Benjamin und der Ausnahmezustand
Gibt es legitime Gewalt? Dies Frage stellt sich angesichts befreiender Proteste, aber auch hinsichtlich gewaltvoller Polizeipraktiken derzeit mit großer Dringlichkeit. Antworten suchte bereits Walter Benjamin in seinem 1921 erschienenem Aufsatz Zur Kritik der Gewalt.
Es ist das Jahr 1920. Der Erste Weltkrieg liegt gerade einmal zwei Jahre zurück und die Weimarer Republik steckt noch in ihren Kinderschuhen. Proteste, Aufstände und Streiks prägen die junge Republik und treiben sie an den Rand eines Bürgerkriegs. Im März 1920 kommt es zu einem konterrevolutionären Putschversuch völkisch-nationalistischer Freikorpsbewegungen gegen die neue, im Zuge der Novemberrevolution von 1918 entstandene demokratische Regierung. Als Reaktion auf die republikfeindliche Bewegung wird nicht nur die Rote Ruhrarmee mit 50 000 Rekruten aufgestellt, sondern auch von Gewerkschaftern ein landesweiter Generalstreik ausgerufen. Mit zwölf Millionen Beteiligten gilt der Streik bis heute als der größte der deutschen Geschichte. Erst mit dem Einmarsch der offiziellen Reichswehreinheiten kann der Ruhraufstand Ende März niedergeschlagen werden. Als Demonstration der Macht werden Todesurteile gegen die Aufständischen verhängt und es kommt zu massenweisen Inhaftierungen. Kurzum: Es herrscht Ausnahmezustand.
Angesichts dieser Ereignisse gewann auch die philosophische Auseinandersetzung mit dem Ausnahmezustand zu Beginn der Weimarer Republik an Konjunktur. Carl Schmitt setzte in seiner berühmten Schrift Politische Theologie von 1922 gar den Ausnahmezustand als Ausgangspunkt seiner politischen Theorie. „Souverän ist“ – so lautet Schmitts berühmtes Diktum –, „wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Demnach ist wahrer Herrscher die Person, die in Zeiten einer scheinbaren Rechtlosigkeit Ordnung und Recht setzt und garantiert.
Auch der 28 Jahre junge Walter Benjamin war von den Ereignissen gebannt. Zur Jahreswende 1920/1921 schreibt er den Aufsatz Zur Kritik der Gewalt, der zu einem seiner meistdiskutierten und immer wieder neu interpretierten Texte werden sollte. Benjamin lebt zu der Zeit in Berlin. Gerade wurde seine Dissertationsschrift über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik veröffentlicht. Zu dem Zeitpunkt steht ihm noch die ganze akademische Welt offen, die zu erobern ihm aber zeit seines Lebens verwehrt bleiben wird. Nicht nur ist sein Denken zu unangepasst für eine universitäre Laufbahn, auch seine Kriegsverweigerung sowie sein jüdischer Hintergrund stellen im Laufe der 1920er-Jahre ein immer unüberwindbareres Hindernis dar. Trotz zahlreicher prominenter Freunde, darunter Bertolt Brecht, Siegfried Kracauer und Theodor W. Adorno, bleibt er ein akademischer Außenseiter. Den Drang, philosophisch zu schreiben, verliert Benjamin jedoch nicht. Ins Pariser Exil gezwungen, verfasst er in den 1930er-Jahren seine heute als Meilensteine der Philosophie geltenden Schriften Das Passagen-Werk sowie den Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit.
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