Avishai Margalit: „Es gibt in diesem Bündnis viele schlechte, aber keine faulen Kompromisse“
Eine Koalition, die von den Ultranationalisten bis zur radikalen Linken reicht, löste gestern Benjamin Netanjahu nach 12 Jahren von der Macht ab. Avishai Margalit, einer der einflussreichsten Philosophen Israels, hat viel über echte und „faule“ Kompromisse geforscht. Im Interview analysiert er die politische Zukunft des Landes.
Herr Margalit, könnten Sie uns die aktuelle politische Situation in Israel beschreiben?
Zum ersten Mal seit zwölf Jahren haben wir eine neue Regierung, die vom ganz rechten bis zum ganz linken Spektrum reicht. Der wichtigste Punkt, der diese sehr zusammengewürfelte politische Koalition eint, war der Wille, Benjamin Netanjahu abzusetzen. Doch der Grund für diese Wende ist keine rein innerisraelische Angelegenheit: Es handelt sich zum Beispiel nicht um einen Paradigmenwechsel in der Palästinenserfrage. Vielmehr glaube ich, dass Benjamin Netanjahu eine politische Tendenz verkörpert, die sich überall auf der Welt abzeichnet: die Wahrung einer demokratischen Fassade, während man als Autokrat agiert. Dies ist derzeit der Fall bei Marine Le Pen in Frankreich, Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den USA. Es gibt eine weltweite Tendenz zur Fremdenfeindlichkeit, die das Konzept der „zivilen“ Staatsbürgerschaft in eine „ethnische“ Staatsbürgerschaft verwandelt - ein Verständnis von Staatsbürgerschaft, in dem bestimmte Minderheiten keinen Platz hätten. Das war seit langem das Projekt von Benjamin Netanjahu und viele Israelis finden das inzwischen unerträglich. Deshalb glaube ich, dass es bei dieser Koalition mehr darum geht, ihn loszuwerden, als ein wirklich gemeinsames politisches Projekt zu entwickeln.
Gibt es in diesem politischen Bündnis gemeinsame Werte?
Abgesehen von den Mitgliedern von linken und Mitte-Links-Parteien, die ihrer Ideologie treu bleiben, ist das Bündnis frei von jeglicher Parteienlogik. Das Thema Netanjahu ist wirklich der kleinste gemeinsame Nenner. Unter anderem haben Naftali Bennett und Gideon Sa'ar lange mit „Bibi“ zusammengearbeitet – er hat sie beide gedemütigt. Es gibt also neben dem politischen Überdruss auch persönlichen Groll. Während seiner gesamten „Herrschaft“ hat Netanjahu eine Logik wie bei Hofe etabliert, umgeben von Untertanen, denen er nie erlaubt hat, sich zu emanzipieren. Alle, mit denen er nicht einverstanden war, hat er zu illegitimen „Verrätern“ erklärt.
Könnte man angesichts dieses persönlichen Grolls und der Heterogenität der politischen Ansichten innerhalb des Bündnisses von einem „faulen Kompromiss“ sprechen - ein Konzept, das Sie geprägt haben?
Es gibt viele schlechte Kompromisse in diesem Bündnis, aber keine „faulen Kompromisse“, wie ich sie in meinem Buch Über Kompromisse und faule Kompromisse definiere. Ein „fauler Kompromiss“ liegt dann vor, wenn der betreffende Kompromiss uns in ein Regime führt, das auf Erniedrigung und Grausamkeit beruht. Ich glaube nicht, dass das bei dieser neuen Regierung der Fall sein wird. Vielmehr trifft es auf die Art zu, wie die Palästinenser durch die bisherige Regierung behandelt wurden.
Man braucht also nichts zu befürchten, wenn Naftali Bennett Premierminister wird? Der nationalistische Parteichef spricht sich offen für eine bedingungslose Annexion des Gazastreifens aus...
Sicherlich gehört Naftali Bennett zu den Ultranationalisten, aber ich glaube nicht, dass er eine größere Rolle in der Koalition spielen wird. Generell glaube ich nicht, dass irgendein Mitglied dieser Koalition versuchen wird, „das Boot zum Schaukeln zu bringen“: Sie befinden sich in einer sehr prekären Position und können politisch nicht unabhängig voneinander existieren. Sie werden also mit großer Vorsicht agieren, was bedeutet, dass diese Regierung in allen wichtigen Fragen gelähmt sein wird und keine Möglichkeit hat, etwas Konkretes zur palästinensischen Frage vorzuschlagen. Das Hauptziel dieser Regierung besteht vor allem darin, zu überleben, und dafür werden sie tun, was nötig ist. Wenn eines ihrer Mitglieder versucht, diese Koalition zu weit nach links oder zu weit nach rechts zu drängen, wird sie sich sofort auflösen. Es ist eine Form des Kompromisses, nicht der bestmögliche, aber wie gesagt kein „fauler Kompromiss“.
Es könnte also nicht passieren, dass Naftali Bennett die Logik der Gewalt weiter treibt?
Das glaube ich nicht. Man darf nicht vergessen, dass es auch in den USA seit der Wahl von Joe Biden einen Paradigmenwechsel gegeben hat. Die amerikanischen Demokraten sind mehr und mehr nach links gerückt und im Vergleich zu früheren Generationen immer weniger nachsichtig mit Israel. Das wird die israelische Regierung in der Palästinenserfrage stärker einschränken, mehr als zu der Zeit, als Trump an der Macht war und Netanjahu im Prinzip tun konnte, was er wollte. Die größte Einschränkung für Naftali Bennett wird also der Druck aus den USA sein. Was andererseits interne Einschränkungen innerhalb Israels betrifft, so glaube ich nicht, dass es eine wirkliche Veränderung in dieser Frage gibt. Der derzeit geltende Status quo ist kein „fester“ Status, sondern ein „flexibler“, der die Annexion von noch mehr Gebieten ermöglicht. Insgesamt befindet sich Israel seit 1967 in einer ziemlich gewaltsamen Annektierungslogik...
Sie haben das Buch Politik der Würde (1996, dt. Übersetzung Suhrkamp 2012) geschrieben, in dem sie das Ideal einer „anständigen“ Gesellschaft entwerfen. Wie könnte man eine solche definieren?
Eine anständige Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der die Institutionen die Bürger, für die sie zuständig sind, nicht demütigen. Demütigen bedeutet hier, Menschen nicht als Menschen zu betrachten, sondern als Nummern ... es ist also eine umfassende Bedeutung des Wortes „Demütigung“. Ich unterscheide zum Beispiel zwischen einer „anständigen“ Gesellschaft und einer „zivilisierten“ Gesellschaft: Ich glaube, dass eine Gesellschaft zivilisiert, aber unanständig sein kann. Tschetschenien zum Beispiel ist eine Republik [die zur Russischen Föderation gehört], die in Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung recht zivilisiert ist, aber unanständig beim Thema Homosexualität. Genauso sind einige Ideen unanständig, die heute noch einen Platz in der israelischen Gesellschaft haben.
Besteht ein Zusammenhang zwischen den Kämpfen mit der Hamas im Mai und der Absetzung Benjamin Netanjahus?
Netanjahu hat immer darauf gesetzt, dass er die Bestrebungen der Palästinenser ignorieren kann, indem er so tut, als sähe er ihre Notlage nicht. Das Problem ist, dass der Konflikt in letzter Zeit eskaliert ist, sowohl außerhalb als auch innerhalb Israels! Plötzlich haben viele Menschen den Ernst der Lage direkt vor ihrer Haustür erkannt: Die Probleme des Zusammenlebens sind wieder akut und Netanjahus Coups haben nicht mehr den triumphalen Glanz wie früher, selbst für die militantesten Kämpfer nicht. Es entsteht ein Gefühl des „Déjà-vu“ und immer mehr Bürger verstehen diesen verbitterten Kampf nicht mehr. Diesmal ist es Netanjahu nicht gelungen, seine jüngste Militäroperation feiern zu lassen, er kann sich nicht mehr als der „Soldat Israels“ verkaufen. Die jüngsten Konflikte haben bei vielen israelischen Bürgern einen bitteren Beigeschmack hinterlassen.
Was ist die Bilanz von zwölf Jahren Benjamin Netanjahu an der Spitze Israels?
Seine Strategie war immer, einen Status quo mit den Palästinensern aufrechtzuerhalten, um die Schaffung von zwei klar getrennten Staaten als Lösung zu vermeiden. Das wirft ein moralisches Problem auf, denn Gaza ist heute das größte Gefängnis der Welt. Wir müssen aber auch bedenken, dass Gaza vier Grenzen hat, eine davon mit Ägypten. Die Ägypter sind also auch für den Belagerungszustand des Gaza-Streifens verantwortlich und sie sind genauso hart wie Israel. Übrigens ist es wichtig, daran zu erinnern, dass Netanjahu im Vergleich zu seinen politischen Vorgängern in der Palästinenserfrage relativ gemäßigt war. Er war nicht immer für Militäraktionen, die selbst die Linke gelegentlich favorisiert hat. Auch im Spektrum der israelischen Rechten gehört Netanjahu zu den Gemäßigteren. Auf jeden Fall ist er gemäßigter als Naftali Bennett, der nun an die gekommen ist. •
Avishai Margalit ist emeritierter Professor für Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem und gehört zu den einflussreichsten Denkern Israels. Auf Deutsch erschien von ihm u.a. „Über Kompromisse und faule Kompromisse" (Suhrkamp, 2011) und „Okzidentalismus – Der Westen in den Augen seiner Feinde“ (Hanser. 2004)
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