Die bessere Ernte
Natur und Kultur neu denken: Indigenes Wissen ist in der westlichen Welt angekommen. Eine Horizonterweiterung mit Büchern, die von der Elchjagd, dem Mikrokosmos der Moose und von einer neuen Ethik erzählen.
Der slowenisch-schweizerische Ethno-Psychoanalytiker Paul Parin hat die Jagd einmal als Lizenz zu „Sex and Crime“ bezeichnet. Parin wusste, wovon er redete, denn er kam aus einer Familie, in der die Einführung junger Männer in Sex und Jagd traditionell zusammenfiel. Und weil das Gewaltpotenzial der Jagd noch nie zu übersehen war, gibt es keine Gesellschaft, die sie nicht in irgendeiner Weise reglementiert hat. Für Parin, der zeit seines Lebens Jäger geblieben war, liegt in der Gewalt der Jagd aber auch ein Moment von Gier und Mordlust, das nur durch Reflexion und ethische Motivationen zu bändigen ist.
Mit den Stichworten der Reflexion und der ethisch motivierten Erzählungen, die nach Parin den einzigen Weg zeigen, die Mordlust in der Jagd zu bändigen, befindet man sich auf genau jenem Feld, das sich mit dem Begriff „Indigenes Wissen“ zusammenfassen lässt und immer prominenter wird: Das beste Beispiel ist Robin Wall Kimmerers Buch Geflochtenes Süßgras, das über Wochen auf der Bestsellerliste der New York Times stand. Die Pflanzenökologin, die der Citizen Potawatomi Nation angehört, beschreibt in ihrer Essaysammlung, wie ein nichtanthropozentrisches Leben möglich wäre; nach dem Gebot der „Ehrenhaften Ernte“ etwa wird vom titelgebenden Süßgras immer nur die Hälfte der Halme geerntet. „Indigenes Wissen“ ist nicht zuletzt dank diesem „Geflecht aus Wissenschaft, Geist und Geschichten“, so nennt Kimmerer ihre Überlegungen, in den Horizont des allgemeinen Diskurses über die Umweltprobleme unserer Zeit gerückt.
Ganzheitlich verstehen
Die Regeln der „Ehrenhaften Ernte“ gelten nicht nur für Pflanzen, sondern auch für Tiere und die Jagd, erklärt die Biologin und Wissenstheoretikerin, denn sie gründen „auf Verantwortlichkeiten gegenüber der physikalischen und der metaphysischen Welt“: Ein anderes Leben zu benutzen, um sein eigenes zu erhalten, sei sehr viel gravierender, wenn man die „Wesen, die geerntet werden“, als Personen wahrnehme. Auch Kimmerers zweites auf Deutsch veröffentlichtes Buch – das in den USA schon 2003 erschienen war – erweist sich als ethisch motivierte Erzählung von Menschen und anderen Lebensformen. Das Sammeln von Moos ist eine Natur- und Kulturgeschichte, die den Mikrokosmos der Moose als eine Welt mit kaum wahrgenommenen, dafür umso wichtigeren Botschaften begreift. Indigenes Wissen, schreibt Kimmerer, beruhe auf dem Grundsatz, dass man etwas erst dann verstehe, wenn man es mit allen vier Aspekten unserer Existenz erfasst habe: Verstand, Körper, Gefühl und Geist. Die wissenschaftliche Erkenntnis hingegen beruhe ausschließlich auf empirischen Informationen über die Welt, die der Körper sammle und der Verstand interpretiere. Wobei Kimmerers Bücher ihren Erfolg auch der Tatsache verdanken, dass sie in klassischen wissenschaftlichen Methoden ausgebildet wurde.
Etwas Ähnliches gilt übrigens für den australischen Forscher Tyson Yunkaporta, der dem Stamm der Apalech angehört: Seine Studie Sand Talk untersucht die Sprachen und Initiationsriten der Aborigines – und liefert auch eine eindringliche Beschreibung der Gewalt in der Jagd. Gewalt gehört nach Ansicht der Aborigines zum Schöpfungsprozess und ist, um den Schaden zu minimieren, den sie anrichten kann, gleichmäßig auf alle Akteure des Systems zu verteilen.
Besser lebendig als tot
Respektvolle Lebensweisen, bei der Ernte von Pflanzen ebenso wie bei der Jagd von Tieren, sind Themen des indigenen Wissens, das die amerikanische Naturliteratur von ihrem Anfang an begleitet hat. Man kann Henry David Thoreaus Chesuncook, die Beschreibung einer Elchjagd in den Kiefernwäldern von Maine, wie eine frühe Aufnahme des indigenen Wissens in die amerikanischen Beschreibungen der Natur lesen. Thoreau war 1853 mit einem Freund und einem indigenen Führer in die Wälder Maines aufgebrochen, um einen Elch aus nächster Nähe zu studieren und vom Wissen seines indigenen Begleiters zu profitieren. Dass dabei der indigene Häuptlingssohn Joe Aitteon genauso zum Studienobjekt wurde wie die Bäume und der Elch, zeigt sich schon am Titel des Vortrags, den der Schriftsteller und Philosoph nach der Reise hielt und aus dem Chesuncook hervorging: Der Elch, die Kiefer, der Indianer. Thoreau hatte viel gelernt: Die Jagd auf Elche nur zum Vergnügen hielt er für Mord und das Fällen von Bäumen im großen Stil ging ihm auf die Nerven. Denn er fand, dass die Seele eines Baumes so unsterblich sei wie seine eigene. Wie überhaupt jedes Geschöpf, Menschen, Elche und Kiefern, besser lebendig als tot seien.
Ein ethischer Grundsatz, den man in Robin Wall Kimmerers Büchern am Beispiel des Süßgrases und der Moose in voller Entfaltung findet. Wobei die Professorin für Umweltbiologie nicht nur indigene und wissenschaftliche Wissensformen konfrontiert: Sie erzählt immer auch von Diskussionen mit ihren Studentinnen und Studenten, ihrer praktisch-experimentellen Arbeit an Moospopulationen – und von der Herablassung und den verbalen K.-o.-Schlägen, mit denen akademische Autoritäten ihren Forschungen begegnen. Was dann tatsächlich ein Bild von Gräsern und Moosen ergibt, in das Verstand, Körper, Gefühl und Geist so hineingezogen werden, dass man die eigene Unwissenheit über die Vielfalt der Moose nur noch schamvoll beseitigen möchte. •
Robin Wall Kimmerer
Geflochtenes Süßgras. Die Weisheit der Pflanzen
übers. v. Elsbeth Ranke
Aufbau, 461 S., 26 €
Robin Wall Kimmerer
Das Sammeln von Moos. Eine Geschichte von Natur und Kultur
übers. v. Dieter Fuchs
Matthes & Seitz, 200 S., 25 €
Henry David Thoreau
Chesuncook
übers. v. Alexander Pechmann
Jung und Jung, 160 S., 22 €
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