Empörende Worte, die wirken
In seinem Buch Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein konfrontiert Omar El Akkad die Leserschaft mit seinem Blick auf das Sterben in Gaza und die Heuchelei des Westens. Es ist eine Einladung, die eigenen Gewissheiten zu hinterfragen. Gelingt El Akkad das?
Woche für Woche mehren sich die Zeitungskommentare in den politischen Feuilletons zum Krieg in Gaza. Neue Meinungsbeiträge, die angesichts des Leidens der Palästinenser*innen fast unwirklich erscheinen. Wie sprechen über die Situation in Gaza – einem Konflikt, der nicht erst seit dem 07. Oktober mit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel begann? Wie Stellung beziehen, wenn die schiere Komplexität des Konflikts überwältigt, die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen jedoch immer dramatischer wird?
Mit seinem Buch Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein meint der Journalist und Schriftsteller Omar El Akkad eine Antwort darauf gefunden zu haben. In seinem Text beschäftigt er sich mit der brutalen Realität, die sich mit dem Krieg in Gaza vor unseren Augen vollzieht. Schon der Titel seines Buches klingt provokativ und der Inhalt bestätigt es. Der gebürtige Ägypter, der nach seiner Kindheit in Katar und Kanada nun in den USA lebt, rechnet in seinem Text radikal mit dem Westen ab. Der Umgang mit dem unablässigen Sterben in Gaza, so El Akkad, sei keine Abkehr des Westens von seinen Werten. Stattdessen offenbare es eine grundsätzliche Leere westlicher Moral. So ist ein empörtes Manifest über die Heuchelei des Westens entstanden, das zugleich ein sehr persönlicher Text ist. Zwar bleibt er am Ende ohne systematische Auseinandersetzung mit dem Konflikt – nicht zuletzt, weil das Buch trotz seiner Dichte an Reflexionen über abstrakte Themen wie Moral, Macht und die historische Gewalt des Westens auf jegliche philosophische Referenzen verzichtet. Vielleicht fordert der Text uns aber zunächst heraus, durch seine radikale und empörende Sprache eigene Gewissheiten zu konfrontieren.
Die moralische Leere des höflichen Westens
Bereits mit seinem dystopischen Debütroman American War sorgte Omar El Akkad für viel Aufsehen. Seine Darstellung eines Massakers in einem Geflüchtetencamp an der Grenze zwischen Mississippi und Alabama in einer fiktiven Zukunft während eines amerikanischen Bürgerkriegs konfrontierte die Leser*innen mit einem Aufweichen von Distanz. Was normalerweise weit entfernt von den Vereinigten Staaten, in den Teilen der Welt passiert, aus denen der Autor stammt, wird räumlich in die nächste Nähe der Leserschaft transportiert.
Auch in seinem neuen Buch Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein, das seit Juni auf Deutsch verfügbar ist, geht es um eine Konfrontation und ein Aufweichen von Distanz. Dieses Mal verzichtet El Akkad auf ein fiktiv-dystopisches Setting. Seine Referenzen sind reale Ereignisse – solche eines in seinen Augen westlichen Versagens. Oder vielmehr solche, in denen eine westliche Doppelmoral offen zutage trete. Er nimmt Bezug auf seine ersten Erinnerungen an Krieg, als er bei CNN live mit ansah, wie amerikanische Bomben während des ersten Golfkriegs auf Bagdad abgeworfen wurden. Er beleuchtet mit dem War on Terror die Antwort auf den 11. September; erinnert sich an seine Eindrücke als Reporter in Guantánamo, wo er schlimmste Menschenrechtsverletzungen beobachtete. Er schreibt über seine Erfahrungen als Kriegsreporter in Afghanistan; erzählt, wie Afghanen zur Verteidigung von Stützpunkten an vorderster Front positioniert wurden. Vor allem aber schaut er auf den Krieg in Gaza und das Leiden der Palästinenser*innen.
Für Omar El Akkad offenbart sich im Umgang des Westens mit dem Krieg in Gaza ein radikaler Bruch. Das Selbstverständnis westlicher Zivilisation, das von der Idee einer Gleichheit des Menschen vor dem Gesetz geprägt ist, entlarve sich grundlegend als Farce. Dass die Vereinigten Staaten, unabhängig von Demokraten oder Republikanern, die israelische Regierung in ihrem Vorgehen im Gazastreifen unterstützen und den Krieg durch Waffenlieferung befeuern, zeuge für El Akkad von einer Gleichgültigkeit gegenüber dem Leiden der Palästinenser*innen. Was sich hier offenbart, sei keineswegs ein temporäres Versagen – für den Autor zeigt sich eher ein Handlungsmuster der westlichen Welt: Am Ende sei es das Eigeninteresse der Mächtigen, das überwiegt.
Das negierte Leben
Beim Lesen der oftmals abrupten Zeitsprünge, die von Reflexionen über El Akkads Kindheit bis zu Preisverleihungen in der Gegenwart reichen, finden sich einige Motive, die einen roten Faden erkennen lassen. So bildet die Erkenntnis des Autors über die unterschiedliche Betrauerbarkeit von Menschen eine zentrale Einsicht seiner Auseinandersetzung. In seinen Betrachtungen schreibt der Autor über Personen, die in einer Form der Nichtexistenz bestünden – unsichtbar und vom Selbstverständnis eines Ortes ausgeschlossen. Solche Personen würden keinerlei Berücksichtigung erfahren; man verweigere ihnen jede Form der Präsenz, die den Ort auch zu ihrem machen würde. Auch die Palästinenser*innen seien mit einer solchen Nichtexistenz konfrontiert. Wenn sie getötet würden, sterben sie nicht, sondern „sie hören einfach auf, zu existieren“, so El Akkad in einer bewegenden Passage des Textes. Im Essayband Gefährdetes Leben argumentiert Judith Butler ähnlich. Während es jene Menschen gebe, deren Tod zu Trauer führt, gebe es zugleich solche, die öffentlich nicht betrauert würden. Das Leben solcher Menschen könne daher auch nicht betrachtet werden und Gewalt könne es nicht verletzen. Es sei bereits negiert. Beim Lesen dieser Passage kommt einem auch der alte Rechtbegriff „vogelfrei“ in den Sinn.
So spannend die Einsicht von El Akkad ist, so sehr fragt man sich doch, warum auf Referenzen dieser Art verzichtet wird. Zwar ist sein Buch ganz offensichtlich als emotionale und gleichsam persönliche Reflexion gedacht. Doch die angestrebte Tiefe der Ausführung flacht durch solche fehlenden Referenzen in Teilen ab. Die vielseitige Debatte, die nicht zuletzt auch im postkolonialen Kontext geführt wird, bleibt unerwähnt. Dass die Gewalt, die hier beschrieben wird, tief in der Geschichte des Westens verwurzelt ist, bedürfte einer historisch weiterführenden Auseinandersetzung. Auch wenn eine vollumfängliche Genealogie westlicher Gewalt ein kaum zu bewältigendes Unterfangen darstellt, könnte sich der Autor mit ein paar weiterführenden Referenzen Abhilfe schaffen. Eine Einbettung des Textes in eine größere Debatte wäre nämlich wichtig, um mithilfe verschiedener Perspektiven Orientierung zu schaffen.
Die Logik des Eigeninteresses
Der starke Titel des Buches zieht sich wie ein Motiv durch El Akkads Text. Das westliche Billigen des Leidens der Palästinenser*innen identifiziert er als Ausdruck eines Handelsmusters. Wenn es dem eigenen Interesse des Machterhalts entspreche, würde lieber der Kopf eingezogen, obwohl sich ganz offensichtlich ein Unrecht vor den eigenen Augen vollziehe. Damit sei der Westen aber nicht allein, so El Akkad. Auch die arabischen Staaten in der Region würden trotz ihrer proklamierten Solidaritäten nicht in den Krieg intervenieren. Auch sie würden am Ende ihrem Eigeninteresse folgen – den Öl-Deals mit dem Westen. Doch während jene größtenteils in autokratischer Manier ihre eigene Bevölkerung unterdrücken, rette sich der Westen immer wieder in seine moralische Vormachtstellung und proklamiere so gerne die Gleichheit eines jeden Menschen vor dem Gesetz.
Auf die Situation in Gaza und das Leiden der Palästinenser*innen würde der Westen daher nur mit der immer gleichen Floskel antworten: Das alles wäre wohl sehr traurig, sei aber leider auch ziemlich kompliziert. Im Nachhinein, wenn es zu spät sei und es insgesamt nützlich erscheine, so prognostiziert El Akkad, würde Trauer über die Grausamkeiten des Krieges im Gazastreifen bekundet werden. Doch das Trauern verbleibe selbst in der Logik des Eigeninteresses. Das sei nicht nur auf staatlicher Ebene der Fall; auch ganz individuelle Entscheidungen seien damit verbunden, lieber wegzuschauen, als sich mit der Realität zu konfrontieren. In Anekdoten über Lesungen und Gespräche mit anderen Künstler*innen und Intellektuellen berichtet er von dieser generellen Ignoranz. Und er weiß, woher sie kommt; immerhin wurde El Akkad selbst bei Tagungen angeschrien, er würde seine Leser*innen dazu bringen, mit Terrorist*innen zu sympathisieren. Glücklicherweise, so merkt El Akkad bitter-ironisch an, würde es im Nachhinein genug Zeit geben, über die Formen des Grauens literarisch zu reflektieren.
Der Normalität des Unrechts entgegnen
Was bleibt da nun übrig – in dieser Dynamik aus westlichem Wegschauen und sich fortsetzendem Unrecht im Gazastreifen? Für Omar El Akkad ist die Antwort eindeutig, denn er beobachtet sie seit Beginn des Krieges immer wieder: Eine individuelle und kollektive Praxis des Widerstandes, aber nicht zwangsläufig nur auf aktive Weise.
Gerade in negativer Form, in Gestalt des Sich-Verweigerns, sieht El Akkad im Buch eine aussichtsreiche Praxis. Schon in ganz kleinen Rahmen ließe sich dies verwirklichen, ohne direkt an großen Protesten teilnehmen zu müssen. Bereits die Entscheidung, welche Produkte gekauft und was damit indirekt unterstützt würde, wäre eine Möglichkeit, dem Funktionieren des Systems zu widersprechen. Wie negativer Widerstand darüber hinaus konkret aussähe, bleibt hingegen abstrakt. Eine Maxime lässt sich aus dem Text aber entnehmen: Wenn die gesamte Struktur des westlichen Systems auf reinem Eigeninteresse und doppelmoralischen Standards basiere, ginge es darum, sich zu entziehen und auf individuelle Vorteile innerhalb der Struktur zu verzichten. Das führe dazu, die Fassade einer Welt zu stürzen, in der Eigeninteresse die handlungsweisende Logik ist. Es bedeute aber auch, die damit einhergehenden persönlichen Konsequenzen in Kauf zu nehmen.
Zudem beobachtet El Akkad immer wieder auch aktiven Widerstand gegen den Krieg in Gaza: Ein Stören der Normalität – durch Proteste an amerikanischen Universitäten oder durch Reden auf Preisverleihungen. Dass Student*innen auf ihre eigenen Privilegien verzichten und teils massive persönliche Konsequenzen in Kauf nehmen würden, bewundert El Akkad. Dass es im gleichen Zug auch umfängliche Kritik an den potenziellen Absichten der Demonstrierenden gibt, berücksichtigt er dabei jedoch nicht. Auch hebt El Akkad hervor, dass Teile des Widerstands im Westen gegen das Unrecht im Gazastreifen von Jüdinnen und Juden ausgehe. Beim Lesen dieser Passagen fühlt man sich erinnert an die Berichterstattung der letzten Wochen – von Massenprotesten in Israel gegen die Verlängerung des Kriegs und für die Freilassung der letzten Geiseln. Ein Mittel der Demonstrant*innen: Aufrufe zu landesweiten Streiks, um das normale Funktionieren des Systems auch aktiv zu stören.
Zwar geben El Akkads Ausführungen dem Buch gegen Ende einen hoffnungsvolleren Ausblick. Doch gerade sein Nachdenken über negativen Widerstand erscheint etwas vereinfacht vor dem Hintergrund des anhaltenden Krieges innerhalb weltpolitischer Machtdynamiken. Ein Sich-Entziehen ist vielleicht eine individuelle Möglichkeit, dem Unrecht Aufmerksamkeit zu schenken. Aber was ändert das an der Situation für die Palästinenser*innen?
Ein empörter Aufschrei
Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein ist ein aufwühlendes Buch. In manifestartiger Manier schreckt Omar El Akkad nicht zurück, seine Leserschaft mit ihren vermeintlichen Gewissheiten über westliche Werte und Moral zu konfrontieren. Denn auch wenn viele dieser Gewissheiten gar nicht mehr so gewiss erscheinen mögen: Historisch dienten sie häufig als Rechtfertigung für Gewalt und sind in einem westlichen Selbstverständnis nach wie vor verankert.
El Akkads subjektive Erzählungen bewegen, und sind zugleich eine Schwachstelle seines Buches. Denn obwohl die Aussagen über den Westen generalisierenden Anspruch haben, gelingt es ihm häufig nicht, den Krieg systematisch zu betrachten. Philosophische und historische Referenzen fehlen – auch dort, wo sie sich klar aufdrängen. Das wirkt in Teilen übersimplifiziert.
Das merkt auch, wer auf die Wortwahl achtet. Sowohl von „Völkermord“ als von „Apartheid“ ist im Kontext von Israel die Rede. Wer sich solchem Vokabular bedient, sollte dies weiter ausführen, argumentativ belegen und nicht als Gewissheit setzen. Denn darum geht es doch eigentlich: Die etablierte Gewissheit infrage zu stellen.
Am Ende ist Omar El Akkads Buch ein starker Aufruf, der uns gerade durch diese unverhohlene Abrechnung mit dem Westen zum Nachdenken bringt. Ein Beitrag der, anders als viele der im Feuilleton wöchentlich erscheinenden Artikel, sicherlich nachhallen wird. •
Omar El Akkad: Eines Tages werden alle immer schon dagegen gewesen sein, Matthes & Seitz Berlin 2025.
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