozentualer Verlust von 52,7 Prozent, für die Grünen von 42,9 Prozent und für die SPD von 11,3 Prozent. So viel zu den Verlierern dieser Wahl. Wenn man sich auf der anderen Seite die höchsten prozentualen Zuwächse vor Augen führt, dann hat die AfD um 43,6 Prozent, die Freien Wähler um 22,7 Prozent und die Union um 4,8 Prozent zugelegt. Damit wird diese Verschiebung nochmal sehr viel deutlicher. Jetzt kann man diese Einordnung auch wieder ein wenig relativieren, weil die AfD deutlich schlechter abgeschnitten hat als in den Umfragen der letzten Monate. Da lag die AfD bei rund 20 Prozent in ganz Deutschland, 30 Prozent in Ostdeutschland. Jetzt ist sie bei 15,9 Prozent gelandet. Das ist also doch ein deutlicher Rückgang. Man kann sagen, die AfD hat etwa ein Viertel ihrer Wählerschaft seit Anfang des Jahres verloren. Es scheint, dass sowohl die Demonstrationen gegen rechts als auch ihre Skandale durchaus nicht wirkungslos waren, wie oft behauptet wird.
Philosophie Magazin +

Testen Sie Philosophie Magazin +
mit einem Digitalabo 4 Wochen kostenlos
oder geben Sie Ihre Abonummer ein
- Zugriff auf alle PhiloMagazin+ Inhalte
- Jederzeit kündbar
- Im Printabo inklusive
Sie sind bereits Abonnent/in?
Hier anmelden
Sie sind registriert und wollen uns testen?
Probeabo
Weitere Artikel
Julian Nida-Rümelin: „Die Annahme ‚Wir sitzen alle im selben Boot‘ setzt falsche Anreize für die staatliche Praxis“
In der Corona-Pandemie avancierte „Solidarität“ zu einem Kampfbegriff. Legitimiert wird mit ihm die Fortführung der Maßnahmen und Überlegungen zur Einführung einer allgemeinen Impfpflicht. Aber wird Solidarität so richtig verstanden? Ein Interview mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin anlässlich der heutigen Bund-Länder-Runde.

Julian Nida-Rümelin „Wir müssen der Silicon-Valley-Ideologie mit Nüchternheit begegnen“
Künstliche Intelligenz soll künftig Kriege vorhersagen, Krankheiten kurieren und unser Leben von jeglichem Mühsal befreien. Warum das illusorisch ist und wir stattdessen auf einen Digitalen Humanismus setzen sollten, erläutert der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Interview.

Julian Nida-Rümelin: „Wir müssen anerkennen, dass wir uns immer irren können“
Julian Nida-Rümelin hat seine Erinnerungen vorgelegt. Und gleichzeitig eine Untersuchung über den schwankenden Zeitgeist. Ein Gespräch über Peak Woke, die Probleme des Faktenchecks und Oppenheimer als Film der Stunde.

Julian Nida-Rümelin: „Europa muss eine Friedensmacht werden“
Man müsse bereits jetzt über die Zeit nach dem Ukrainekrieg nachdenken, fordert der Philosoph Julian Nida-Rümelin. In der Friedensordnung der Zukunft könnte Europa eine Schlüsselrolle einnehmen.

Sahra Wagenknecht – die Mitte-Abweichlerin
Ist Sahra Wagenknecht links oder rechts? Weder noch. Sie ist eine Politikerin der Mitte, die an die Sehnsucht nach der guten alten Bundesrepublik anknüpft.

Linke Selbstzerstörung
Die Linke droht in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Hat sie sich zu sehr auf das urbane Milieu konzentriert und die Abgehängten vernachlässigt? Ein Kommentar von Bernd Stegemann, der vor fünf Jahren zusammen mit Sahra Wagenknecht die Sammlungsbewegung „Aufstehen“ gründete.

Wer sind "Wir"?
Als Angela Merkel den Satz „Wir schaffen das!“ aussprach, tat sie dies, um die Deutschen zu einer anpackenden Willkommenskultur zu motivieren. Aber mit der Ankunft von einer Million Menschen aus einem anderen Kulturkreis stellt sich auch eine für Deutschland besonders heikle Frage: Wer sind wir eigentlich? Und vor allem: Wer wollen wir sein? Hört man genau hin, zeigt sich das kleine Wörtchen „wir“ als eine Art Monade, in der sich zentrale Motive zukünftigen Handelns spiegeln. Wir, die geistigen Kinder Kants, Goethes und Humboldts. Wir, die historisch tragisch verspätete Nation. Wir, das Tätervolk des Nationalsozialismus. Wir, die Wiedervereinigten einer friedlichen Revolution. Wir, die europäische Nation? Wo liegt der Kern künftiger Selbstbeschreibung und damit auch der Kern eines Integrationsideals? Taugt der Fundus deutscher Geschichte für eine robuste, reibungsfähige Leitkultur? Oder legt er nicht viel eher einen multikulturellen Ansatz nahe? Offene Fragen, die wir alle gemeinsam zu beantworten haben. Nur das eigentliche Ziel der Anstrengung lässt sich bereits klar benennen. Worin anders könnte es liegen, als dass mit diesem „wir“ dereinst auch ganz selbstverständlich „die anderen“ mitgemeint wären, und dieses kleine Wort also selbst im Munde führen wollten. Mit Impulsen von Gunter Gebauer, Tilman Borsche, Heinz Wismann, Barbara Vinken, Hans Ulrich Gumbrecht, Heinz Bude, Michael Hampe, Julian Nida-Rümelin, Paolo Flores d’Arcais.
Was heißt es, links zu sein?
Die Zerwürfnisse zwischen linken Lagern nehmen zu. Kämpfen sie noch für dieselbe Sache? Oder offenbaren sich hier unüberbrückbare Differenzen? Die Politikerin Sahra Wagenknecht und die Schriftstellerin Juli Zeh diskutieren über die Versäumnisse linker Politik, echte und künstliche Gegensätze und den richtigen Umgang mit rechts.

Kommentare
sein Wort in Gottes Ohr !