Emerson und das Selbstvertrauen
Ralph Waldo Emersons philosophische Überlegungen gelten als „intellektuelle Unabhängigkeitserklärung“ der USA. Sein berühmtester Essay Self-Reliance ist ein emphatisches Plädoyer für Eigenständigkeit und Individualismus. Doch diese Forderung ist komplexer, als sie auf den ersten Blick scheint.
„Nichts kann dir Frieden bringen außer du selbst.“ – „Tue deine Arbeit, und ich werde dich erkennen!“ – „Vertraue dir selbst!“
Diese Sentenzen scheinen gut in unsere Gegenwart zu passen. Beinahe könnte man sie für Zitate aus dem Instagram-Feed, für Kalendersprüche oder für Ratschläge einer Unternehmensberatung halten. Tatsächlich sind sie Bestandteil eines Essays aus dem 19. Jahrhundert: Selbstvertrauen (im Original Self-Reliance, auch übersetzbar mit „Eigenständigkeit“) ist der wohl bekannteste Text des Philosophen und Schriftstellers Ralph Waldo Emerson. Seine zentrale Botschaft ist die Aufforderung, sich von Konventionen, moralischen Erwartungen und sozialen Abhängigkeiten radikal zu lösen, um auf die eigene Stimme zu hören und sich selbst zu verwirklichen.
Dass diese Botschaft heute so vertraut klingt, ist kein Zufall. Emerson gilt als Gründervater der amerikanischen Literatur, sein Werk als „intellektuelle Unabhängigkeitserklärung“ der USA. Entsprechend großen Einfluss hatte es auf die amerikanische und somit auch auf unsere gegenwärtige Kultur. Emerson begründete in der Mitte des 19. Jahrhunderts die philosophisch-literarische Bewegung des Transzendentalismus, die sich der Feier des Individuums und der Natur verschrieb. Ihr gehörten unter anderem der Philosoph Henry David Thoreau und die Schriftstellerin Margaret Fuller an. Später beeinflusste er Philosophen wie William James und John Dewey, aber auch der Großunternehmer Henry Ford war ein begeisterter Anhänger Emersons: In seinen Montagewerken ließ er allerorten Zitate aus dem Essay Selbstvertrauen anbringen.
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