Catherine Newmark: „,Gefühle der Zukunft‘ ist eminent philosophisch, gedanklich interessant und zugleich praktisch hilfreich“
Preisträgerin des Tractatus 2025 ist die deutsche Philosophin Eva Weber-Guskar, die für ihren Essay „Gefühle der Zukunft“ gewürdigt wird. Ein Gespräch mit dem Jury-Mitglied Catherine Newmark über die Qualitäten dieses Buches und den Aufwind der philosophischen Essayistik.
Frau Newmark, der diesjährige Tractatus-Preis geht an Eva Weber-Guskar für ihr Buch Gefühle der Zukunft. Was zeichnet diesen Essay aus Sicht der Jury aus?
Gefühle der Zukunft ist unglaublich klar geschrieben und argumentiert. Es ist eminent philosophisch, gedanklich interessant und zugleich praktisch hilfreich. Es gelingt diesem Buch – und das gibt es in philosophischen Texten nicht allzu häufig – mit einer sehr soliden empirischen Basis zu arbeiten. Eva Weber-Guskar geht sehr konkret in die Recherche rein, sie bezieht sich auf spezifische Phänomene, die sie sehr genau beschreibt, um sie im Anschluss philosophisch zu reflektieren. Solch eine Philosophie, die die Realität ernst nimmt, schien uns als Jury eminent auszeichnungswürdig.
Künstliche Intelligenz ist ein viel diskutiertes Thema, auch in der Philosophie. Gibt es neben der empirisch soliden Basis des Buches ein weiteres Charakteristikum, durch das sich Gefühle der Zukunft von anderen Büchern zum Thema KI abhebt?
Ja, und es gibt viele gute Texte zum Thema aktuell, das treibt auch die Philosophie um. Neben der bereits erwähnten zupackenden Konkretheit ist es bei Eva Weber-Guskar auch der thematische Zuschnitt, der Fokus auf das sogenannte „Affective Computing“, der besonders ist. Zunehmend viele KI-Interfaces sind darauf trainiert, mit Menschen auch emotional zu interagieren. Deshalb ist es entscheidend, dieses Feld der Künstlichen Intelligenz philosophisch in den Blick zu nehmen.
Wie gelingt Eva Weber-Guskar das?
Sie zeigt – und das ist das Interessante – dass all die App-Entwickler, die versuchen, die Künstliche Intelligenz auf emotionale Interaktionen zu trainieren, gewisse Annahmen über den Menschen zugrunde legen müssen. Doch diese Grundannahmen sind keinesfalls selbstverständlich. Indem Gefühle der Zukunft solche Grundannahmen beleuchtet, wird nicht nur klarer, wie emotionale Künstliche Intelligenz funktioniert, sondern auch, was menschliche Emotionen eigentlich sind und wie sie funktionieren.
Eva Weber-Guskar nimmt dabei dezidierte Begriffsanalysen vor, wenn sie das vorherrschende Verständnis von „Emotion“ oder auch „Empathie“ hinterfragt. Sind solche Analysen für die philosophische Essayistik charakteristisch?
Mir scheint, dass diese analytische Klarheit eine mögliche Spielart der philosophischen Essayistik ist. Es gibt ja keinen Konsens darüber, worin philosophische Essayistik eigentlich besteht. Was aus meiner Sicht aber tatsächlich unumgänglich ist, ist ein erkennbares Bemühen, auch jenseits des akademischen Kernpublikums verständlich zu sein. Wie diese Verständlichkeit jedoch umgesetzt wird, kann sehr unterschiedlich aussehen. Es gibt ja auch viele philosophische Essays, die näher am Literarischen sind, von diesen haben wir einige sehr schöne auf unserer Shortlist.
Die Shortlist ist in diesem Jahr auch thematisch sehr divers: von historischen Betrachtungen über Fragen sozialer Gerechtigkeit zur psychischen Gesundheit. Lässt sich daraus schließen, dass es zurzeit besonders viele Themen gibt, die im philosophischen Diskurs eine Rolle spielen?
Die philosophische Essayistik ist insgesamt sicherlich breiter aufgestellt als die akademische Philosophie, sie ist auch freier in ihrer Themenwahl. Auch in diesem Jahrgang gab es ausgesprochen viele Einreichungen, die sich bemühen, die Aktualität mit philosophischem Werkzeug zu bearbeiten, ganz unabhängig davon, ob es zu einem bestimmten Thema bereits eine akademische Tradition gibt.
Bei der Auswahl der Preisträgerin vor zwei Jahren sagten Sie, die schiere Menge der Einreichungen spräche für einen Aufwind der philosophischen Essayistik. Hat dieser Aufwind angehalten?
Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen, ja. Möglicherweise ist die anhaltende Beliebtheit des philosophischen Essays auch Teil eines größeren Phänomens. Zumindest haben die Verlage in den letzten Jahren zunehmend mit kurzen Formaten experimentiert. Es gibt mittlerweile viele kleinere Verlage, die Essayreihen herausbringen. Und mein Eindruck ist nicht, dass das nachgelassen hat, sondern dass diese Essayreihen weiterhin bestehen. Mir scheint, es gibt insgesamt einen Trend zu Büchern, die etwas schneller zu lesen sind. Ich bin mir nicht sicher, ob das dicke Buch eine sehr große Zukunft hat.
Gemeinsam mit Ijoma Mangold und Daniela Strigl stellen Sie die Jury des Tractatus-Preises zum dritten Mal. Spielt man sich als Jury ein oder wird die Auswahl dadurch eher komplizierter?
Unsere Zusammenarbeit als Jury ist insgesamt sehr erfreulich. Wir streiten natürlich über die Sache, aber wir sind auch fähig und willig, einen Konsens zu finden. Mir persönlich fällt es immer schwer, letzte Entscheidungen zu treffen – wir hatten so viele spannende Einreichungen und die sechs Bücher auf unserer Shortlist finde ich alle toll.
Eine letzte Frage: Eva Weber-Guskar sagte zu ihrer Buchintention, dass wir zuerst überlegen sollten, welche Gesellschaft wir für die Zukunft wollen, um daran angepasst Systeme Künstlicher Intelligenz zu entwickeln. Ist es dem Buch aus Ihrer Sicht gelungen, einen Beitrag zu dieser Debatte zu leisten?
Ja, das denke ich. Mir gefällt an diesem Buch gerade, dass es durchaus im selbstbewussten Gestus nicht nur analysiert, sondern auch Ratschläge für Politik und Gesellschaft zu spezifischen Fragen und Entscheidungen formuliert. Das Buch stellt sich damit der verbreiteten Panik entgegen, dass die Maschinen die Vorherrschaft übernehmen würden und wir dem Silicon Valley ausgeliefert seien. Stattdessen steckt darin die absolut richtige Auffassung, dass wir durchaus gesellschaftliche Entscheidungen treffen können und müssen. Und dafür brauchen wir sowohl Wissen als auch Diskussionen darüber. Hierfür liefert das Buch eine Grundlage. •
Catherine Newmark ist Redakteurin und Moderatorin der Sendung „Sein und Streit“ beim Deutschlandfunk Kultur. Von 2015-2021 hat die an der FU promovierte Philosophin als Chefredakteurin der Sonderausgaben beim Philosophie Magazin gearbeitet. Seit 2023 gehört sie zur Jury des Tractatus-Preises des Philosophicum Lech.
Das Philosophie Magazin ist Medienpartner des Philosophicum Lech.