Dicke Schlappen, volle Power
Ob auf YouTube, am Kiosk oder auf Messen: Die Begeisterung für Traktoren, Mähdrescher und Güllemaschinen boomt. Wie lässt sich diese wachsende Faszination für Landtechnik erklären?
Moderne Gesellschaften sind bekanntlich vor allem eines: vielschichtig. Gerade in ästhetischer Hinsicht gibt es im Prinzip nichts, was es nicht gibt. Es geht, was gefällt. Und dennoch verfügen moderne Gesellschaften über eine Art ästhetische Leitkultur. Das heißt: Bestimmte Dinge, Stile oder Wissensformen gelten gemeinhin als attraktiver, nachahmenswerter und „legitimer“ als andere. Geschmack, so auch die Pointe von Pierre Bourdieus 1979 erschienenem Hauptwerk Die feinen Unterschiede, ist demnach keine reine Geschmackssache. Vielmehr sind ästhetische Vorlieben immer auch gesellschaftlich vermittelt, weshalb manche als „höher-“, andere als „minderwertiger“ gelten.
Bei Büchern ist es etwa die „hohe Literatur“, die Romane Thomas Manns oder Gedichte Mascha Kalékos, die als besonders „wertvoll“ firmieren. Im Bereich der Mode erscheinen die Kreationen von Chanel oder Louis Vuitton überdurchschnittlich begehrenswert. Bei den Lebensstilen ist es wiederum der gleichermaßen urbane wie digital vernetzte Kreative, der eine gewisse kulturelle Leitfunktion besitzt. Und im Fall von Autos sind es die eleganten, rasend schnellen Modelle von Porsche oder Ferrari, die verstärkt Sehnsüchte entfesseln.
Nun gilt diese ästhetische Leitkultur natürlich nicht absolut, sondern lediglich tendenziell. Zum einen schon deshalb, weil bestimmte Subkulturen, man denke an Punk oder Gothic, sich ja gerade über die Ablehnung dieser ästhetischen Leitkultur definieren. Zum anderen aber auch, weil es Milieus gibt, in denen solch ein Bruch zwar weniger bewusst erscheint, mit ihm also keine explizit politischen, ideologischen oder künstlerischen Botschaften verknüpft sind, sich dort aber dennoch die Verkehrung der ästhetischen Leitkultur offenbart. Letzteres zeigt sich exemplarisch an einer faszinierenden, seit Jahren wachsenden Szene: der Landtechnik-Bubble.
Keine Naturromantik, nirgends
Die bemerkenswerte Begeisterung für Agrartechnologie ist dabei einer gleichermaßen digitales wie analoges Phänomen. So finden sich auf YouTube eine ganze Reihe von Kanälen, etwa Landtechnikvideos.de, Agrar Paparazzi oder Agrartechnik HD, wo Traktoren, Mähdrescher oder Güllefahrzeuge präsentiert, getestet und aufwändig in Szene gesetzt werden. In der Spitze haben die Clips dort bis zu 12 Millionen Klicks. Zudem gehört der Landwirtschafts-Simulator in Deutschland und Österreich schon seit längerem zu den meistverkauften Computerspielen überhaupt. Messen wie die zweijährlich stattfindende Agritechnica in Hannover, die ihre Besucherzahlen von 226 000 im Jahr 1999 auf 446 000 im Jahr 2019 verdoppelte, ziehen hunderttausende Besucher an. Und auch am Kiosk ist der Trend unübersehbar. So gibt es gleich mehrere Zeitschriften, die sich dem Thema widmen. Um nur drei – jeweils hochwertig produzierte – Beispiele zu nennen: Stark – Faszination Landtechnik, traction – Das Landtechnikmagazin für Profis sowie die Schlepper Post.
Dass Landtechnik solch eine Faszination ausübt, scheint nun aus gleich zwei Gründen bemerkenswert. Zum Ersten steht der Trend in vieler Hinsicht quer zur ästhetischen Leitkultur. Ist es hier doch eben nicht der elegant windschnittige Porsche, sondern die überbreite, gemächlich fahrende Güllemaschine, die Begeisterung auslöst. Nicht das urbane Kreativmilieu, sondern die ländliche Rapsernte. Zum Zweiten ist diese popkulturelle Leidenschaft für Landwirtschaft aber auch deshalb erstaunlich, weil letztere im Zuge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung eigentlich immer unsichtbarer geworden ist. War die Landwirtschaft vor einigen Jahrzehnten schon deshalb für viele Menschen alltäglich präsenter, weil es in ihrer direkten Umgebung vergleichsweise viele kleine Höfe gab, ist sie durch die Technisierung und wachsende Konzentration in Großbetrieben zu einer Agrarindustrie avanciert, die nur wenig Anknüpfungspunkte für Naturromantisierungen zulässt, was sie aus dem kollektiven Bewusstsein zunehmend hat verschwinden lassen. Oft wollen Verbraucher eben überhaupt nicht wissen, wie der Mais in ihrem Einkaufswagen eigentlich erzeugt wird, ganz zu schweigen von den Hähnchenfilets.
Ist in modernen Gesellschaften durch die Technisierung, Professionalisierung und Konzentration landwirtschaftlicher Betriebe also eine Art naturromantische Lücke gerissen worden, wurde diese vor allem dadurch gefüllt, dass an die Stelle der landwirtschaftlichen Existenz im kollektiven Imaginären die Phantasie des ländlichen Lebensstils getreten ist. Letzterer ist aber eben meist nur eine innenarchitektonische Phantasie, der man sich stundenweise bei der Lektüre der Landlust hingeben kann und die dementsprechend ohne Traktoren, Mähdrescher und industrielle Agrarbetriebe auskommt.
Dinosaurier der Landstraße
Wie lässt sich vor diesem Hintergrund die überraschende Begeisterung für Landtechnikporn erklären? Schaut man sich vor allem die YouTube-Videos sowie die entsprechenden Magazine an, lassen sich womöglich drei zentrale Gründe veranschlagen. An erster Stelle ist jene Feier des Technischen zu nennen, die im Zentrum moderner Männerphantasien steht. Hatte schon der Schriftsteller und Philosoph Filippo Tommaso Marinetti in seinem 1909 erschienenen Manifest des Futurismus Autos gepriesen, deren „Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen“, meinte er damit zwar zunächst Rennwagen, doch liegt darin im Kern ja nicht nur eine Schwärmerei für Schnelligkeit, sondern für motorisierte Kraft als solcher. Und eben diese wird auch bei der Landtechnik besungen. Ähnlich wie in „normalen“ Autozeitschriften bekommt man bei Stark, traction und Co. nicht nur unzählige technische Daten präsentiert, sondern zu den meistverwendeten Wörtern gehören „Power“, die mal „voll“, mal „anständig“ daherkommt, sowie „stark“. Zudem sprechen auch Überschriften wie „Rekord-Raupe“ (traction Januar/Februar 2021) oder „Blauer Kraftprotz“ (Stark 1/2021) in dieser Hinsicht für sich.
Dass diese Feier der Maschine dabei im Grundsatz eher futuristisch orientiert ist, sieht man indes auch daran, dass es in den Landtechnik-Magazinen zwar durchaus auch nostalgische Komponenten gibt, insbesondere die Schlepper Post widmet sich eher historischen Traktorenmodellen und enthält beispielsweise eine ganzseitige, mit „Die gute alte Zeit“ überschriebene Anzeige, in der für eine „Bulldog-Kuckucksuhr zu Ehren des berühmtesten deutschen Traktors“ geworben wird, die Umarmung avancierter Technologien aber überwiegt. So finden sich in den Zeitschriften beispielsweise mehrere Artikel, die über die Vorteile autonom fahrender Landmaschinen und Künstlicher Intelligenz im Cockpit berichten.
Zum zweiten scheint es aber nicht nur die Kraft, sondern – im Gegensatz zu „normalen“ Autos oder Rennwagen – auch die schiere Größe zu sein, die einen wesentlichen Teil der Landtechnik-Faszination ausmacht. Aus der Perspektive der popkulturellen Begehrensökonomie offenbaren sich Traktoren und Mähdrescher als motorisierte Dinosaurier, die allein ob ihrer Imposanz quer durch alle Alterskohorten faszinieren, weshalb es dann nur folgerichtig erscheint, dass in der Stark auch Traktorenbettwäsche, -Kinderbücher oder -Spielkarten angeboten werden. Entsprechend markant ist in den Landtechnik-Magazinen auch die Betonung von Größe, was sich an Artikelüberschriften wie „Gülle-Schiff mit dicken Schlappen“, „Ackerbüffel sucht neuen Job“ oder „Weltgrößter Traktor grubbert wieder“ (alle traction Januar/Februar 2021) exemplarisch verdeutlicht. Wobei mit solch einer Akzentuierung von Höhe, Breite und Länge freilich auch ein Machtversprechen verbunden ist. Denn wer im Führerhaus eines Traktors sitzt, regiert eines der symbolisch wichtigsten Gebiete Deutschlands: die Landstraße.
Popkulturelle Pazifizierung
Doch ist man im Cockpit einer Landmaschine nicht nur King of the Road, sondern, und das ist der dritte Punkt, ebenso Herrscher über die Natur. Das wird besonders augenfällig, wenn man besieht, dass gerade unter den meist geklickten Landtechnik-Videos viele sind, die im Zusammenspiel von dramatischer Musik und walkürenrittartiger Inszenierung erstaunlich stark an (inoffizielle) Clips der Bundeswehr oder US-Army erinnern. Den Erfolg solcher Videos mag man einerseits als zivilisatorischen Prozess popkultureller Pazifizierung verbuchen. Denn im Gegensatz zu den Futuristen um Marinetti, die mit ihrem Lob auf die Technik gleichzeitig eine protofaschistische Kriegslust verbanden, offenbart sich in der quasi-militärischen Inszenierung von Mähdreschern ja die umgekehrte Botschaft: Schwerter zu Pflugscharen!
Andererseits erinnert eine solch dramatisch inszenierte Phalanx aus Landmaschinen auch an den Ausspruch der Simpsons-Figur Troy McClure, der in einer Episode der bekannten Zeichentrickserie sagt, dass man ihn aus anderen Lehrfilmen kenne, etwa „Der Mensch gegen die Natur - Auf der Straße zum Sieg“. Und das ist im Kontext der Landtechnik-Begeisterung deshalb ein Problem, weil die mindestens implizite Feier der Naturbeherrschung ohne die Thematisierung deren ökologischer Schattenseiten auskommt. Nicht nur werden die mitunter fatalen Folgeschäden durch die agrarindustrielle Ausbeutung der Böden ausgeblendet, insgesamt kommen bei der Euphorie über die landwirtschaftliche Technologie Menschen – was im publizistischen Landmaschinenkosmos fast ausschließlich heißt: Männer – eher nur als Statisten vor, ganz zu schweigen von Tieren.
So einseitig und blindfleckig die Landtechnik-Begeisterung in ökologischer Hinsicht also ist, beschreiben deren agrarindustrielle Beherrschungshymnen unser existierendes Naturverhältnis wenigstens weitaus ehrlicher als naturromantischer Gärtner-Kitsch aus der Landlust. Aus der Warte gesellschaftlicher Selbsterkenntnis ist das immerhin nicht wenig. •
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