Die Wahrheit der Pilze
Im von Gewalt und Drogenkriegen beherrschten Mexiko sucht eine Jugendbewegung die Riten der Azteken zu neuem Leben zu erwecken. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Niño Santo, ein halluzinogener Pilz, der Kontakt mit den alten Göttern ermöglichen soll. Eine Reise zu den Wurzeln einer verlorenen Welt.
Im Sommer 2014 höre ich zum ersten Mal von einer neuen Jugendbewegung in Mexiko. Sie nennen sich Méxica, kleiden sich in eine verwegene Mischung aus traditionellen Gewändern und abgefahrener Ravermode, tragen Tattoos und Piercings und sind dennoch von einer tiefen spirituellen Verehrung für die Götter ihrer Ahnen und voller Respekt für die Natur. Sie knüpfen an die Traditionen ihrer Vorfahren an, Bräuche und Lehren, die vor 500 Jahren mit der Ankunft der Spanier und dem Wüten der Inquisition ausgelöscht wurden, sie engagieren sich für die Wiedergeburt der mexikanischen Identität, und sie verehren einen Pilz, der für sie der Schlüssel ist zur wahren Seele Mexikos. Das ist sensationell in einem Land, das mit seinen Wurzeln lange nicht im Reinen war, wo das Wort „Indio“ noch immer als Schimpfwort verstanden wird und dessen Selbstverständnis in erster Linie auf der Hassliebe fußt, die es mit seinem großen Nachbarn USA verbindet.
Auf der Facebook-Seite Yo soy Méxica treffe ich einen jungen Mann, der mir die ganze Sache erklären wird. Alejandro ist 28 und lebt in Morelos, einem kleinen Bundesstaat etwa eine Stunde südlich von Mexico City. Dort betreibt er eine aztekische Temazcal-Sauna, eine Art Lehmiglu, in dem er Reinigungszeremonien nach indianischem Vorbild abhält. Alejandro schreibt, dass das Verständnis für seine Kultur auf der Wirkung des Psilocybinpilzes beruht, einer Wirkung, die so tiefgreifend ist, dass man sie mit Worten nicht beschreiben kann. Ich müsse es probieren, um es zu verstehen. Also verabreden wir uns, für eine Reise, die uns an den Fuß des großen mexikanischen Mythosbergs Popocatépetl führen wird und weit darüber hinaus, in ein Reich zwischen Himmel und Erde, zurück in die Vergangenheit, an einen Ort, wo die Götter zu Hause sind und der Ursprung der aztekischen Kultur verborgen liegt.
15 Arten Zauberpilze gibt es in Mexiko, sie wachsen auf Bergwiesen, zwischen Zuckerrohr oder auf Kuhdung. Gemein ist ihnen der Wirkstoff Psilocybin, ein Alkaloid ähnlich dem körpereigenen Botenstoff Serotonin. Die klinische Wirkung reicht von gesteigertem Herzschlag über erweiterte Pupillen bis zu Schüttelfrost. Wirklich giftig ist Psilocybin dennoch nicht – die tödliche Dosis liegt etwa 1000-mal höher als die Menge, die für einen Rausch sorgt. Das amerikanische Center for Disease Control and Prevention stuft Psilocybin sogar als weniger toxisch ein als Aspirin. Aber so marginal die Wirkung von Psilocybin auf den Körper ist, so fantastisch wirkt es auf den Geist: Es verursacht Halluzinationen, Visionen, Epiphanien. Immer wieder wird von mystischen Erfahrungen berichtet. Ethnologen räumen halluzinogenen Pilzen deswegen eine besondere Rolle bei der Entstehung der Kultur ein. Sind Magic Mushrooms die Geburtshelfer der Religion?
Rausch und Religion
Die Theorie einer Geburt der Religion aus dem Geiste drogeninduzierter Erfahrungen spielt spätestens seit William James (1842-1910) auch in der Philosophie eine wesentliche Rolle. In seinem Werk Die Vielfalt der religiösen Erfahrung beschreibt der amerikanische Philosoph und Bewusstseinstheoretiker besonders eindrückliche Transzendenz- und Einheitserlebnisse, die bei den betroffenen Individuen oft zu einer spontanen Erleuchtung oder auch Bekehrung geführt haben. Für James, der auch den Begriff des „Bewusstseinsstroms“ in die Psychologie eingeführt hat, ist „unser sogenannt normales, rationales Wachbewusstsein nur eine Spezialart des Bewusstseins überhaupt – um dieses Wachbewusstsein herum, getrennt nur durch dünnste Filter, liegen ganz andere Bewusstseinsformen“. Wir mögen, fährt James fort, „durch unser Leben gehen, ohne jemals etwas von deren Existenz zu ahnen.
Setzt man aber den entsprechenden Stimulus, so zeigen sich mit einem Schlag in ihrer ganzen Kraft andere Formen (…). Keine Gesamtbeschreibung des Universums kann Endgültigkeit beanspruchen, sofern sie diese Formen des Bewusstseins außer Acht lässt. Welchen Platz man ihnen einräumt, ist allerdings die Frage. (…) Wenn ich auf meine eigenen Erfahrungen in diesem Bereich zurückschaue, so führen sie zu einer Art Einsicht, die ich nicht anders als metaphysisch bezeichnen kann.“ Was James hier schreibt, klingt wie der späte moderne Nachhall einer Grundüberzeugung, die bei den indigenen Völkern Mittel- und Südamerikas die Kultur von innen heraus prägte. Religion und Rausch waren hier so eng verwoben wie nirgendwo sonst, schamanische Visionen spielten die zentrale Rolle in einer ausufernden Götterwelt – ein komplexes polytheistisches System mit unzähligen Untergöttern. Je nach Zählart gab es bis zu 1600 Gottheiten; denn wenn die Azteken ein Volk unterwarfen, annektierten sie auch deren Götter. Ihr Glaubenssystem basierte auf dem Prinzip der Dualität. Ganz oben standen Ometeotl – der „Herr der Zweiheit“ – und seine weibliche Seite Omecihuatl.
Sie erschufen die vier Tezcatlipocas, die Hauptgötter, die in ständigem Wettstreit miteinander standen. Da war Quetzalcóatl, der Schöpfergott, die gefiederte Schlange, der mit dem schwarzen Tezcatlipoca rang, Herr des Nachthimmels und des Todes. Xipe Totec, der Gott der Schlangen und Dämonen, kämpfte mit Huitzilopochtli, dem Sonnengott. Um die Welt zu erhalten, mussten die Götter bei ihren Kämpfen unterstützt werden. Dazu benötigten sie Menschenopfer – gefangene Krieger, Sklaven, aber auch Kinder. Bei den Azteken war nicht der Mensch das Maß aller Dinge, wie etwa bei den Griechen, er stand der Welt ziemlich hilflos gegenüber. Damit es regnete oder damit die Sonne jeden Morgen erneut aufgehen konnte, mussten die Götter immer wieder aufs Neue mit Opfern „gefüttert“ werden. Und um mit den Göttern in Kontakt zu treten, nutzten die Schamanen in rituellen Zeremonien den Psilocybinpilz. Um zu sehen, was von den Riten übrig geblieben ist, hat mich Alejandro nach Morelos eingeladen, wo der Pilzkult in einigen Dörfern so lebendig ist wie noch vor tausend Jahren.

Bild: Eunice Adorno
Wir sitzen in einem klapprigen Mikrobus, der uns hoch in die Berge bringen soll, nach Tetela del Volcán, einem versteckten Bergdorf am Fuß des Popocatépetl. Gegen Ende der Regenzeit wächst dort oben ein besonderer Pilz. „Niño Santo“ nennen ihn die Einheimischen, Psilocybe aztecorum die Wissenschaft, doch sein eigentlicher Name ist viel älter: Teonanácatl – das Fleisch der Götter. Alejandro trägt Sonnenbrille, einen Poncho und abgewetzte Jeans, unter dem Sitz hat er einen Wanderstab verstaut und eine große Muschel, die er als Instrument benutzt. Einmal im Jahr macht er sich auf zum Vulkan, um Zauberpilze zu essen. Es ist ein wichtiger Tag für ihn, die Aufregung ist ihm anzusehen, schnell und mit ausladenden Gesten spricht er vom Wiederaufblühen der mexikanischen Traditionen in einer Zeit, in der sich junge Mexikaner in ihren Hör- und Konsumgewohnheiten kaum von ihren Altersgenossen nördlich des Rio Grande unterscheiden.
Draußen zieht eine flache Hochebene mit Palmen, Pinien und niedrigen Ziegelhäusern vorbei, am Horizont bricht der Vulkan mit seiner stetigen Rauchwolke aus der Landschaft und Alejandro beginnt zu erzählen, wie alles für ihn angefangen hat. Die Reise zu seinen Wurzeln beginnt auf dem Zócalo von Mexico City. Dort, auf dem zentralen Platz vor der alten Kathedrale, tanzen jedes Wochenende Männer in Indianertracht zum Rhythmus der Trommeln. Es sind braun gegerbte Männer mit Federschmuck, Westen aus Hasenfell und klimpernden Muscheln, sie tanzen den alten Tanz der Azteken und posieren für Fotos mit den Touristen. Alejandro ist acht Jahre alt, als er zum ersten Mal vor dem Spektakel stehen bleibt. Er ist gebannt, er fühlt den Rhythmus und er spürt eine Antwort in seinem Blut. Als die Zeremonie vorüber ist, lauscht er den Erzählungen des Tlahtohuani, dem weisen Geschichtenerzähler. Er hört von einer Welt, die ihm bislang verborgen geblieben war, von Pyramiden, Jaguaren und vom gefiederten Schlangengott.
Als er öfter zu den Tänzern geht, erkennt er, dass es einen anderen Blickwinkel auf seine Vergangenheit gibt als den der Archäologen, dass seine Kultur in manchen Menschen noch immer lebendig ist. Wie er so vom prähispanischen Mexiko erzählt, vom Schulsystem, von einer spielerischen, aber fairen Art, Krieg zu führen, klingt es wie eine Welt, in der alles besser ist. Und heute? „Hörst du das Lied?“, fragt Alejandro, eine melancholische Schnulze scheppert gerade aus den Lautsprechern des Mikrobusses. „Was meinst du, warum wir Mexikaner nur solch traurige Musik hören? Die Geschichte meines Volkes ist eine Geschichte des Leids. Unsere jahrtausendealte Kultur wurde in einer kompletten Niederlage beiseitegewischt und die Geschichte von neuen Herren weitergeschrieben. Die Schmach sitzt tief, und wo die Wurzeln abgeschnitten wurden, ist wenig Halt. Unsere Kultur ist ein aufgepfropfter Katholizismus, und unsere Realität die haltlose Gewalt der Dogenkartelle.“
Tradition im Verborgenen
Tatsächlich ist Mexiko heute wohl ein blutrünstigerer Ort als zur Zeit der Menschenopfer. Unzählige Tote hat der Kampf gegen die Drogenkartelle in den vergangenen Jahren gefordert. Ist die Verehrung für den Pilz auch so etwas wie eine kulturelle Revolution gegen das verheerende Kokain? „Der Cocastrauch war in Mexiko nie zu Hause. Wir haben keine Verbindung dazu“, findet Alejandro. „Kokain ist Chemie, ist Gift, macht süchtig. Pilze dagegen waren immer eine Medizin in unserer Kultur.“ Für Alejandro ergibt das aztekische Weltbild erst so richtig Sinn, als die Pilze ins Spiel kommen. Da ist er 18 und trifft sich regelmäßig mit Gleichgesinnten, einem Stamm von Méxicas. „Die Überwindung der materiellen Welt, die Einheit von Mikro- und Makrokosmos, all diese Prinzipien standen auf einmal ganz klar vor mir“, sagt er. „Mein Weltbild heute hat viele Einflüsse, Maya, Tolteka, aber auch Hinduismus und New Age. Gemein ist ihnen die Aufhebung der Trennung, die interdimensionale Verbindung der Dinge. Das Prinzip der Einheit habe ich erst auf Pilzen verstanden.“
Über Jahrtausende waren die Zauberpilze Bestandteil des religiösen Lebens der Indios. Noch bei der Krönungszeremonie von Moctezuma II, dem letzten Kaiser der Azteken, werden halluzinogene Pilze konsumiert. Die Konquistadoren erwähnen die Zeremonien in zahllosen Quellen. Besonders detailliert dokumentiert der Franziskanermönch Bernardino de Sahagún ihre Verwendung: „Das Erste, was sie bei den Zusammenkünften zu sich nehmen, ist ein schwarzer Pilz, den sie Teonaná-catl nennen“, beschreibt er eine schamanische Zeremonie. „Er wirkt berauschend, erzeugt Visionen und reizt zu unzüchtigen Handlungen. Sie haben Träume, in denen sie sich selbst sterben sehen und im Tod Ruhe finden. Einige haben schöne Träume, meinen sehr reich zu sein und viele Sklaven zu besitzen. All diese Dinge sehen sie. Wenn die Wirkung der Pilze nachlässt, sitzen sie zusammen und erzählen einander, was sie in ihren Visionen gesehen haben.“
Den christlichen Missionaren sind die Rituale ein Dorn im Auge. Die Idee, dass Gott durch einen Pilz direkt zu den Menschen spricht, missfällt ihnen – steht sie doch im krassen Gegensatz zur christlichen Heilslehre, in der die Kirche das Wort Gottes verkündet. Schon bald stellen sie den Umgang mit Zauberpilzen unter Strafe. Doch die Indios hüten das Geheimnis des Teonanácatl viele Jahrhunderte im Verborgenen. Dass Psilocybinpilze heute wieder bekannt sind, ist zwei Menschen zu verdanken, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten. Im Sommer 1955 treffen in einem Bergdorf in Oaxaca die mazatekische Heilerin María Sabina und der US-amerikanische Banker Gordon Wasson aufeinander. Eigentlich ist Wasson stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Investmentbank J.P. Morgan. María Sabina lässt ihn an einer Pilzzeremonie in ihrem Heimatort Huautla de Jiménez teilhaben. Wasson erlebt intensive Halluzinationen und veröffentlicht seine Erfahrung in der Zeitschrift LIFE. Damit sind die Pilze in der westlichen Welt angekommen. Sie erscheinen genau zur rechten Zeit: An der amerikanischen Westküste experimentieren die Blumenkinder mit psychedelischen Substanzen, und Magic Mushrooms passen perfekt ins Sortiment. Die Gedankenwelt der Hippies und die Erfahrungen unter bewusstseinserweiternden Drogen gipfeln in einer Bewegung, die der alten aztekischen Naturreligion nicht unähnlich ist: Im New Age findet sich der Glauben an kosmische Kräfte, an die Verbundenheit aller Dinge.

Bild: Eunice Adorno
Um die Jahrtausendwende wird es still um die Zauberpilze. Nur die Wissenschaft interessiert sich für Psilocybin als Mittel bei Kopfschmerzen oder Alkoholismus. Erst die Méxica betten den heiligen Pilz der Azteken wieder in den rituellen Rahmen ein. Nach 500 Jahren werden psilocybinhaltige Pilze heute wieder in größerem Umfang so konsumiert, wie es die Riten der prähispanischen Kultur vorsehen. Woher dieses Comeback? Für Alejandro erfüllt sich damit die Prophezeiung des Cuauhtémoc. Cuauhtémoc, der letzte Huei Tlahtohuani, das höchste spirituelle Oberhaupt der Azteken, sah mit dem Sieg der Spanier über Tenochtitlán, das heutige Mexico City, auch das Ende seiner Kultur gekommen. Aber er prophezeite auch die Rückkehr dieser geschlagenen Kultur: „Wie ein Pfeil werde ich wiederkehren mit dem Eintreten der sechsten Sonne. Und die Stimme der Großväter wird aus dem Mund der Kinder erklingen.“
Die Azteken ordneten die Geschichte der Erde in fünf Zeitalter oder „Sonnen“ ein. Jede dieser Sonnen wurde zerstört im Kampf der Götter untereinander, zwischen Quetzalcóatl, dem Schöpfergott, dargestellt durch eine gefiederte Schlange, und Tezcatlipoca, dem Gott der Finsternis. Das Zeitalter der sechsten Sonne beginnt nach dem aztekischen Kalender am 22. August 2000. Für Alejandro ist klar, dass nun die Zeit gekommen ist, um die aztekische Kultur, ihre Sprache, ihre Zeitrechnung und ihre Feste, wieder aufleben zu lassen. „Trotz Globalisierung, trotz des importierten Drogenkriegs und des Neoliberalismus unserer Regierung sind wir ein widerstandsfähiges Volk mit einer eigenen Identität“, sagt er. „Wir Méxica integrieren das überlieferte Wissen unserer Vorfahren wieder in unser Leben.“ Sind das schon die Kinder, die mit der Stimme der Großväter sprechen?
Das heilige Kind
Wir sind in Tetela angekommen. Es ist ein ruhiges Dorf mit steilen Straßen, hier und da ein scheinbar herrenloses Pferd. Im Zentrum ein verwaister Platz, auf dem sich ein Grüppchen Polizisten die Füße vertritt. Es ist wenig los an diesem Wochenende.
Ein Taxi fährt uns hoch an den Ortsrand, ein abschüssiger Schotterweg, der von schmucklosen Betonbarracken gesäumt wird, eine Fleischerei, ein Friedhof. Schließlich erreichen wir ein heruntergekommenes Grundstück am Rand eines Maisfelds. Vor dem Häuschen begrüßt uns Don Pepe, ein stiller Mann mit Schnurrbart und Holzfällerhemd. Pepe baut Mais an, doch in der Regenzeit verdient er sich ein Zubrot mit den Zauberpilzen, die auf den Hügeln der Umgebung wachsen. Mit seiner hohen singenden Stimme erzählt er vom Niño Santo, wie man den Pilz hier oben nennt. Der Pilz ist also ein heiliges Kind, Don Pepe? „Nein“, lacht er. „Aber du wirst ein heiliges Kind, wenn du ihn gegessen hast.“ Dann verschwindet er in seinem Häuschen und kommt mit zwei Blättern zurück. In jedem liegen vier Pilze, frisch gepflückt, hellbraun und zerbrechlich, die Bruchstellen von einem bläulichen Rand gesäumt.
In einem Kelch hat Alejandro ein Stück Kohle zum Glühen gebracht, darauf streut er Kopalharz. Bevor die Azteken die heiligen Pilze aßen, baten sie die vier Tezcatlipocas um Erlaubnis. Sie waren zugleich die Koordinaten der geistigen Welt und wurden von den vier Himmelsrichtungen symbolisiert.
Ritual nach aztekischer Kosmovision
Im Osten wohnte Quetzalcóatl, die gefiederte Schlange, er ist besonders eng mit den Zauberpilzen verknüpft. „Von den Sternen komme ich, und dorthin kehre ich zurück“, zitiert Alejandro aus dem überlieferten Quetzalcóatl-Kodex. „Mein Volk wird von mir zehren wie von Teonanácatl. Das Bewusstsein kommt vom Licht des Kosmos und die Sterne sind unsere Väter. Mensch und Sterne sind eine Einheit, dies ist unser endgültiges Schicksal. Gott ist eins und sein Name ist Quetzalcóatl.“ Er nimmt seine Muschel und lässt ein tiefes Dröhnen erklingen. Er wiederholt die Zeremonie für jede Himmelsrichtung und ihre zugehörige Gottheit.
Nach den vier Hauptgöttern hebt er die Hände zum Himmel: „Wir grüßen den Kosmos, den Nabel, Herr der Sonnen, aufsteigender Adler.“ Dann kniet er nieder und berührt das Gras: „Unsere geliebte Mutter Erde, Bauch, aus dem wir geboren wurden, die du uns mit allem versorgst, was wir benötigen, wir grüßen dich.“ Das Gute, das Böse, das Schöpferische und der Tod, dazu Himmel und Erde – der Gruß umfasst die gesamte Kosmovision der Azteken, einen dreidimensionalen Raum der geistigen und materiellen Welt. „Wir haben nun die Herren gegrüßt und dürfen in ihr Haus eintreten“, sagt Alejandro. „Wir müssen nur noch den Schlüssel umdrehen. Das ist Teonanácatl.“
Wir setzen uns und beißen kleine Stücke von den Hüten. Sie schmecken frisch, nach Wald, dann setzt plötzlich ein säuerlicher Nachgeschmack ein. Gemeinsam mit zwei Söhnen von Don Pepe machen wir uns auf den Weg in die Berge, die gleich hinter dem Haus beginnen. Als wir über ein Agavenfeld kommen, dreht sich Alejandro zu mir um. Ein silbernes Schimmern läuft über sein Gesicht, sein Lachen wirkt auf einmal älter, viel älter, Tausende Jahre alt. Ich spüre, wie wir eintauchen, in ein Land vor unserer Zeit, einen alten, wohlbekannten Ort.
Gerüst des Seins
Der Wald wird zu einer dichten, feuchten Dschungelwelt, eine Blättersinfonie in tausend Schattierungen von Grün. Schließlich sind wir auf dem Gipfel angekommen. Von hier oben übersieht man die Hügel der Umgebung, steile Täler, Maisfelder an den Berghängen, gegenüber ein kleines Dorf. Die Wirkung ist nun stärker, die Welt ist in einem ständigen Einatmen, Aufblühen, Aus-sich-heraus-Wachsen, wie eine Explosion in Zeitlupe. Die Natur erscheint schöner als das schönste Kunstwerk, sie ist das schönste Kunstwerk. Die Verbindung zur Umwelt ist unmittelbar, und mir wird klar, dass die Natur nicht nur die grüne Wiese ist, der Ausflug am Wochenende, sondern alles, auch wir. Alejandro sagt es besser: „Wir sind im Wald, und der Wald ist in uns.“ Er zeigt auf die Äcker, die sich hochgefressen haben in den Wald, auf eine Schneise, die eine Stromleitung durch die Landschaft zieht. „Wir schaden der Erde“, sagt er. „Aber in unseren Städten, vor unseren Fernsehern sehen wir das nicht.“
Die Wahrnehmung wird abstrakter. Die Gipfel gegenüber, das Tal vor uns, die fein gezogenen Felder zu unseren Füßen, sie sind ein herrliches Schaubild, ein extrem detailliertes Symbol für das Werden und Vergehen der Welt. Es ist, als würde die Welt sich ausziehen, als hätte sie alle Materie abgelegt, bis nur noch ein Gerüst übrig bleibt von Energien und Gesetzen. Die Welt hinter den Dingen wird ersichtlich, das fein ziselierte Regelwerk des Universums, ein gleichbleibendes Spiel der Kräfte im Mikro- und im Makrokosmos.
Der Himmel donnert, es sind die Ausläufer eines Tropensturms, der die Westküste Mexikos seit Tagen in Atem hält. Als der Regen einsetzt, suchen wir Unterschlupf in einer Holzhütte. Die Tropfen prasseln in dichten Fäden zu Boden, Wolken ziehen in das Tal und verdecken uns die Sicht. Um uns herum spielt sich ein gewaltiges Spektakel der Naturgewalten ab, die Sinfonie der Regentropfen, Donner wie Paukenschläge und das elektrische Krachen der Blitze. Alles wird zu einem Symbol der Urkräfte, des Ringens der Energien, des Prinzips von Kraft und Gegenkraft, Ursache und Wirkung, Yin und Yang … Es ist ein Blick hinter die Kulissen des Universums. (Dass wir beide hier sitzen, meint Alejandro, sei ein Pakt, den unsere Seelen vor langer Zeit geschlossen haben. „Heute bin ich Alejandro“, sagt er. „Im Körper von Alejandro, mit der Stimme von Alejandro. Aber unsere Seelen kennen sich seit vielen Generationen.“)

Darstellung eines aztekischen Rituals (16. Jh.): Als Menschenopfer Auserkorene verzehren vor ihrer Enthauptung die heiligen Pilze.
Ich schließe die Augen und werde in ein Geflecht runder, fließender Formen gezogen, dreidimensionale Spiralen, die sich ineinander verdrehen und verflechten. Ein fließendes, extrem kontrastreiches Mosaik, tiefes Schwarz fließt in leuchtendes Neongrün, in einer Auflösung tausendmal schärfer, als das Auge sehen kann. Ich muss an die Muschel denken, die Spirale, die sich vom Kleinen ins Große schraubt. „Neon“, „elektrisch“, „Energie“ sind die Worte, die wir heute haben, um diese Vorgänge zu beschreiben. Für die Azteken waren es „Quetzalcóatl“ und „Tezcatlipoca“. Die Urkräfte, die Bausteine der Welt.
In der Wissenschaft werden Zauberpilze oft als Entheogene bezeichnet. Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen – „theos genesthai“ (Gott bewirken) – und umschreibt Stoffe, die zu mystischen und religiösen Zwecken benutzt werden. In den schamanistisch geprägten Religionen vieler Stammeskulturen nehmen sie eine zentrale Stellung ein. War es die durch Drogen induzierte Erfahrung einer übernatürlichen Wirklichkeit, die den frühen Menschen dazu inspirierte, das, was seine individuelle Erkenntnisfähigkeit übersteigt, als Gott zu definieren?
Der amerikanische Anthropologe Weston La Barre stellte – Gedanken von William James aufnehmend – die Hypothese vom halluzinogeninduzierten Ursprung der Religion auf. Demnach haben Kulte und Religionen ihren Ausgangspunkt immer in der Offenbarungsvision eines einzelnen Menschen. Diese „Extasespezialisten“ vermitteln ihre Schau des Übernatürlichen dann in der Funktion eines Schamanen oder Propheten. Laut La Barre suchte das abendländische Verständnis des Heiligen zu lange in einer falschen Richtung. Das „mysterium tremendum et fascinosum“ der Religion liege nicht außerhalb des Individuums, schrieb er, sondern in ihm.
Die Stimme der Großväter
Forscher der Johns-Hopkins-Universität haben belegt, dass mystische Erfahrungen auch im Labor herbeigeführt werden können. Bei Versuchen mit Psilocybin beschrieben zwei Drittel der Probanden die Erfahrungen als die wichtigsten spirituellen Ereignisse ihres Lebens. Roland Griffiths, der Leiter des Experiments, schloss: „Solche Erfahrungen könnten die Basis der Weltreligionen sein.“ Es ist zumindest denkbar, dass Religionen – vom lateinischen „religare“ (anbinden) – aus dem Gefühl der Verbundenheit von Mensch, Welt und Kosmos entstanden, wie es von entheogenen Drogen ausgelöst wird.
In der Abenddämmerung laufen wir hinab ins Dorf, Pferde grasen am Straßenrand, vor dem Dorfladen sitzen ein paar Jungs mit Bierdosen. Wir sind erschöpft, nass, etwas abgerissen wie nach einer langen Reise. Es dauert ein wenig, bis ich mich wieder einfüge in die Menschenwelt, den Zoom scharf stelle nach unserem Ausflug in Mikro- und Makrokosmos.
Unter einem Avocadobaum bleiben wir stehen. „Was hast du mitgenommen von unserer Reise?“, frage ich Alejandro. Der Wind spielt mit seinen Haaren, das warme Licht der letzten Sonnenstrahlen läuft über sein Gesicht. „Bei vielen Fragen können wir andere um Rat bitten“, antwortet er. „Aber manches können wir nur uns selbst beantworten. Wenn ich heute etwas gelernt habe, dann dass die wahre Religion ist, auf mich selber zu hören.“ „Und was hörst du da?“ Alejandro grinst. „Na die Stimme der Großväter, was meinst denn du?“ •
Der in München geborene Schriftsteller, Nachtmensch und Blogger Airen lebt mit seiner Familie in Mexico City. Als Autor machte er sich erstmals mit seinem Roman „Strobo“ (SuKuLTuR, 2009) einen Namen.
Kommentare
Dieser Beitrag, wenn auch von 2015, gefiel mir besonders gut. Danke.