Christian Bermes: „Meinungen sind kein Ablassbrief, um sich in einem Paralleluniversum einzurichten“
Wir gratulieren Christian Bermes zur Platzierung seines Buches Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa auf der Shortlist des Tractatus 2022. Bereits im Januar haben wir mit dem Philosophen darüber gesprochen, warum Meinungen keine Privatangelegenheit sind.
Herr Bermes, am Mittwoch (26.01.2022) fand im Bundestag die Orientierungsdebatte zur Einführung einer möglichen Impfpflicht statt. Dabei gingen die Meinungen der Redner deutlich auseinander. Von einer allgemeinen Impfpflicht ab 18 Jahren bis hin zur völligen Ablehnung war alles dabei. Wie haben Sie die Diskussion wahrgenommen?
Die Diskussion um die Impfpflicht im Bundestag wird unter sehr spezifischen Rahmenbedingungen geführt, die man bei der Bewertung nicht vergessen sollte. In politischer Hinsicht ist es beispielsweise durchaus legitim nachzufragen, warum die Regierung eigentlich keinen eigenen Gesetzesvorschlag unterbreitet und warum gerade diese Frage eine Gewissensentscheidung sein soll. Doch unabhängig davon sind solche Debatten erstens an Regularien wie Geschäftsordnungen, an spezifische Räume wie Plenarsäle oder auch an eine Reihenfolge und Auswahl von Rednerinnen und Rednern gebunden. Zweitens ist das Ziel klar, es geht um die Verabschiedung eines Gesetzes. In solchen Debatten haben wir es eher mit präparierten Meinungen in der Gestalt von Interessen zu tun. Solche in Form gebrachten Meinungen gründen auf einem vorlaufenden Meinungsbildungsprozess, der wesentlich komplexer ist. Mich beschäftigt in meinem Buch u.a. die Frage, ob es wirklich ein sinnvolles Unterfangen sein kann, unser Verständnis von Meinungen und Meinungsbildung an solchen stark regulierten und institutionell eingehegten Debattenformaten zu orientieren, bei denen immer auch vorausgesetzt wird, dass eine Entscheidung am Ende steht.
Und zu welchem Schluss kommen Sie?
Hier bin ich skeptisch. Das Panorama, welches durch das Konzept der Meinungsbildung eröffnet wird, ist keineswegs dadurch begrenzt, dass es fortwährend um Entscheidungen gehen müsste.
Einmal ganz naiv gefragt: Was unterscheidet Meinung denn von Wissen?
Die Frage ist natürlich alles andere als trivial, sie beschäftigt die Philosophie seit der Antike. Denken Sie nur an die Platonische Bestimmung von Wissen als wahre begründete Meinung. Wir können uns schnell darauf einigen, dass Wissensansprüche an Bedingungen geknüpft sind – etwa, um nur eine zu nennen, an die Bedingung, dass solche Ansprüche an objektiven Instanzen zu prüfen sind. Bedeutet dies aber, so die Frage, der ich nachgehe, dass im Unterschied zum Wissen Meinungen einfach bedingungslos als Meinungen verstanden dürfen? Ist es tatsächlich so, dass das Konzept der Meinung ohne Profil ist? Sind Meinungen nichts anderes als Fähnchen, die nach dem Wind flattern? Hier setzen meine Untersuchungen an.
In Ihrem Buch Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa beschreiben Sie, dass wir heutzutage oft vorschnell zwischen „Meinungen“ und „objektiven Wissenschaften“ unterscheiden. Wie lässt sich dieser Unterschied philosophisch präziser fassen?
In meinem Buch stelle ich u.a. die Frage, ob wir nicht in verschiedenen Diskussionen einem Mythos erliegen, wenn es um Meinungen geht. Dies ist ein Teil dessen, was ich ausführlicher als Meinungskrise beschreibe. Der Mythos besteht u.a. darin, dass in der Einschätzung dessen, was Meinungen sein können, starke Voraussetzungen im Spiel sind, die leichthin unterstellt, aber kaum mehr diskutiert werden. Hierzu zählt etwa, dass man Meinungen mit einem Faktencheck zu begegnen habe, oder dass Meinungen nichts anderes als Vorlieben bzw. Präferenzen seien oder auch dass private Meinungen ‚subjektiver‘ seien als öffentliche Meinungen und beide unter verschiedene Bewertungsstandards fallen. Solche und weitere Annahmen werden in vielen Fällen als Selbstverständlichkeiten angesehen, kaum in Frage gestellt und eher kritiklos tradiert. Doch müsste man demgegenüber nicht sagen, dass Meinungen nicht einfach Fakten, sondern einem Wissen von Fakten gegenüberstehen – und welche Wissensformen lassen sich genau unterscheiden? Und wie steht es eigentlich mit der Demoskopie, die höchst künstliche Meinungsbilder inszeniert? Um welche Fakten handelt es sich hier genau? Und ist es tatsächlich so einfach, Meinungen schlicht als Vorlieben zu fassen und dabei jeden Sachgehalt auszublenden? Warum schließlich sollte man private Meinungen, was immer diese genau sein sollen, anders bewerten als öffentliche Meinungen? Und wo liegt hier genau die Differenz? Schon diese wenigen Nachfragen zeigen, dass die Vorannahmen eher eine Selbstverständlichkeit vorgaukeln. In einem solchen Setting geht man letztlich mit der Doxa um wie mit einem Sparringspartner, den man zuvor in eine wochenlange Diät geschickt hat, um sicher zu gehen, dass man gegen ihn auch gewinnt. Doch die Logik der Doxa ist im Unterschied zu dem eher einfachen Etikett der ‚bloßen Meinung‘ wesentlich komplexer, vielleicht sogar robuster und ideologieresistenter. Genau damit setze ich mich auseinander.
Auch in der Bevölkerung ist die Verunsicherung durch die Impffrage groß: Laut einer Umfrage des MDR nehmen 51 Prozent der Befragten derzeit eine „dauerhafte Spaltung der Gesellschaft“ wahr. Ist das nicht erstaunlich, wo doch nur ca. 15 Prozent der Bevölkerung sich bis dato einer Impfung verweigern?
Hier sprechen Sie einen interessanten Punkt an, der immer wichtiger wird und auf den ich ebenfalls zu sprechen komme. Mit der Meinung sind wir natürlich auch in der Form der ‚öffentlichen Meinung‘ konfrontiert. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, noch einmal verstärkt ab den 60er Jahren, läuft die Diskussion um den Status der ‚öffentlichen Meinung‘ besonders in den Sozialwissenschaften. Mehr und mehr scheint man gegenwärtig anzunehmen, dass die Demoskopie darüber Auskunft geben könne. Es mag pointiert sein, doch es ist sicherlich nicht ganz falsch, wenn man sagt, dass moderne Gesellschaften als demoskopierte Gesellschaften verstanden werden können. Die Meinungsforschung scheint sich mehr und mehr an die Stelle der Meinungsbildung zu setzen. Genau vor diesem Hintergrund kann es zu solchen Szenarien kommen, die Sie in ihrer Frage schildern. Mein Vorschlag in dieser Frage ist eher nüchtern und zurückhaltend. Er besteht darin, in dem Konzept der ‚öffentlichen Meinung‘ zuerst einmal das Meinungshafte derselben zu sehen. Denn auch die oder eine öffentliche Meinung zählt zu dem, was als exemplarisch, und nicht etwa als alternativlos oder obligatorisch, zu verstehen ist.
Wie können wir die Meinung besser verstehen, um bessere Diskussionen zu führen?
Bezieht jemand Stellung, dann spielt die Verlässlichkeit der Meinung eine Rolle. Meinungen sind kein Ablassbrief, um sich in einem Paralleluniversum der Beliebigkeit einzurichten. Doch eine Philosophie der Doxa ist nicht auf solche Themen beschränkt. Das Meinen und die Meinungen sind wesentlicher Bestandteil der menschlichen Selbst- und Weltverständigung. •
Christian Bermes ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau. Jüngst erschien sein Buch „Meinungskrise und Meinungsbildung. Eine Philosophie der Doxa“, Hamburg (Meiner) 2022.
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