Die demaskierte Gesellschaft
Heute endet die deutschlandweite Maskenpflicht im Fernverkehr. Während viele erleichtert aufatmen, geht es anderen zu schnell – oder nicht weit genug. Beide Reaktionen offenbaren ein schwerwiegendes Autoritätsproblem.
Unter den Jubelrufen der Liberalen fällt am morgigen Tag die Maskenpflicht im deutschen Fernverkehr. Damit endet jene Maßnahme zur Eindämmung der Pandemie, die seit Mai 2020, also nahezu seit Beginn des Corona-Ausbruchs in Deutschland ohne Unterbrechung gegolten hatte. Die gerade in den letzten Tagen wieder vielbeschworene „Rückkehr zur Normalität“ scheint in greifbare Nähe zu rücken.
Ganz gleich, wie man sich selbst dazu verortet und ob man weiterhin Maske trägt oder nicht, hat der Beschluss etwas Gutes: Endlich ist, so scheint es, die politische Lagerbildung in Bezug auf die Maßnahmen der Corona-Bekämpfung vorbei. Schließlich gibt es keinen Anlass mehr, von einer Verschwörung durch Regierung und Medien auszugehen. Wenn die allgemeinen Verordnungen zum Schutz vor Corona mit dem Ende der Pandemie auslaufen, wird das Argument hinfällig, dass der Staat willkürlich die Grundrechte seiner Bürger einschränkt.
In gleicher Weise müsste sich auch jene Seite zufriedengestellt sehen, die im Gegensatz dazu stets auf noch weitreichendere Maßnahme gepocht hat: Immerhin gibt es keine hochgradig gefährliche neue Variante und keine Überlastung des Gesundheitssystems. Der Virologe Christian Drosten erwartet eine endemische Entwicklung des Infektionsgeschehens und Gesundheitsminister Karl Lauterbach appelliert an „Eigenverantwortung und Freiwilligkeit“. Die WHO geht vorerst weiter von einem globalen Gesundheitsnotstand aus, führende Infektiologen fordern indes bereits ein Ende der Maskenpflicht im deutschen Gesundheitswesen.
Enttäuschung, beiderseits
Doch unter der gefallenen Maske kommt die Gesellschaft keineswegs geläutert und mit sich selbst versöhnt hervor. Sie zeigt sich vielmehr weiterhin als janusköpfiges Wesen, das auf der einen Seite – in Gestalt von Corona-Skeptikern – Entschädigung für die Freiheitsbeschränkung der vergangenen drei Jahre fordert, während es sich auf der anderen Seite – in Gestalt von Zero-Covid-Anhängern – weiterhin nach harten Maßnahmen sehnt. So wird unter Hashtags wie #CovidIsNotOver darüber diskutiert, dass der eingeschlagene Weg fehlgehe und unverantwortlich sei. Durch die Lockerung der Maßnahmen, so heißt es unter anderem, werde eine falsche Sicherheit suggeriert und die Bevölkerung ungeschützt einem gefährlichen Virus ausgesetzt.
Freilich artikuliert sich darin in erster Linie der nachvollziehbare Wille zu Vorsicht, Verantwortung und Rücksichtnahme. Der Tonfall, in dem diese Befürchtungen ausgesprochen werden, offenbart jedoch Enttäuschung und Misstrauen gegenüber staatlichen und fachlichen Autoritäten in Bezug auf die Gefahreneinschätzung der Pandemie. Der Wunsch nach Autorität – in Gestalt von weiterhin geltenden Bestimmungen – geht auf paradoxe Weise mit einem Zweifel an Autoritäten und ihrem Autoritätsanspruch einher.
Autorität in der Krise
In ihrem jüngst erschienenen Buch Gekränkte Freiheit analysieren Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in Bezug auf das geradezu entgegengesetzte Lager ein widersprüchliches Verhältnis zum Konzept der Autorität. Im Mittelpunkt der Studie stehen Querdenker und AfD-Anhänger, die Amlinger und Nachtwey zufolge das Ich an oberste Stelle setzen und einen Freiheitsbegriff vertreten, der Solidarität und Gemeinschaft ausklammert. Das Ergebnis sei ein „libertärer Autoritarismus“, der sich durch Vorschriften und soziale Gebote allenthalben in seiner Freiheit eingeschränkt sehe, aber selbst einen Hang zu autoritärem Totalitarismus besitze. Dieser Hang zeigt sich etwa in rechtspopulistischen Parolen oder der Forderung nach Strafverfolgung für diejenigen, die Corona-Schutzmaßnahmen in der Vergangenheit umgesetzt oder verteidigt haben.
Vermutlich würden sich Amlinger und Nachtwey davor verwahren, der Gegenseite – den Anhängern strenger Coronamaßnahmen – eine ähnliche Haltung zuzuschreiben. Und freilich steht hier nicht die liberale Freiheit des Einzelnen im Vordergrund, sondern die solidarische Rücksichtnahme auf die Gruppe und ihre vulnerablen Mitglieder. Aber ist es nicht möglich, dass sich die Krise der Autorität auch auf dieser Seite zeigt? Dass der „libertäre Autoritarismus“ von rechts durch eine Art „solidarischen Autoritarismus“ von links kontrastiert wird, der sich nun vor ein Begründungsproblem gestellt sieht?
Bisher konnten wissenschaftliche oder staatliche Autoritäten herangezogen werden, um die Einhaltung der Schutzregeln zu fordern: „Hört auf die Wissenschaft! Haltet euch an staatliche Vorschriften!“ Worauf soll man sich nun berufen, wenn nicht auf die eigene Beurteilung des gegenwärtigen Geschehens? Auch hier ist es mithin das einzelne Ich, das zu einer anderen Einschätzung der Lage kommt als äußere Autoritäten und mit dieser Einschätzung einen Anspruch auf allgemeine Gültigkeit erhebt. Maske zu tragen und Abstand zu wahren, ist dann keine persönliche Entscheidung auf individueller Ebene, sondern ein moralischer Appell an die Gesamtheit.
Maske als Symbol
In Abgrenzung gegenüber Leichtsinn und Egoismus auf der anderen Seite haben sich viele Menschen die Corona-Schutzmaßnahmen auf positive Weise angeeignet. Die Maske ist ein Symbol der Solidarität und Rücksichtnahme geworden, die über ihren medizinischen Nutzen hinausgeht. Mitunter hat diese Aneignung sogar obsessive Züge angenommen, wie Bernadette Grubner in Bezug auf die sublimierte Lust an Sterilität und Übererfüllung der Schutzregeln gezeigt hat.
Das macht die Maske zugleich zu einem politischen Distinktionsmerkmal: Wer sie trägt, erkennt nicht nur eine medizinische Notwendigkeit an, sondern verortet sich auch politisch. Vielleicht ist es nicht zuletzt dieser Verlust an Eindeutigkeit, der die mürrischen Stimmen irritiert, die nun das Ende der Maskenpflicht beklagen. Dabei hat der Beschluss in dieser Hinsicht doch eigentlich etwas Gutes: Wer weiterhin Maske trägt, zeigt damit – dem Paradox der Maske zum Trotz – sein „wahres Gesicht“, während sein Verhalten bislang auch einfach opportun gewesen sein konnte. •
Weitere Artikel
Die Städte der Anderen
Offenbach und Zwickau, zwei deutsche Städte, wie sie auf den ersten Blick nicht ähnlicher sein könnten. Beide gleich groß, beide ehemalige Industriezentren, beide mit niedriger Arbeitslosenquote. Was sie radikal voneinander unterscheidet, ist ihr Verhältnis zum Anderen. Denn das hessische Offenbach hat mit 57 Prozent den höchsten Migrantenanteil der BRD, das sächsische Zwickau gehört mit 2,6 Prozent Ausländeranteil hingegen zu den kulturell einheitlichsten Städten der Republik. Beispielhaft stehen sie damit für zwei alternative Visionen eines Deutschlands der Zukunft: Hybridität versus Homogenität, Multikulti oder Leitkultur, dynamische Polyphonie gegen klassische Harmonie. Eine Doppelreportage auf der Suche nach der Funktion des Anderen in unserer Mitte
Vulgärdialektik der Angst
Gewalt gegen Frauen wird häufig stillschweigend hingenommen, während Straftaten durch Migranten panische Abschottungsfantasien hervorrufen. Beide Reaktionen verfehlen das Ziel, Sicherheit zu schaffen.

Wo endet meine Verantwortung?
Erinnern Sie sich noch an Reem? Reem Sahwil ist das palästinensische Mädchen, dem Bundeskanzlerin Merkel vor knapp einem Jahr im Rahmen eines Bürgerdialogs erklärte, dass seine aus dem Libanon eingereiste Familie kein Bleiberecht in Deutschland erhalten werde, da der Libanon keine Kriegszone sei und Deutschland aus den dortigen Lagern schlicht nicht alle Menschen aufnehmen könne. Noch während Merkel ihre Begründung ausführte, fing Reem bitterlich zu weinen an. Die Kanzlerin stockte, ging darauf in einer Art Übersprunghandlung auf das im Publikum sitzende Mädchen zu und begann es zu streicheln, weil, wie Merkel, noch immer mit dem Mikro in der Hand, erklärte, „weil ich, weil wir euch ja nicht in solche Situationen bringen wollen und weil du es ja auch schwer hast“.
Zwilling des Todes
Schon immer wurden Schlaf und Tod miteinander in Verbindung gebracht. Das löst gegensätzliche Reaktionen aus: Für die einen ist der Schlaf der Feind der Lebensfülle, für die anderen ein Zustand glückseliger Ruhe. Darin zeigt sich das grundlegende Dilemma unseres Lebens.

Version einer anderen Welt
Ob Clubs, Cafés oder Theater. Durch die Pandemie sind viele (halb-)öffentliche Räume geschlossen oder in ihrer Existenz bedroht. Grund genug, sie in einer Serie philosophisch zu würdigen. In Folge 3: Stadien, Orte motivierender Gedankenübertragung.

Die AfD als Denkproblem
Die Partei Alternative für Deutschland erlebt einen Aufschwung, der viele besorgt, ängstigt oder erzürnt. Im Zentrum der Reaktionen auf den erstarkenden Rechtspopulismus steht dabei oft die Gewissheit, sich selbst auf der Seite der Vernunft zu befinden. Womit wir bereits beim Problem wären. Ein strategischer Essay über Klugheit im Konflikt.

Wie treffe ich eine gute Entscheidung?
Seit jeher haben Menschen Entscheidungsprobleme. Was sich bereits daran zeigt, dass eine der wichtigsten Institutionen der Antike eine Art göttliche Beratungsagentur darstellte. Sagenumwobene Orakel, deren meistfrequentierte Filiale sich in Delphi befand und dort mit dem Slogan „Erkenne dich selbst“ um weisungswillige Griechen warb, stillten nicht nur religiöse, sondern auch politische, militärische und lebenstherapeutische Informationsbedürfnisse. In wirtschaftlicher Hinsicht funktionierten Orakel gar wie moderne Consulting-Buden. Wer genug Drachmen hatte, konnte eine ausführliche Interpretation der Weissagungen durch die prophetische Priesterin Pythia erhalten, während weniger Begüterte lediglich Ja- oder Nein-Fragen stellen durften.
Wer hat Angst vor Sahra Wagenknecht?
In der FAZ bedient Christian Geyer in einem Artikel über die ehemalige Führungsfigur der Partei Die Linke Weiblichkeitsstereotype, die weit bis in die Antike zurückreichen und nur eines offenbaren: Die Angst des Mannes vor der potenten Frau. Eine Replik von Svenja Flaßpöhler.
